Die Nacht über Afghanistan

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Afghanistan, Astronomie

Die Ringe des Saturn bestehen aus Eiskristallen und vermutlich meteoritischen Staubteilchen, die den Planeten in dessen Äquatorebene in kreisförmigen Bahnen umlaufen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Bruchstücke eines früheren Mondes, der, dem Planeten zu nahe, von dessen Gezeitenwirkung zerstört wurde. (Brockhaus Enzyklopädie)

Der Bildschirm des Laptops flackert, hellt sich kurz auf, zeigt einen jungen Mann, unrasiert, fahrig. Seine Hand greift an den unteren Bildrand, und plötzlich wird alles wieder schwarz. Dann leuchtet der Monitor abermals auf, sein Gesicht nah am Bildschirm. „Hallo?“, ruft er. Ahmad Mansur Ramisi sitzt in einem kärglich eingerichteten Zimmer, eine Wohnung in der türkischen Hauptstadt Ankara, seinem Exil. Vor fünf Monaten hat er Kabul verlassen, nicht weil er gegen die Taliban gekämpft, nicht weil er für ausländisches Militär übersetzt hatte, sondern weil er einer Leidenschaft nachgegangen war, die in seiner Heimat von vielen als sündhaft verurteilt wird: der Astronomie. Der Wissenschaft von den Sternen.

„Ich glaube, ich werde nie wieder nach Afghanistan zurückkehren können“, sagt er, als die Verbindung endlich steht. „Ich fühle mich verloren. Ich kann nicht mehr denken.“

Diese Geschichte handelt von einer großen Sehnsucht und verlorenen Träumen. Sie erzählt von den Astronomen Afghanistans, von den Menschen, die vor der Machtübernahme durch die Taliban den Himmel ergründen wollten. Es sind nach unseren Recherchen genau elf Männer und eine Frau. Zwölf von 31 Millionen Afghanen.

Schon lange vor der Machtübernahme der Taliban gab es auf der Welt nur wenige Länder, wo Neugierde so gefährlich war, in denen es so riskant war, ein Teleskop zu besitzen, wie in Afghanistan. Diskussionen über die Theorie des Urknalls waren und sind lebensgefährlich. Nicht erst die Taliban haben all jene bedroht, die den Schöpfungsmythos des Korans infrage stellen. Die Welt wurde in sechs Tagen erschaffen, so steht es in Sure 50, oder in acht Tagen, wie es in Sure 41 steht, aber nicht in Jahrmilliarden, wie die Astronomie behauptet. Für die Taliban gibt es nur eine wahre Wissenschaft: die der Theologie. Sieben der afghanischen Astronomen haben wir in diesem Sommer besucht, nur Wochen vor dem Zusammenbruch des Regimes, Wochen letzter Hoffnungen. Eine kleine Gruppe Sternenkundler, einst eine Gemeinschaft, dann zerbrochen in zwei Lager und bitter verfeindet. Menschen, deren Träume in weite Fernen strebten und die doch am Ende tief verfangen blieben in den Konflikten auf dem Boden.

Mittlerweile sind alle von ihnen auf der Flucht. Sie leben im Exil im Ausland oder als Vertriebene im eigenen Land.

Der Himmelsstürmer

Am Ende eines heißen Tages im Juni, als Ahmad Mansur Ramisi in Kabul auf das Flachdach seines Elternhauses hinaustrat, um sein Teleskop aufzubauen, ahnte noch niemand, dass die Stadt in Kürze für Hunderttausende zur Falle werden würde. Etwa gegen ein Uhr, sagte Ramisi, werde der Planet Saturn in dieser Nacht am Himmel erscheinen. Einer der prachtvollsten Planeten, und doch für ihn im Sternenhimmel so schwer zu finden.

Behutsam hob Ramisi das Spiegelteleskop auf das Stativ, beugte sich zum Okular hinunter und suchte die Nachtschwärze nach Lichtpunkten ab. „Geduld“, sagte er, der eigentlich so ungeduldig ist, und setzte sich in einen alten Campingstuhl. Ab und an hallten Schüsse der Sicherheitskräfte zu ihm hinauf, die auf der Straßenkreuzung vor Ramisis Haus Fahrzeuge anhielten, sie mit Schüssen in die Luft zum Stoppen brachten, um sie zu durchsuchen.

Es ist noch keine drei Jahre her, da lebte Ramisi im Haus seiner Familie wie ein Gefangener. Ein überbehütetes Kind, wie er selbst sagt. Nie durfte er das Haus allein verlassen. Den Vater, einen islamischen Rechtsgelehrten, Berater bei den Vereinten Nationen, trieb fortwährend die Sorge um, dass sein Sohn auf der Straße entführt werden könnte. Während sich seine Freunde nach dem Unterricht in Cafés trafen, in Parks, verbrachte er seine Kindheit und Jugend hinter den Mauern seines Elternhauses. Das eiserne Schiebegitter, mit dem die Haustür gegen Eindringlinge verriegelt wurde, bedeutete für ihn das Ende seiner Welt – bis ihm ein Teleskop half, auszubrechen. Mit seinem ersten Fernrohr konnte Ramisi den Mond von Nahem studieren, mit dem zweiten entdeckte er Details der Kraterlandschaft. Mit dem dritten bekam er die weißen Polkappen des Mars zu sehen, das vierte zeigte ihm auch die Venus, die, wie er sagt, wie ein Zwilling der Erde aussehe. Jedes neue Teleskop führte ihn tiefer ins Universum, aber auch, zum Unglück des Vaters, tiefer ins Zweifeln.

