Der Moment des Urteils ist gekommen, und es ist nicht klar, wer sich unwohler fühlt in seiner Rolle. Der Richter oder der Gerichtete. Mohammed Malik Dalati, 51, der Richter, sieht von seinen Händen auf, deren Daumen einander unruhig umkreisen. Langsam erhebt er sich von seinem Stuhl, strafft mit leisem Stöhnen die Schultern und sagt Worte, die zu groß scheinen für diesen kleinen Raum: „Im Namen des Volkes“. Vor dem Richtertisch steht ein älterer Mann, gebückt und den Kopf halb abgewandt, als erwarte er Tritte und Schläge. Der Angeklagte murmelt eine Sure und lässt dabei die Augen nicht von seinem Richter. „Es ist also entschieden“, sagt Dalati mit leichtem Zögern. „Wir verurteilen dich zu einer Haftstrafe von zehn Tagen und einem Bußgeld von 100.000 Lira.“
Mitte Dezember, ein Mittwoch, zehn Uhr, letzter Tag der Verhandlungswoche. Der Richter setzt sich wieder, ebenso der Verurteilte, zwischen ihnen ein Schreibtisch mit Bündeln von Papieren. Der Alte kauert auf seinem Stuhl, er ist Inhaber einer Apotheke und hat Tabletten an Abhängige verkauft. Seit fünf Tagen befindet er sich in Arrest, in einem Keller ohne Licht. Er beginnt zu weinen. 100.000 Lira – so viel verdient er in vier Monaten nicht. „Sei glücklich, dass die Strafe so niedrig ausgefallen ist“, sagt Dalati zum Weinenden. Der Staatsanwalt habe ein Jahr Haft gefordert. Dalati hält die Hände vor dem Bauch verschränkt, die Daumen kreisen wieder, als plötzlich in der Nähe eine Granate explodiert. Die Druckwelle ist so stark, dass die Ohren schmerzen. Ein zweiter Schlag, ein dritter. Weiße Rauchschwaden ziehen draußen vorbei.
Niemand läuft zum Fenster, niemand zuckt zusammen, so alltäglich ist hier die Nähe zum Tod. Dalati nimmt einen Stempel, presst ihn auf die Urteilsverkündung, rollt ihn hin und her, damit jeder den Schriftzug gut lesen kann: „Erste Strafkammer, Vereinigter Gerichtshof von Aleppo, Syrische Arabische Republik“. Er beugt sich hinunter zum Papier, pustet behutsam Luft auf die Tinte, die nicht weniger ist als der Beginn eines neues Staates.
23 Richter, ein Staatsanwalt, drei Protokollanten, 20 Räume in einem Apartmentkomplex, eine Teeküche, ein Gefängnis im Keller. Das Gericht wurde gegründet in jener Stadthälfte von Aleppo, die von den Aufständischen kontrolliert wird. Ins Leben gerufen wurde es durch die Freien syrischen Anwälte, eine Vereinigung von Juristen, die sich zu den Rebellen bekennen, und durch das städtische Scharia-Komitee. Es gibt vier Kammern, es tagen jeweils drei Richtern, wobei zwei davon Scharia-Gelehrte sind und einer studierter Jurist ist. Urteile fällen sie durch Mehrheitsbeschluss. Als Rechtsgrundlage gilt ihnen jedoch nicht die Scharia, das islamische Recht, sondern der Gesetzentwurf zur Zivilgesellschaft der Arabischen Liga. Noch ist alles im Fluss, noch hat das Gericht keine der drakonischen Strafen erlassen, für die die Scharia im Westen so gefürchtet ist. Dieser Gerichtshof ist ein Tribunal des Kompromisses zwischen Säkularen und Religiösen. Jeden Tag müssen sie neu um ihn ringen, nunmehr seit fünf Verhandlungswochen.