Die Angst und die Freiheit. Reportagen aus einem zerbrechenden Land.

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Mali

Als hätte sich der Krieg plötzlich aufgelöst in Sand und Staub. Wie einer dieser Stürme, die aus der Wüste nach Süden ziehen, schwarz und dräuend, so waren die Islamisten von Norden kommend durch dieses riesige Land gestoben. In Pick-ups, auf Motorrädern und Radpanzern hatten sie fast das ganze Staatsgebiet Malis erobert. Vermummt rasten sie heran und kaperten Dörfer und Städte. Immer näher waren sie an die Zweimillionenstadt Bamako herangerückt.

„Hier waren alle schon in Panik geraten“, sagt ein deutscher Entwicklungshelfer, der in seinem Leben schon manchen Einmarsch afrikanischer Rebellen miterlebt hat und der blieb, mit nur wenigen anderen Weißen. Er sah Einwohner in der Hauptstadt hastig ihre Sachen zusammenpacken, Autos organisieren und fieberhaft Benzin aufkaufen. Sie planten ihre Fluchtrouten, je nachdem, in welchem Nachbarstaat sie auf Verwandte oder Freunde hoffen konnten. „Es war nur noch eine Frage von Stunden“, sagt ein westlicher Diplomat. „Hätten die Franzosen nicht bombardiert, säßen wir nicht mehr hier.“

In Bamako erinnert jetzt nichts mehr an eine drohende Invasion. Nicht ein Soldat ist auf der Straße zu sehen. Die Märkte sind voller Menschen, die Innenstadt ist wie immer ein einziger Verkehrsstau. Vor den Ministerien dösen Wachhabende, niemand kontrolliert Autos, trotz Warnung vor Vergeltungsanschlägen. Bamako ist eine typische Hauptstadt der Sahelzone – gigantisch in ihrer Bevölkerungszahl, dürftig in ihrer Infrastruktur. Wir fahren am Finanzministerium vorbei, das die Größe eines deutschen Gemeindezentrums hat. Andere, prunkvollere Regierungsbauten hat der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi spendiert.

Auf der roten Lehmpiste der Nationalstraße 6, die in den Norden führt, rollen wieder die Planierraupen und gießen Hundertschaften von Arbeitern Beton. Chinesische Ingenieure stehen in der Mitte der malischen Straßenbauer und geben Anweisungen. Unser Wagen, mit dem wir auf dem Weg ins Kriegsgebiet sind, fährt durch einen endlosen Tunnel aus rotem Baustellenstaub. Immer wieder bremst der Fahrer abrupt, weil er nichts sehen kann. Lastwagen rumpeln über die Straße, ihre Fahrer haben die Fracht so hoch gestapelt, dass sie sich bedrohlich zur Seite neigen wie Schiffe vor dem Kentern. Fast täglich fallen einige um. Das ist nach wie vor im Süden Malis die größte Gefahr für die Menschen. Nicht der Krieg, sondern Verkehrsunfälle.

Timbuktu

In der Dunkelheit der Kammer sinkt er auf die Knie. Er fährt mit den Handflächen über den Lehmboden, behutsam, langsam, als streichle er den Bauch einer Schwangeren. Den Oberkörper hat er weit nach vorne gestreckt, Moulaye Haidara, 50, ein hagerer Mann. Er ist so groß und so schmal wie die Türdurchgänge dieses Hauses, das seine Familie seit Jahrhunderten bewohnt. Seine Fingerspitzen gleiten über den Sand, mit dem sie den Boden bestreut haben. Der älteste Sohn, 12, steht neben ihm, er hält das leuchtende Display eines Handys über die Hände des Vaters. Der einzige Lichtschein in diesem fensterlosen Raum.

Es dauert nicht lange, da bekommt Haidara eine Unebenheit zu fassen, ein im Boden eingegrabenes Brett. Er zieht mit den Fingerspitzen daran, wischt den Sand darüber weg, hebt die Holzkante vorsichtig an. Eine kleine Grube öffnet sich unter ihm. Zwei weitere Bretter löst er aus dem Fußboden und sieht dann hinab. Drei Metalltruhen schimmern dort, gefüllt mit Bündeln von eng beschriebenem Papier, jahrhundertealten Manuskripten. „Diese Bücher haben magische Kräfte. Sie wachen über meine Kinder.“ Vor acht Monaten hat der Arabischlehrer Haidara sie hier vergraben, um sie vor den Islamisten zu schützen, in der Erde Timbuktus. 600 Manuskriptsammlungen in Familienbesitz gibt es in der Stadt, und fast alle wurden sie versteckt. Jetzt holt Moulaye Haidara seine Bibliothek wieder hervor, stellt die drei Kisten in das rückwärtige Zimmer im Erdgeschoss, wo sie seine Familie seit vielen Generationen aufbewahrte, doch packt er sie noch nicht aus. Es ist der sechste Tag nach dem Einmarsch der Franzosen. Ihre Konvois patrouillieren auf den Hauptstraßen. Die Gefahr für seine Bücher aber, so sorgt sich Moulaye Haidara, ist nicht vorüber.

Mali ist auch mehrere Wochen nach Beginn der französischen Operation „Serval“ in zwei Hälften geteilt. Immer noch sperren entlang der ehemaligen Frontlinie Posten der malischen Armee die Straßenverbindungen in den Norden. Weder Hilfskonvois mit Nahrungsmitteln noch Journalisten dürfen passieren. Timbuktu ist knapp 1.000 Kilometer von der Hauptstadt Bamako entfernt und bleibt vom Rest des Landes isoliert. Timbuktu, die Unerreichbare. So nannte man sie im 19. Jahrhundert. Die sprichwörtliche Fabelstadt. Bei einer Umfrage unter britischen Schulkindern vor sieben Jahren gaben 34 Prozent an, Timbuktu gebe es nicht. Ein Ort der Fantasie.

Fotografie: Andy Spyra
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