Der hatte die Idee mit dem Teleskop gehabt, als Antwort auf die ewigen Klagen des Sohnes, nicht aus dem Haus zu können. Eine sichere Alternative zu dem Leben da draußen. Jetzt war er nicht immer glücklich. Häufig saßen die beiden auf dem Teppich ihrer Wohnung zusammen, und der Sohn versuchte den Vater von der Nichtexistenz Gottes zu überzeugen. Denn den sehe er nicht in den Sternen. „Mansur, Mansur“, sagte der Vater abwehrend. „Die Wissenschaft kann dir nicht alle Geheimnisse des Lebens enthüllen.“

Ahmad Mansur Ramisi ist noch sehr jung, keine 21 Jahre alt, im Gesicht ähnelt er mehr einem Jungen als einem Mann, trotz leichten Bartwuchses. Er hat aber bereits seinen eigenen YouTube-Kanal, den er „Astro Maniac“ nennt, Astro-Verrückter. Er ist Mitglied der Afghanistan Astronomy Association, kurz AAA, und war Mittelpunkt einer interessierten Studentenrunde aus einem Dutzend Söhnen und Töchtern wohlhabender Eltern. Sie trafen sich in Kabuls Innenstadt im Nosh Book Cafe, vor der Machtübernahme der Taliban einer der wenigen Rückzugsorte für Künstler und Literaten. Dort saßen sie im Garten, tranken Fruchtsäfte und diskutierten die Stringtheorie, nach der unser Universum nur eines von einer Vielzahl von Paralleluniversen ist.

Für Ramisi war früh klar, dass er das Land eines Tages verlassen würde. Er will seit Langem Astrophysiker werden, doch das Fach ließ sich schon vor den Taliban in ganz Afghanistan nicht studieren. Es gibt kein astronomisches Institut, und in der staatlichen Akademie der Wissenschaft, die die alte Regierung beraten sollte, umfasste die Poetik-Abteilung 25 Mitarbeiter, während die für Physik einfach geschlossen worden war. Das einzige Teleskop, das sich in staatlichem Besitz befunden haben soll, war in den Arsenalen des Vermessungsamts verschollen.

Am Ende dieser Nacht, als er mit uns den Saturn und dessen Ringe betrachtete, fuhr er, begleitet von seiner Familie, zum Flughafen, posierte dort noch kurz für ein Erinnerungsfoto und verschwand dann mit seinem Rollkoffer in das Flughafengebäude.

Jetzt, in den letzten Novembertagen, wartet er mit seiner Familie in einer Wohnung in Ankara und hofft, bald weiterreisen zu können, mit einem Visum für die USA oder Kanada. Fünf Monate nachdem er Afghanistan verlassen hat, ist Ramisi immer noch nicht angekommen.

Die Vergangenheit

Es gab eine Zeit, lange vor den Bürgerkriegen und den Taliban, da führte Afghanistan in der Weltraumforschung. Das Land des Staubes, das Land der Gotteskrieger, ist dem All so nahe wie nur wenige andere Regionen der Welt. Afghanistan reckt sich ihm geradezu entgegen, mit Tausenden Gipfeln, bis auf 7500 Meter; in Höhen also, wo sich die Lufthülle der Erde allmählich auflöst. In manchen Gegenden am Hindukusch wölbt sich das Land so machtvoll auf, so schroff und verwegen, als wolle sich die Erdkruste vom Planeten lösen.

Afghanistans Geschichte ist reich an Pionieren der Astronomie. Der Sternenkundler Albumasar, geboren im 8. Jahrhundert im Norden des Landes, war einer der Vordenker seines Faches. Abu Raihan al-Biruni, Hofastronom des Königs, gelang es im 11. Jahrhundert als Erstem, den Radius der Erdkugel präzise zu berechnen. Noch im 15. Jahrhundert ließ der afghanische Herrscher Ulugh Beg das damals weltweit modernste Observatorium errichten. Mithilfe eines 30 Meter großen Sextanten kartografierte er 1018 Sterne, so viel wie kein Mensch vor ihm. Ulugh Begs Sternenatlas, dessen Übersetzungen über Istanbul bald ihren Weg nach Westeuropa fanden, wurde für 200 Jahre weltweit das Standardwerk der Sternenkunde.

Der Mystiker

Die Seele jedes Menschen, sagt der Fernsehtechniker Mohammed Morawedschsada, sei unlösbar verbunden mit einem Stern. Das glauben von alters her die Menschen in Bamian, Heimat des Volkes der Hasara, Heimat von Morawedschsada. „Als Kind musst du deinen Stern finden.“ Lange hatte er ihn gesucht, bis ihn seine Eltern mit acht Jahren in das Tal der 1000 Quellen führten. Dort, so glaubten sie, zeige sich der Seele ihr Stern, wenn sich der Himmel bei klarer Nacht im Wasser der Quellen spiegele. Unter allen Lichtern fiel ihm eines besonders auf, das mit raschem Tempo eine gerade Bahn zog. Sein Stern, dachte er. Erst viele Jahre später begriff er, dass er sich einen von Menschen gemachten Satelliten ausgesucht hatte. Er lacht, wenn er diese Geschichte erzählt.

Der Fernsehtechniker Morawedschsada, der immer noch in Kabul lebt, ist der Älteste unter Afghanistans Astronomen, obgleich er erst 44 ist. Präsident der Afghanistan Astronomy Association. Unten, im Keller seines Hauses, hatte Morawedschsada einen Raum zum halben Planetarium umdekoriert. Hier standen seine Teleskope, Kameras, Fachbücher, sorgsam verborgen vor den Blicken der Nachbarn. Inzwischen hat er die Teleskope woanders versteckt, an einem Ort außerhalb des Hauses.

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