Der Kanzler, sehr dünn geworden, sitzt in seinem Büro. Mit krummem Rücken wartet er in seinem Sessel, übernächtigt und unrasiert. Nur noch selten verlässt er tagsüber diesen Raum, und nur noch wenige besuchen ihn hier. Bis vor Kurzem galt es als Ehre, zu ihm vorgelassen zu werden. Jetzt haben die meisten Angst, mit ihm, dem Kanzler, gesehen zu werden. Als wir eintreten, wartet er, bis die Tür zum Vorzimmer ins Schloss gefallen ist. Stockend beginnt er zu reden. Er spricht von „unglücklichen Entwicklungen“, sucht nach den richtigen Worten. Oft gibt er es auf. Er bricht dann Sätze ab, verstummt und lächelt ein papierdünnes Lächeln. Professor Dr. Mohammed Osman Babury, 59 Jahre alt, ist Kanzler der wichtigsten Universität Afghanistans, und in diesen Wochen ist er ihr Gefangener.
Er hat seinen Büroleiter ans Tor geschickt, den einzigen Mitarbeiter, der ihm noch geblieben ist, damit er die Wachen überredet, die Reporter der ZEIT einzulassen. Es ist Anfang September. Vor drei Wochen haben in Kabul die Taliban die Macht übernommen. Die alten Sicherheitskräfte sind geflohen, neue Wachen sind vor den Eingängen zur Universität erschienen. Junge bärtige Männer in wallenden Gewändern, bewaffnet mit Schnellfeuergewehren, die Augen mit Lidstrichen umrandet.
Leere lange Wege führen über den Campus zum Büro des Kanzlers. Alleen mit Kiefern, durch die sanft der Wind weht. In manchen Bäumen stecken noch die Kugeln früherer Bürgerkriege. 22 Fakultäten auf neun Hektar Parkanlage. Die Gebäude stehen in großen Abständen zueinander. Jedes hat einen anderen Stil, meist ist es der Stil des Geldgebers. Zweistöckige Lehrkasernen, wie sie die Sowjetunion in den Fünfzigerjahren baute. Bungalows, wie sie in den Sechzigerjahren in den USA in Mode waren. Chromglitzernde Glaswürfel nach dem Geschmack des modernen Chinas. Eine Stadt in der Stadt, die Stadt der Akademiker. Die Seminare sind seit dem Einmarsch der Taliban ausgesetzt. Von den 25.000 Studierenden, davon 43 Prozent Frauen, ist niemand zu sehen. Ab und an fährt ein Talib mit Sturmgewehr auf einem alten Fahrrad gelangweilt Schleifen.
Er wisse nicht, was jetzt passiert, mit dem Land, mit ihm, sagt der Kanzler in seinem Büro. Niemand habe mit alldem gerechnet. Noch vor wenigen Jahren residierte in diesem Büro Aschraf Ghani, der das Amt des Kanzlers innehatte, dann afghanischer Präsident wurde und jetzt mit seiner überstürzten Flucht ins Ausland den Kollaps des gesamten Staatsapparates auslöste. Babury dreht immer wieder seinen Kopf zur Tür, um zu überprüfen, ob sie sich nicht einen Spalt weit geöffnet hat.
Nur ein Vorzimmer von ihm entfernt, auf der gegenüberliegenden Flurseite, ist vor wenigen Tagen der neue Sondergesandte der Taliban-Regierung eingezogen. Mohammed Aschraf Ghairat ist erst Anfang 30, ein Mann mit zauseligem Bart, tief liegenden ernsten Augen und der Gebetskappe des frommen Gläubigen. Ein Mullah. Bisher war er im Untergrund Mitglied eines Bildungskomitees der Taliban. „Diese Universität ist zu einem Hort der Sünde verkommen“, verkündet er in diesen Tagen wiederholt der Öffentlichkeit.
„Ich hoffe“, sagt Babury, der alte Kanzler, ein gelernter Pharmakologe, „dass es gelingt, die Fortschritte zu retten, die wir beim Aufbau dieser Universität gemacht haben. Ich werbe bei den Dozenten um Geduld und bei den Taliban um Verständnis. Wir dürfen die Universität nicht verlieren.“
Knapp einen Monat lang begleiten wir nach der Machtübernahme der Taliban das Ringen um die Universität von Kabul. Sie ist nicht einfach nur eine Lehranstalt. Sie ist viel mehr als das: das geistige Zentrum Afghanistans, die Mutter von fast allem. Fast alle gesellschaftlichen Bewegungen der jüngeren Geschichte des Landes hatten hier ihren Ursprung. Nahezu alle politischen Umwälzungen gingen von hier aus. Eine Universität, geschaffen, um aus den vielen Völkern Afghanistans eine Nation zu formen, Alma Mater, übergroß.
Friede ist eingekehrt in Afghanistan. Der Krieg, der noch einmal so fürchterlich geworden war, so rasend, gespeist von 40 Jahren Gewalt, ist Mitte August 2021 mit einem Mal erloschen. In Kabul herrscht eine unwirkliche Ruhe. Taliban kontrollieren auf den Straßen. Die befürchtete große Rachewelle ist bisher ausgeblieben. Die Führer der Taliban beschwichtigen. Doch niemand traut dieser Ruhe. Zehntausende Menschen verstecken sich in ihren Häusern. In kleinen Gruppen fliehen sie über die Grenzen nach Pakistan und in den Iran.
Nach der Machtergreifung der Taliban war Mohammed Aschraf Ghairat vor dem Tor der Universität erschienen, in der Hand eine abgenutzte braune Aktentasche. Er stellte sich als Sonderbeauftragter der Taliban vor und zog in das Büro von Baburys Assistent. Kaum jemand auf dem Campus kannte bis dahin seinen Namen, nur wenige konnten sich an ihn erinnern, doch war es für Ghairat eine Wiederkehr. Als junger Mann hat er bis 2008 auf der Kabul University Journalismus studiert, dann schloss er sich den Taliban an und ging in den Untergrund, aus dem er jetzt, nach 13 Jahren, zurückgekehrt ist. „Es braucht keiner Angst vor mir zu haben“, sagt Ghairat im Büro des Assistenten, der ins Ausland geflohen ist.