Die Felder des Zorns.

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Nigeria

Der Staub, der den Menschen im Tal jedes Jahr den Schrecken bringt, steigt von der Bergkuppe auf und sinkt dann langsam wie Nebel den Hang hinab. Die Spitzen gewaltiger Hörner ragen aus ihm heraus. Hunderte Rinder haben sich an diesem Morgen kurz nach Sonnenaufgang in Bewegung gesetzt. Die Tiere bewegten sich zögerlich, wurden dann schneller, bis sie ihren uralten gleichförmigen Rhythmus fanden. Jetzt rasen sie den Berg hinunter, in einen Hohlweg hinein, sie drängen voran, ein Strom, der sich vor Hindernissen teilt, sich nach ihnen wieder vereinigt, eine Lawine aus Leibern. Das Geräusch Hunderter schwerer Tritte, jeder Tritt ein dumpfer Schlag, Hufe, die sich in den trockenen Boden stemmen, Erde, die aufgewirbelt wird wie bei einem Sturm, kilometerweit sichtbar. Das ist die Herde von Alhaji Gagau.

Der Herr der Rinder überragt seine Kühe nur knapp, ist klein von Wuchs, zierlich wie ein Strich, das Gesicht hart wie die Spitze des Holzstocks, mit dem er die Kühe antreibt, 31 Jahre alt, Vater von vier zierlichen Kindern. „Tprrr! Tprrr!“, ruft er, wie es schon seit Jahrhunderten seine Vorfahren taten: „Jot, jot, jot!“ Er trägt eine staubbedeckte Kappe und eine weite Dschallabija, das traditionelle lange Gewand, und breitet die Arme aus, als surfe er im Strom der Tiere. Er rennt mit ihnen den steilen Gebirgspfad hinunter, mitten unter ihnen, im Lauf um sein Gleichgewicht ringend, oft knapp davor, umgerissen zu werden. Er drückt die Tiere von sich, die ihn mit ihren Hörnern zu verletzen drohen. Alhaji Gagau ist das Oberhaupt von sieben Nomadenfamilien, von 43 Menschen und 300 Rindern. Wie fast alle Nomaden in Nigeria gehören sie dem Volk der Fulani an. Nach fünf Monaten, die sie in den Bergen verbrachten, fast die gesamte Regenzeit, hat er entschieden, seine Herde heute hinunter ins Tal zu führen.

Es ist ein Tag im Dezember. Der Osten Nigerias. Buschland. Die urzeitliche Landschaft der Song-Vulkane, fernab aller Straßen. Krater reiht sich an Krater, lange erloschen. Der Grund des größten Kraters hat Gagau in den vergangenen Monaten als Lagerplatz gedient. Es gab genügend Gras, doch hat jetzt die Trockenzeit begonnen, und die Kühe finden nicht mehr genügend Wasser. „Es ist Zeit“, hat Gagau gesagt. „Wir können nicht länger bleiben.“ Sonst stürben die Tiere. Seine Frau Maimunat hat an diesem Morgen die Hütte abgebaut, ein Rund aus Ästen und Gras, mit einer Plastikplane als Regenschutz. Gagaus älteste Tochter Abu, 9 Jahre, und sein Sohn Ahmadu, 6, sammelten den Hausrat ein, sieben Plastikschüsseln, aus denen sie ihren Maisbrei essen, drei Metalltöpfe, den winzigen Spiegel mit seinem handgeschnitzten Rahmen. Maimunat setzte die beiden Kleinsten, Halima, 4, und Buba, 2, auf ihren gutmütigsten Esel.

So tritt die Familie eine riskante Reise an, die sie fast hundert Kilometer weit in den Süden führen wird. Zwei Wochen werden sie brauchen, kalkuliert Gagau. Dann werden sie mit Glück das Flusstal des Hawal erreichen, wo sie die Trockenzeit überdauern können, weil hier immer ausreichend Wasser fließt.

„Werdet ihr durchhalten?“, hat er uns, die Reporter, beim Aufbruch gefragt. Skeptisch musterte er uns. Viele hatten uns davor gewarnt, die Nomaden bei ihrem Zug zu begleiten. Die Reise birgt Gefahren, die schwer abzuschätzen sind. Sie führt durch ein Land, in dem Krieg herrscht. Ein Bürgerkrieg, der zu den blutigsten der Welt zählt, Tausende fallen ihm jedes Jahr zum Opfer. Er macht keine internationalen Schlagzeilen wie der Konflikt um die islamistische Sekte Boko Haram im Norden Nigerias. In ihm geht es nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Staaten und Extremisten, sondern zwischen zwei Lebensformen: Bauer und Nomade. Kain und Abel. Ein Konflikt, bereits in der Bibel angelegt, der in unserer Gegenwart ein blutiges Ende zu finden droht. In Nigeria gehen ganze Landstriche an ihm zugrunde.

Fotografie: Andy Spyra
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