Der bereits in die Jahre gekommene Airbus 320, der drei Stunden zuvor in der georgischen Hauptstadt Tiflis gestartet war, sinkt ganz langsam zur Stadt hinab. Die Flugbegleiter, fünf Männer und eine Frau, starren nervös aus den Fenstern. Die Maschine überfliegt den zerrissenen Kamm des Hindukusch, gleitet durch Schichten aus gelben Sandschleiern. Braune staubbedeckte Berge, die in sanfte Hügel übergehen, erste Gebäude, einzelne Lagerhäuser, dann eine ganze Ebene aus Lagerhäusern und Industriehallen – die Außenbezirke von Kabul. Es ist Tag zehn der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan.
Dieser Flug ist die letzte Hoffnung für viele in der afghanischen Hauptstadt. Er ist ein Akt nackter Verzweiflung.
An Bord ist die Filmemacherin Theresa Breuer, die lange in Afghanistan gelebt hat, immer noch viele Freunde und Bekannte in Kabul hat, und ein früherer Special-Forces-Soldat, der Schotte Rob Grey. Breuer hat zusammen mit einem Europaabgeordneten der Grünen und Mitgliedern der Hilfsorganisation Seawatch, die seit Jahren Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet, rund eine Viertelmillion Euro gesammelt, um das Flugzeug zu chartern. Sie haben dafür eigens eine Organisation gegründet: die Kabulluftbrücke. Im Airbus sitzen auch vier Journalisten – darunter ein Fotograf und ein Reporter der ZEIT.
Wir haben uns diesem Flug nicht nur zur Berichterstattung angeschlossen. Der Airbus soll auch 170 gefährdete Afghanen, überwiegend Mitarbeiter deutscher Medien, in Sicherheit bringen. Jeder von uns hat Mitarbeiter in Kabul, die jetzt um ihr Leben fürchten. Versteckt an einem geheimen Ort in der Stadt warten sie auf die Ankunft des Airbus. Viele Zehntausend Menschen umlagern den Kabuler Flughafen. Aus allen Landesteilen sind sie nach dem Fall der Regierung hierhergeeilt, zu den letzten Quadratkilometern Afghanistan, die noch von US-Truppen kontrolliert werden. Tausende drängen sich an den Toren, die Masse an Menschen blockiert die Eingänge. Die Panik, die die Menschen erfasst hat, kennt keine Barmherzigkeit. Rastlos umrunden sie mit Gepäck und Kindern das weitläufige Gelände, in der Hoffnung, die Mauern und den Stacheldraht überwinden zu können. Unter ihnen die Diebe der Stadt. So viele Diebe hat die Armut in Kabul in den letzten Jahren hervorgebracht. In Schwärmen und einzeln attackieren sie die Flüchtlinge, rauben sie aus, stehlen ihr Geld, ihre Telefone. Monate zu spät hat die Bundesregierung mit der Evakuierung von Übersetzern, Mitarbeitern deutscher Behörden und Hilfsorganisationen begonnen. Nur schleppend lief das Ausfliegen der „Ortskräfte“ an – Ortskräfte, eine krude, Distanz schaffende Wortschöpfung der deutschen Bürokratie. Deshalb haben sich Breuer und ihr Kollege auf den Weg gemacht. Sie wollen nicht allein auf die Behörden vertrauen, die nach eigenem Eingeständnis von der Dimension der Krise überrumpelt wurden. Jetzt, wo es um das Leben Tausender geht, müsse die Zivilgesellschaft dem Staat zur Hilfe kommen, sagt Breuer. Der Airbus, den ihr Team Richtung Kabul steuern lässt, ist der erste Versuch von Zivilisten, Verzweifelte aus Afghanistan herauszuholen. Diesen Flug begleiten viele Fragen: Können Privatleute das, woran deutsche Diplomaten und Soldaten zu scheitern drohen? Und: Lässt sich der Staat überhaupt helfen?
Während sich der Airbus der geschundenen Stadt nähert, versucht ein Team in Kabul, die 170 Flüchtlinge zum Flughafen zu bringen. Seit Tagen versuchen sie es schon. Mitglieder der Kabulluftbrücke haben Kontakt mit der Botschaft von Katar in Kabul aufgenommen. Auch hier hat das Auswärtige Amt Unterstützung zugesagt. Schon zuvor hatten die katarischen Diplomaten mehrere Bus-Konvois, vorbei an den Posten der Taliban, zum Flughafen geschafft – zuletzt Mitarbeiter der New York Times und ihre Familien, insgesamt 130 Menschen.
Es ist kurz vor sechs Uhr abends, als die Maschine auf der Landebahn in Kabul aufsetzt. Der Airbus rollt an leeren Hangars vorbei. Wir sehen über ein Dutzend Wracks von Kampfhubschraubern. In den vergangenen Tagen wurden sie von ihren Besatzungen zerstört, damit sie nicht den Taliban in die Hände fallen. Der Airbus-Pilot aus Kairo, dem die Situation ohnehin nicht geheuer ist, kennt den Flughafen nicht. Er bringt den Airbus neben der Landebahn zum Stehen. „Wo sollen wir hin?“, fragt er Breuer und Grey.
Die sind überrascht, hatte doch am Vortag der Vertreter der Chartergesellschaft den Standort lokalisieren sollen, jetzt stellt sich heraus: Es war ihm nie gelungen. Der Besatzung des Flugzeuges mit 170 Plätzen wurde vom Tower, wie allen Evakuierungsflugzeugen in diesen Tagen, ein Zeitfenster von einer Stunde eingeräumt. 170 Sitzplätze – blaues Kunstleder mit weißen Hygienepapier über den Kopfstützen. 170 Leben.
Von diesem Moment an zählt jede Minute.