Die letzte Wiese

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Deutschland, Gönningen

Die Wiese: Der Schnee ist über Nacht geschmolzen. Das Gras, das im Sommer bis zur Hüfte reicht, hoch und wild, fast wie in der Savanne Afrikas, liegt Ende Januar flach und niedergedrückt über dem Grund. Die Wiese ist vollgesogen mit Nässe, jeder Schritt auf ihr schmatzt. 75 Obstbäume stehen hier, die Hälfte wird in den nächsten Jahren sterben, sagen die Gutachter, sie seien zu alt. Das Fallobst des Sommers liegt im Gras, braune, aufgeweichte Äpfel, besprenkelt mit weißen Pilzen. Auf einem Quadratmeter Erde leben mehrere Hundert Tiere. Einer der artenreichsten Lebensräume Mitteleuropas: die Streuobstwiese.

Die Wiese schmiegt sich an den Ortsrand von Gönningen, einem Dorf im Schwäbischen. Sie ist nicht groß. 250 Meter lang, 75 Meter breit, 1,9 Hektar. Die Gemarkung „Hinter Höfen“. Im örtlichen Grundbuch verzeichnet als Flurstück 410 bis 442.

„Ein Traum“, sagt Elke Rogge mit Blick auf die Wiese. „Wenn die blüht, ist das fast wie ein Märchen.“ Rogge, 55, eine Musikerin, wohnt in einem von ihr selbst renovierten Bauernhaus, das direkt an die Wiese grenzt. „Wir müssen mehr tun, um sie zu retten“, sagt sie. „Ich überlege ständig, was wir noch tun können.“

„Ich liebe den Duft und den Gesang der Vögel“, sagt Bernd Holwein, 59, von Beruf Krankenpfleger. Das Haus seiner Familie steht ebenfalls an der Obstwiese. Holweins Wangen sind so rot wie die Äpfel, die im Sommer auf den Bäumen der Wiese wachsen. Die Holweins lieben Äpfel, zur Erntezeit umgibt sie ihr säuerlicher Geruch, den sie mitnehmen, wohin immer sie gehen. „Ich habe nicht viel Hoffnung“, sagt Bernd Holwein, „sie werden sich die Wiese holen.

„Für mich ist das ein Stück Heimat“, sagt Uwe Rist, 54, Entwicklungstechniker im Scheinwerferbau.

„Das ist für das Dorf eine Katastrophe“, sagt Birgid Löffler-Dreyer, 66, eine pensionierte Restauratorin. Ihr Bruder, der viele Jahre für die Wiese gekämpft hat, ist vor wenigen Monaten verstorben. Sie will seinen Kampf fortführen, sein Erbe, wie sie sagt.

Rogge, Holwein, Rist und Löffler-Dreyer, sie alle setzen sich in der Bürgerinitiative „Kein Neubaugebiet Hinter Höfen“ für den Erhalt der Wiese ein.

Fast jeder Nachbar hat zur Wiese hin ein großes Transparent aufgehängt, befestigt an Zäunen und an Pfosten zwischen den Bäumen. „Hier kein Neubaugebiet!“, steht darauf, oder: „Lasst die Wiese leben!“

In dieser Geschichte, die das Dorf Gönningen mit seinen 3800 Einwohnern durch vier Jahreszeiten begleitet, geht es um einen Konflikt, der in Europa immer mehr Orte erfasst. Das Land verschwindet, und das fast wortwörtlich: in den Niederlanden, in Belgien, in Norditalien, in Österreich, der Schweiz, besonders aber in Deutschland.

Es verschwindet unter Beton und Pflastersteinen, unter Straßen, Lagerhallen, Büro- und Fabrikbauten, unter Garagenauffahrten, Wohnhäusern, Terrassen und Steingärten.

Der Boden, der sich in Jahrhunderten gebildet hat, der Humus, wird von Baggern abgetragen und ersetzt durch Schotter und Asphalt. Jede Sekunde werden in Deutschland sieben Quadratmeter Boden verbaut, jedes Jahr eine Fläche, fast so groß wie Frankfurt am Main.

Es ist die Zeit der großen Landnahme.

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