Der Oberstleutnant, der in diesem Moment noch nicht weiß, ob er als Held oder Verräter in die Geschichte seines Landes eingehen wird, starrt auf den Kugelschreiber, der vor ihm auf dem Schreibtisch liegt. Der Schreibtisch ist leer, auch die Schränke an den Wänden sind ausgeräumt. Oberstleutnant Dmitri Deljatitski hat all seine Akten, alle Dokumente verbrannt. Sie sollen nicht den Russen in die Hände fallen.
Deljatitski stützt die Ellbogen auf, hält die Hände wie zum Gebet gefaltet. Ein graues, abgegriffenes Diensttelefon steht zu seiner Rechten. Der Oberstleutnant ist 38 Jahre alt, ein schmaler, feingliedriger Mann, fahl im Gesicht, vor Müdigkeit kann er sich kaum auf seinem Stuhl halten. Es ist kurz nach sieben Uhr morgens am 21. März. Vor Stunden, tief in der Nacht, hat Deljatitski den Generalstab in Kiew dringend um Rückruf gebeten. Nun wartet er, dass das Telefon klingelt. „Kiew schweigt“, sagt Deljatitski.
Kein Laut ist in dem Büro zu hören, eine tiefe Stille liegt über der Kaserne, über dem Stabsgebäude und dem Munitionsdepot, den Mannschaftsunterkünften und den Fahrzeughangars. „Wir sind auf uns gestellt“, sagt Dmitri Deljatitski, Kommandeur des 1. Marineinfanterie-Bataillons der ukrainischen Armee, 750 Soldaten, stationiert in der Hafenstadt Feodossija auf der Krim. Die Einheit gilt als Elite der ukrainischen Streitkräfte, als Stolz der jungen Nation.
Deljatitski starrt auf den Kugelschreiber, mit dem er die nächsten Befehle unterschreiben wird. An diesem Tag im März liegt es auch an ihm, ob in Europa wieder ein Krieg ausbricht.
Noch vor drei Wochen war die Krim ukrainisches Heimatland, jetzt ist sie für Deljatitski feindliches Territorium geworden.
Die Tore seines Stützpunktes sind verbarrikadiert – von beiden Seiten. Am Abend des 3. März erschienen Panzerwagen der russischen Schwarzmeerflotte vor den Zufahrten der Kaserne. Die Russen forderten die überraschten Ukrainer auf, die Tore zu öffnen und sich zu ergeben. So wie in Feodossija riegelten die Russen in den vergangenen Tagen auch die übrigen 181 ukrainischen Militärstützpunkte auf der Krim ab. Einer nach dem anderen wurde von den Ukrainern verlassen oder von den Russen gestürmt. Bis auf das Bataillon von Oberstleutnant Deljatitski.
Draußen, auf dem Exerzierplatz vor Deljatitskis Dienstzimmer, weht eine gelb-blaue Flagge am Fahnenmast. Es ist die letzte Flagge der ukrainischen Armee auf der Krim.
„Der General der Russen“, sagt Deljatitski, „hat mir heute ein Ultimatum gestellt. Wenn wir nicht bis 15 Uhr die russische Flagge hissen, könne er nicht mehr für unsere Sicherheit garantieren.“ Es ist 7.30 Uhr, der Generalstab in Kiew meldet sich nicht. Deljatitski bleiben noch siebeneinhalb Stunden für eine schwere Entscheidung: kämpfen oder aufgeben?