Macht und Masse.

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Nordkorea, Pjöngjang

Das ist der eine Moment, der nur wenige Minuten währt, dem Magisches und Entsetzliches innewohnen, auf den die Stadt mit ihren vier Millionen Einwohnern seit Monaten wartet, der Moment, der eine ganze Gesellschaft zu binden sucht. Allein für Momente wie diesen wurde die Stadt einst gebaut, ihre breiten Straßen, der große Platz, die Sichtachsen, die nur eines erreichen sollen: die Wirksamkeit des Augenblicks so zu vergrößern, dass er ein ganzes Land betört.

„Jetzt!“, ruft Ho Dam, der auf der Tribüne neben mir steht. Eigentlich ist er ein Mann, der seine Handlungen kühl kalkuliert. Nun aber zieht er mich aufgeregt am Ärmel. Ein Raunen geht durch die hunderttausendköpfige Menschenmenge, die den Kim-Il-Sung-Platz füllt, den zentralen Platz in Nordkoreas Hauptstadt Pjöngjang. „Jetzt!“, wiederholt Ho und erhebt sich. Er dreht sich um, reckt den Kopf nach oben zur Loge, nur fünf Meter über uns. Um uns herum erheben sich alle; alle auf einmal: Militärs, Ärzte, Professoren, Bürokraten, Lehrer, Diplomaten, Schauspieler. Sie starren erwartungsvoll auf die leere, mit rotem Samt ausgeschlagene Loge.

Einzelne brechen in Tränen aus, als hielten sie die Spannung nicht mehr aus. Dann plötzlich überall Ekstase, obwohl noch gar nichts zu sehen ist. Jubelschreie, die sich immer weiter steigern. Massenhafte Verzückung. Frenetischer Applaus. Ich sehe auf meine eigenen Hände. Sie klatschen.

Er erscheint dann mit einem Mal über uns: Kim Jong Un, dessen Bild auf der ganzen Welt eine Ikone ist, eine des Spottes, des Schreckens, der Rätselhaftigkeit. Seinem Großvater, den sie „die Sonne“ nennen, haben sie in diesem Land 34.000 Statuen errichtet, unzählige auch seinem 2011 verstorbenen Vater. Kim Jong Un tritt an das Geländer. Er lächelt, er winkt. Erst vor anderthalb Jahren ließ er vermutlich seinen Halbbruder umbringen, dessen Konkurrenz er fürchtete. Doch aus der Nähe betrachtet wirkt Kim nicht angsteinflößend. Auch nicht wie eine Karikatur.

Mein Tribünennachbar Ho klatscht und jauchzt, den Kopf in den Nacken gelegt. An seiner Seite sind Nie Rongzhen und Fang Yi, zwei chinesische Geschäftsleute, die er zu den Feierlichkeiten eingeladen hat. Auch sie klatschen und schauen ergriffen, mit offenen Mündern, zur Loge.

Ein junger Mann steht da oben, ohne große Geste. Er trägt eine Hornbrille, die ihm etwas Mildes gibt und den militärischen Look seiner Frisur ausgleicht. Ein Pulk nordkoreanischer Kameramänner in schwarzen Anzügen umschwirrt ihn. Er hat in letzter Zeit deutlich abgenommen, es heißt, ein Diabetes zwinge ihn dazu. Er sieht auf uns herunter, lässt seinen Blick über zahllose Köpfe streifen, mit einem Ausdruck, der schwer zu deuten ist. Amüsiert er sich? Genießt er seine Macht? Oder ist es Verlegenheit?

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