In dem Moment, als Zarifa Ghafari den Markt der Stadt Maidan Schar betritt, wird es auf dem Platz ganz still. Ihre Mitarbeiter haben sie zuvor eindringlich gewarnt, dass heute aus der Menge ein Attentäter auf sie schießen könnte. Doch sie ignoriert die Gerüchte. Sie steigt aus ihrem Wagen, eine kleine Frau, die den meisten Männern nur bis zur Brust reicht. Sie drängt durch die Menge aus Hunderten Männern, die sich alle nach ihr umdrehen, der einzigen Frau unter ihnen: Händler, die auf dem Markt ihre Waren verkaufen, Kunden, die mit ihnen um Preise feilschen. Sie alle halten jetzt inne. „Warum befolgt ihr nicht meine Befehle?!“, ruft Ghafari in die Masse aus schweigenden Männern. Sie sehen finster auf die 27-Jährige. In den Blicken der meisten ist Hass. Über dem Markt der kleinen Stadt in den verschneiten Bergen Afghanistans liegt eine erwartungsvolle Spannung, als würden alle jederzeit mit dem Knall eines Gewehrschusses rechnen.
„Ich werde euch zwingen, das Gesetz zu achten!“, ruft Zarifa Ghafari. „Weg mit euch! Fort!“, brüllt sie die Straßenhändler an, die mit ihren Holzkarren und Gemüseauslagen die Fahrbahn schwer passierbar machen. „Wie oft war ich hier und habe gesagt, ihr sollt verschwinden?“, fragt sie einen Händler wütend.
„Dreimal“, sagt er leise.
„Warum bist du noch hier?“, fragt sie.
„Gib mir Zeit“, sagt er.
„Weg! Weg! Ich werde eure Karren in den Mülllaster werfen lassen!“, ruft sie und hastet zum nächsten Verkaufsstand. In einigem Abstand folgen ihr zehn bewaffnete Polizisten. Sie sollen sie schützen, doch auch die Uniformierten blicken voller Ablehnung auf sie.
Zarifa Ghafari ist Bürgermeisterin von Maidan Schar, einer Stadt mit etwa 35.000 Einwohnern in der Provinz Wardak, eine Autostunde westlich von Kabul. Sie ist in Afghanistan eine von lediglich zwei Frauen, die an der Spitze einer Stadtverwaltung stehen. Afghanistan ist im Jahr 2020 von der Welt fast aufgegeben. Ein Land, 14 Ethnien und 36 Millionen Einwohner, karge Hochgebirge und weite Talebenen. Nach 40 Jahren Bürgerkrieg der Inbegriff der Rückständigkeit. Das Land der Burka, in dem die meisten Dörfer von den Taliban beherrscht werden, die Regierung auf die Städte und Nationalstraßen zurückgeworfen ist und die Wirtschaft daniederliegt. Der Traum des Westens, das Land in eine Demokratie zu transformieren, ist gescheitert. Nach der Ankündigung der USA, in den nächsten 14 Monaten ihre Truppen abzuziehen, sämtliche 13.000 US-Militärs heimzubeordern, rechnen viele mit dem Fall der Regierung und dem Sieg der Taliban.
Zarifa Ghafari stürmt über den Platz, mit Turnschuhen, in Jeans, das blaue Kopftuch nur halb übergeworfen. Haarsträhnen fallen ihr wild über das Gesicht, das ganz weich ist, aber wie zerbrochen wirkt, als bestehe es aus zwei Teilen. Die schlecht verheilten Spuren eines Autounfalls, bei dem sie sich vor einigen Jahren den Unterkiefer brach. Sie hat in ihrem Leben viele Verwundungen erlitten, ist selbst hart geworden wie eine Narbe. „Der Gehweg ist zum Gehen da!“, zürnt sie einem weiteren Händler, der sein Gemüse auf den Trottoir ausgebreitet hat. Ghafari, die erst vor neun Monaten ihr Amt als Bürgermeisterin antrat, ist damit beschäftigt, den Markt neu zu ordnen. Die Handkarren der Händler verengen zu Dutzenden die Fahrbahn der Nationalstraße. In Kriegszeiten eine Lappalie, könnte man sagen, aber für die junge Bürgermeisterin ein Test ihrer neuen Autorität.