Über das Meer.

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Mittelmeer

„Lauft!“, brüllt es hinter mir, die helle Stimme eines jungen Mannes, eines halben Kindes noch, „lauft!“, und ich beginne zu laufen, ohne in der Dämmerung viel zu sehen, ich renne den Pfad hinunter, in einer langen Reihe mit den anderen. Ich renne, so schnell ich kann, sehe auf meine Füße, die mal auf Erde aufsetzen, dann auf Stein. „Ihr Hurensöhne!“, schreit einer der Jungen, die uns eben aus den Minibussen gejagt haben und jetzt neben uns herrennen, uns antreiben wie ein Hirte sein Vieh. Er schlägt mit einem Stock auf uns ein, auf unsere Rücken, die Beine. Er packt mich am Arm, reißt mich fluchend voran. Wir sind 59 Männer, Frauen und Kinder, ganze Familien, die Rucksäcke geschultert, die Koffer in den Händen, und rennen an einer Fabrikmauer entlang, irgendwo am Rande eines Industriegebiets im ägyptischen Alexandria.

Vor mir hebt und senkt sich der Rücken von Husam, 20, einem massigen Mann, er keucht, torkelt bald, weil er nicht mehr kann, ich schiebe ihn vorwärts, mit aller Kraft, bis er wieder zu rennen beginnt. Der Stock knallt auf uns nieder. Irgendwo vor mir weint die 13-jährige Bissan vor Angst. Sie umklammert beim Laufen den Rucksack mit ihren Diabetes-Medikamenten. Hinter mir ist Amar, 50, er trägt eine signalblaue Goretex-Jacke, er hat sie sich für diesen Tag extra gekauft. Auch er wird immer langsamer, schon länger hat er Probleme mit dem Knie, doch er hat sich zuvor geschworen, er wird nicht aufgeben. Er kommt aus Syrien, wie fast alle hier, Ägypten ist für ihn nur eine Station auf seiner Reise, er muss es schaffen. Dann biegt die Mauer scharf nach links ab, und wir sehen plötzlich, ganz nah, keine 50 Meter weg, was wir uns seit Wochen erhoffen, wovor wir uns seit Wochen fürchten. Das Meer. Glühend liegt es vor uns im letzten Abendlicht.

Der Fotograf Stanislav Krupar und ich haben uns syrischen Flüchtlingen angeschlossen, die versuchen, von Ägypten nach Italien zu gelangen, übers Meer. Wir haben uns Schleusern ausgeliefert, die nicht wissen, dass wir Journalisten sind. Deshalb treiben sie auch uns mit Schlägen voran, denn alles muss schnell gehen, damit die große Gruppe niemandem auffällt. Nur Amar und seine Familie sind eingeweiht, wer wir wirklich sind. Er ist ein alter Freund, den ich von meiner Berichterstattung über den syrischen Bürgerkrieg kenne. Verzweiflung hat ihn auf diese Reise gezwungen, er träumt davon, in Deutschland zu leben. Er wird für uns auf der Fahrt übersetzen. Wir haben uns lange Bärte wachsen lassen, uns neue Identitäten zugelegt. Auf der Reise sind wir Varj und Servat, Englischlehrer, zwei Flüchtlinge aus einer Kaukasus-Republik.

Wir sind jetzt Teil des großen Exodus. 43.000 Flüchtlinge flohen 2013 übers Mittelmeer nach Europa, die meisten von Libyen aus. Sie stammen aus Ländern, in denen Krieg herrscht, wie Syrien oder Somalia, aus Diktaturen wie Eritrea, oder sie wünschen sich einfach nur ein Leben unter besseren wirtschaftlichen Bedingungen. 1.500 Menschen ertrinken jedes Jahr bei dem Versuch, Italien und Griechenland auf überfüllten Booten zu erreichen. Das Mittelmeer ist die Geburtsstätte Europas und mittlerweile der Schauplatz seines größten Versagens.

Fotografie: Stanislav Krupař
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