Zurück zur Übersicht

Zentralrussland

„Sei nicht enttäuscht, wenn wir ihn eines Tages finden“, sagt Sonderermittler Wadim Maximow zu seinem jungen Assistenten. – „Wieso enttäuscht?! Er ist der Champ!“, entgegnet Fjodor Nehoroschew. – „Es wird nichts Besonderes an ihm sein. Einer wie jeder. Du wirst ihn anschauen und dich in ihm wiedererkennen.“

Die Wahrheit, die sie seit Jahren suchen, ohne ihr dabei näher gekommen zu sein, ist einfach und schlicht. So schlicht, glaubt Oberst Wadim Maximow, dass sie sie nicht sehen – selbst dann, wenn sie ihr einmal ganz nah kommen sollten. Der Sonderermittler der Russischen Föderation in der Stadt Kasan an der Wolga sitzt im sechsten Stock des Gebäudes in der Bolschaja-Krasnaja-Straße, an dem viele Menschen eilig vorbeigehen, mit verstohlenen Blicken auf die pfirsichfarbene Fassade. Das sechste ist das oberste Geschoss, das ruhigste, mit leeren Fluren. Nur wenige Besucher haben Gründe, im Treppenhaus bis hierherauf zu steigen.

A view on the typical “ khruschovka“ – block of flat build since 1960s all over former USSR. This type of houses were chosen by the maniiac to kill the lonlely living old ladies.

Das Büro von Wadim Maximow bietet eine weite Aussicht über die Stadt und ist dabei ganz winzig. Ein Raum, schmal wie eine Fuge. Die linke Wand mit zwei Schreibtischen drängt sich an die rechte, vor der sich ein Wall aus Akten türmt. Hüfthoch sind die Unterlagen gestapelt, eine Mauer wie aus papiernen Ziegeln, dünnere und dickere, viele wellig vom Druck der auf ihnen lagernden Schichten. Sie alle tragen den Stempel der Strafsache mit der Registriernummer 716960. Der bürokratischen Chiffre für einen der schlimmsten Albträume Russlands, den sie hier alle den „Maniak“ nennen, den Irren. Maniaks, die es überall auf der Welt gibt, besonders aber in Russland, morden nicht aus Habgier, Eifersucht oder für eine politische Sache, sondern einfach weil sie Spaß am Töten haben.

A view on the typical “ khruschovka“ – block of flat build since 1960s all over former USSR. This type of houses were chosen by the maniiac to kill the lonlely living old ladies.

Die Strafsache 716960 umfasst die Ermittlungen zu 31 Morden an alten Frauen, die in den vergangenen drei Jahren begangen wurden, von vermutlich ein und demselben Täter, in 15 weit auseinanderliegenden Städten. Sie alle befinden sich am Lauf der Wolga und an ihren Nebenflüssen. Maximow, 42, arbeitet seit 19 Jahren beim Ermittlungskomitee der Russischen Föderation. Ein studierter Jurist. Zuständig für die Wolga-Region. In Deutschland würde man ihn einen ermittelnden Staatsanwalt nennen. Maximow hat ein mondweißes Gesicht und leuchtend blaue Augen. Schaut er einen an, scheint er weit in die Ferne zu blicken. Und sieht er mit seinen Augen in die Ferne, ist es, als sähe er einen geradewegs an. Er hat etwas Elfenartiges. Der Sonderermittler spricht mit leiser, zarter Stimme, die aber unvermittelt verhärten kann. Er ist sorgsam in allen seinen Bewegungen; so behutsam tritt er auf, fast scheint er beim Gehen eine Winzigkeit über dem Boden zu schweben. Gerne antwortet er auf konkrete Fragen mit philosophischen Betrachtungen.

Er wurde für nächste Woche zum Rapport nach Moskau bestellt und sichtet nochmals den ganzen Fall. Die Spitzen des Innenministeriums werden sich dort treffen. Maximow ist nervös. Sein Maniak ist von allen Serienmördern weltweit, die noch nicht identifiziert sind, der mordlustigste. Er greift zum ersten Band der Ermittlungsakten und schlägt ihn auf.

Fotografie: Stanislav Krupař
Zurück zur Übersicht