Bittere Ernte

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Nigeria, Pestizide

Am Ende ist es nur noch Routine. 22 Plastikröhrchen liegen auf dem Tisch eines Lebensmittellabors in Bayern, sauber etikettiert und nummeriert. Es sind Proben von Wasser und von Milch, von Honig und von Zucker. Viele von ihnen wurden von Menschen gesammelt, die dafür ihre Existenz riskierten. Ein Laborant behandelt sie mit Lösungsmitteln und füllt sie in daumengroße Phiolen aus Glas. Er lässt sie in Zentrifugen mit bis zu 14.000 Umdrehungen in der Minute rotieren, erhitzt sie und verdampft sie bis auf ein Kondensat, um die Phiole an einen Chemiker der Analyseabteilung zu übergeben. Der stellt sie in die Öffnung eines HP-7010-Gas-Chromatografen. „Na, dann bin ich gespannt“, sagt er.

In der nächsten halben Stunde wird ihr Inhalt in die hauchdünnen Röhrchen eines Massenspektrometers geschossen und gezielt mit Elektronen bombardiert, um die Probe in ihre chemischen Bestandteile aufzubrechen, Messung für Messung, bis sie endlich preisgibt, aus welchen Stoffen sie in Wahrheit gemacht ist, vor allem aber: aus welchem Gift.

Der Chemiker lehnt sich in seinem Stuhl zurück und drückt den Knopf. Dann schaut er auf mich, den Reporter: „Wollen Sie so lange in unserem Sozialraum einen Kaffee trinken?“ Danach soll das Ergebnis der ersten Probe feststehen.

Das gleichförmige Summen der Laborapparatur markiert das Ende einer Recherche, die Wochen zuvor Tausende Kilometer entfernt in Afrika begann, auf den Feldern Nigerias, dem Schauplatz eines der größten Dramen der Menschheit.

Nie zuvor war auf der Welt fruchtbarer Boden so knapp, nie zuvor gab es so viele Menschen zu ernähren. Nachdem über viele Jahrzehnte der Hunger in der Welt zurückging, nimmt er seit einigen Jahren wieder deutlich zu. Die Zahl der unterernährten Menschen stieg seit 2014 um fast 60 Millionen auf 690 Millionen im Jahr 2019, 8,9 Prozent der Weltbevölkerung. Bis in zehn Jahren, so schätzen die UN, könnte die Zahl auf über 840 Millionen steigen. In Afrika und in vielen Ländern Asiens droht ein rasantes Bevölkerungswachstum alle Ressourcen zu verschlingen, doch am größten ist der Druck in Nigeria, dem bevölkerungsreichsten Staat Afrikas mit 200 Millionen Einwohnern – in zehn Jahren werden es 260 Millionen sein. In einer enormen Kraftanstrengung versucht Nigerias Regierung, die Landwirtschaft zu modernisieren, und hofft dabei auch auf die Hilfe deutscher Chemiekonzerne wie Bayer und BASF.

Diese Reportage erzählt von einer globalen Krise und einem großen Geschäft. Sie handelt von dem Versuch, die Welt zu ernähren, und von der Gefahr, sie dabei zu vergiften.

Diese Reportage handelt von Pestiziden.

Pestizide (von latein. pestis = Seuche, -cida = -tötend). Pflanzenschutzmittel. Pestizide haben dazu beigetragen, dass die Weizenproduktion zwischen 1969 und 2007 weltweit verdoppelt werden konnte. Ein Stoff, von Menschen gemacht, um Leben zu nehmen und um Leben zu geben, dringt in die kleinsten Partikel des Organismus von Pflanzen wie von Insekten ein. Er besteht aus Molekülen, die Forscher erschufen, um das Nervensystem von Insekten anzugreifen. Pestizide wurden erfunden, um Insekten zu töten, die sich von Nutzpflanzen ernähren, und Pflanzen zu vernichten, die keine Nutzpflanzen sind. Oft ist den Forschern selbst noch nicht ganz klar, auf welche Weise sie genau töten.

Der Ort der ersten Probenentnahme. Bundesstaat Benue, die Kornkammer Nigerias, das Dorf Oye-Obi, circa 7.000 Einwohner, fast schon tropische Vegetation, kleine Felder unter Palmen, auf den ersten Blick: ein Idyll. Durchzogen von Flüssen, die in der Regenzeit zu Strömen werden und die Gegend für Monate von der Außenwelt abschneiden.

Im Dorf, zu dem keine Straßen führen, nur schmale Pfade, steht John Ihiama auf den Gräbern seiner Kinder. Er hat sie vor wenigen Monaten hinter seiner Hütte beerdigt. Alles, was sie besaßen, sämtliche Gegenstände, die ihn an seine Kinder erinnerten, hat er damals vernichtet, sagt Ihiama, ein Bauer von 47 Jahren. Ihre Kleider verbrannte er nach ihrem Tod, ihre Schuhe, alles, was ihnen gehörte, sogar die Fotos, auf denen sie abgelichtet waren. Hätte er es nicht getan, sagt er, hätte er sich vor den toten Kindern fürchten müssen. „Sie hätten nicht ganz gehen können.“

Dann wäre ein Teil der Verstorbenen in der Welt der Lebenden geblieben, der Teil ihrer Seelen, der noch unversöhnlich ist, voll Eifersucht und Zorn – Zorn darüber, dass die Lebenden sie sterben ließen.

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