Der Durchbruch.

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Deutschland, Baden-Württemberg

Den Boden, auf den ich meinen Fuß setze, hat nie zuvor ein Mensch betreten. Er ist mit einer Kristallschicht überzogen. Hunderttausende Jahre blieb der Boden in der Tiefe des Berges unberührt, und nun hinterlassen meine schmutzigen Schuhe mit jedem Schritt einen Abdruck aus Lehm. Tropfsteine, dünn wie Makkaroni, hängen von der Decke des kleinen Raums, in den ich mich gezwängt habe. In meiner Hand halte ich eine billige Taschenlampe aus dem Supermarkt. Ich bin 14 Jahre alt und habe auf der Schwäbischen Alb durch einen Zufall eine Höhle entdeckt. Der Zugang ist eine Kluft in einem Steinbruch, vor Kurzem aufgesprengt, erst ein Riss nur. Wand an Brust, Wand an Rücken. Kaum Platz für einen Atemzug. Die Kammer, in die der Spalt nach wenigen Metern führt, ist immer noch nicht groß genug, um mich aufrichten zu können. Längst habe ich die Gefahr vergessen. Im Fall eines Unfalls weiß niemand, wo ich bin. Die Höhle ist winzig, die Kammer nicht größer als zwei Badewannen. Ihre Entdeckung ist wissenschaftlich völlig bedeutungslos. Und doch bin ich überwältigt, hier als erster Mensch zu sein.

Ich gab ihr einen Namen, den ich längst vergessen habe, sie wurde vermessen, dann hat sie der Steinbruchbesitzer zugeschüttet. Doch bis heute hat sich mir diese Erinnerung eingeprägt. Die Erfahrung, eine Entdeckung gemacht zu haben. Dieser Rausch. Das lustvolle Verlieren im Sinnlosen. Wir sind, verstand ich damals, von Geburt an Doppelwesen. Der Mensch, der Entdecker; der Mensch, der Wahnsinnige.

Das Dorf

Der Wahn, um den es in dieser Geschichte geht, führt nicht in ferne Regenwälder oder auf die Höhen des Himalaya, sondern nach: Honau, Postleitzahl 72805, Landkreis Reutlingen, Baden-Württemberg. Ein Ortsteil am Ende eines Tals, man könnte das Dorf idyllisch nennen. Zu drei Seiten ist es von den bewaldeten Hängen der Schwäbischen Alb umschlossen, nahezu senkrecht aufragende Wälle, 300 Meter hoch. 700 Einwohner leben in Honau, davon hundert im Seniorenheim Martha Maria. Aus ihren Fenstern sehen sie auf Wälder und Felsen und den Verkehr auf der Bundesstraße 312, die die Region Stuttgart mit Oberschwaben verbindet. Das Verkehrsdröhnen überdeckt das Rauschen der Echaz, des kleinen Flusses, der im Tal entspringt und durch den Ort fließt. Hoch oben auf der Steilkante, auf einem Felskopf, steht das Schloss Lichtenstein mit seinem schlanken weißen Turm. Das Dorf liegt selten in der Sonne, auch im Sommer. Meistens wird es von den Berghängen verschattet. An einer der dunkelsten Stellen im Tal hat sich der Turnverein in den Siebzigerjahren eine Sporthalle gebaut, ein abweisender Klotz aus Beton, mit mächtiger Decke und schmalen Fensterschlitzen darunter. Gleich dahinter führt ein Pfad an den Berg und endet scheinbar im Nichts, in einem Hang aus Geröll, aus dem seit Jahrhunderten ein starker Wind bläst.

Der Stollen

Am Parkplatz hinter der Sporthalle steigt Uwe Leuze, 53, an diesem Samstag, zehn Uhr morgens, aus seinem Wagen. Er ist meistens der Erste der Gruppe, der am üblichen Treffpunkt ist. Er trägt einen wasserfesten Overall, Schlatz genannt, und einen Helm mit Lampe. „Das blöde rechte Knie“, klagt er. Er hat lange im Lager einer Fabrik gearbeitet, bis sie das Lager geschlossen haben. Er hat in seinem Leben schon vieles versucht. Mit einem schweren Bohrhammer in der Hand läuft er den Pfad entlang, ein Stück in den Wald hinein, ein Stück den Hang hinauf, dann geht er auf die Knie. Vor ihm öffnet sich der Eingang des Stollens, 1,20 Meter hoch, 80 Zentimeter breit. Ein enger Gang in das Innere des Bergs. Das Metall seines Verbaus glänzt feucht in der Dunkelheit. Leuze ist aufgeregt, fast euphorisch: „Spürst du den Luftzug?“, fragt er. Er holt ein Feuerzeug hervor und hält die Flamme in die Tunnelöffnung. Sie legt sich horizontal. Er strahlt. Dann kriecht er hinein.

Fotografie: Andreas Schober
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