Drei Tore gehen auf, die eines auf das andere folgen. Das erste Tor mit seinem Netzgitter ist so hoch, als wollte es selbst die Wolken am Himmel aufhalten. Ruckelnd bewegt sich das Gatter auf doppelläufigen Schienen. Eine Frau hinter Glas drückt einen Knopf, sie sieht nur flüchtig zu uns auf. Das zweite Tor: schmaler, niedriger, mit einem Schäferhund davor. Es öffnet sich mit einem Summton. Der Hund reißt kläffend an seiner Kette, springt in Richtung der Besucher. Das dritte Tor ist eine enge Abfolge von Käfigen, jeder mit zwei Türen versehen. Das Gatter hinaus öffnet sich erst, wenn das Gatter hinein ins Schloss gefallen ist. Ein weiterer Blick hinter einer Glasscheibe, eine Frau wieder, die unsere Dokumente prüft. Sie nimmt uns die Handys ab, verteilt dafür Metallplaketten. „Nicht verlieren“, sagt sie dringlich.
Noch einmal öffnet sich mit elektrischem Klick eine Stahltür, sie springt auf und gibt den Blick frei auf das, was sie die rote Zone nennen und was im Amtsjargon Besserungskolonie 13 heißt. Eine schmale asphaltierte Straße führt in das Innere, ein Korridor aus Metall, links und rechts verbeulte Eisenwände. An seinem Ende stehen mehrere Reihen zweistöckiger Ziegelhäuser aus der Stalin-Zeit, deren frischer Anstrich nicht verbergen kann, wie marode sie in Wirklichkeit sind.
Zwischen der Ostsee und Wladiwostok am Japanischen Meer unterhält die Russische Föderation 1.029 Strafanstalten, aber nur sieben sind wie diese hier. Die Kolonie 13 mit ihren 1750 Häftlingen beherbergt diejenigen, die Gefängnisse normalerweise bewachen und betreiben – Polizisten, Paramilitärs, Amtsdiener aller Art. Knapp 10.000 von ihnen sitzen in den Sonderknästen in ganz Russland ein. Diese sind nicht nur zu ihrer Strafe, sondern auch zu ihrem Schutz gedacht. In den „schwarzen Zonen“, wie Russlands Gefängnisse für gewöhnliche Kriminelle im Jargon heißen, müssten die Insassen der Kolonie 13 täglich um ihr Leben fürchten.
In Marschformationen begegnen uns die Delinquenten auf den Lagerstraßen, die Hände hinterm Rücken, die Köpfe gesenkt. Sie sind angehalten, beim Laufen diese Demutshaltung anzunehmen. Die, die einst Recht sprachen oder es durchsetzten, tragen jetzt schwarze Häftlingskluft mit reflektierenden Streifen an Beinen, Brust und Schultern. Selten gewähren die Behörden Journalisten Zutritt zu diesem Lager. Seine Existenz ist eine Schande, gleichzeitig aber auch ein Beweis, dass unter Wladimir Putin der russische Staat gegen die Korruption vorgeht. Das Lager ist nicht etwa ein Symbol des Zerfalls staatlicher Macht, sondern das ihrer Widerstandskraft. So wollen es die Justizbehörden verstanden wissen, die uns den Besuch der Kolonie genehmigten. Das Lager befindet sich am Ortsrand der Stahlstadt Nischni Tagil, kurz hinterm Ural, Standort der größten Panzerfabrik der Welt. Das Kupfer der Freiheitsstatue in New York soll, so heißt es stolz in der Stadt, einst aus Nischni Tagil geliefert worden sein. Vor dem Besuch der ZEIT hat die Gefängnisleitung offenbar die Gebäude neu streichen lassen, man sieht noch Kübel mit weißer Farbe.
Die Gespräche mit den Gefangenen finden im Lesesaal des „Kulturhauses“ statt. Knarrendes Parkett. Ein langer Tisch, an dessen Ende sich zwei junge Offiziere der Wachmannschaften positionieren, Elias und Oleg. Der Direktor hat sie für diese Aufgabe abkommandiert. Beide scheinen darüber nicht sehr glücklich zu sein. Sie bitten darum, ihre Nachnamen nicht zu drucken. Als erster Häftling tritt Nagutschew Ruslan Salimolwitsch in den Raum, 50, Ex-Polizist, eilig in all seinen Bewegungen, so wie er es in der Kolonie verinnerlicht hat. Er legt sein Käppi ab. Das Verbrechen, das ihn an diesen Ort gebracht hat, ist eines, das sie fast alle hier begangen haben.
„Ich bin hier wegen meiner Gier“, beginnt er und lächelt.
Auf dem internationalen Corruption Perception Index befand sich Russland in den letzten zwei Jahrzehnten im freien Fall. Das Land rutschte vom Platz 46, den es im Jahr 1996 hielt, auf zuletzt Platz 133. Es liegt damit weit hinter dem Bürgerkriegsland Sierra Leone und nur knapp vor dem desolaten Kongo. Die Korruption ist Russlands zweites Selbst. Die Regierung von Wladimir Putin gibt offiziell vor, sie zu bekämpfen, tatsächlich wuchs die Korruption unter ihr so heftig wie noch nie. Putin herrscht seit vielen Jahren mit einem System aus Freundschaft und Gefälligkeiten. Dieses System reproduziert sich auf allen Ebenen der Macht. Es heißt, nur wer die Korruption verstehe, könne Russland verstehen. Die Verurteilten der Kolonie 13 sind hier, weil sie es übertrieben, weil sie zu dreist waren oder im politischen Machtkampf unterlagen. Oder weil sie gar das System zum Besseren ändern wollten. Wer hier schuldig ist und wer nicht, ist oft schwer zu sagen. Denn die, die sie hierher brachten, gelten als besonders korrupt. Russlands Gerichte.
Fotografie: Stanislav Krupař