Der lange Abschied eines Präsidenten.

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USA, Georgia

Am Morgen, der einer langen und stickigen Nacht nachfolgt, die die meisten Schaulustigen schlaflos auf dem Parkplatz verbrachten, in ihren Autos, auf ihren Klappstühlen, als die Geduldigen eingelassen und die Zuspätgekommenen vor der Tür abgewiesen wurden, betritt er mit unsicherem Gang die Kirche. Das Haar dünn wie Gespinst mittlerweile, so schlohweiß, dass es fast durchsichtig ist. Den Rücken tief gebeugt. Ruckartig schiebt er sich voran. Er hält nach einigen Schritten inne, um sich dann wieder in Bewegung zu setzen. Er hebt zur Begrüßung die Hand und dreht seinen Kopf zur Menge hin. Seine Augen, einst strahlend blau, sind im hohen Alter milchig geworden. Er lächelt das breite Lächeln, an dem man ihn jahrzehntelang erkannte und mit dem er einst die Nation für sich gewann. Die Menge aus über 400 Gottesdienstbesuchern würde an dieser Stelle applaudieren, doch das hat man ihnen zuvor untersagt. Der Präsident hasst es, wenn man ihm in der Kirche Beifall klatscht.

„Guten Morgen“, sagt er.

„Guten Morgen“, ruft die Menge artig zurück.

Jimmy Carter, US-Präsident von 1977 bis 1981, den alle hier immer noch „Mr. President“ nennen und der am 1. Oktober 95 Jahre alt wird, geht zu seinem Platz auf der Kirchenbank. Die Hand seiner Frau Rosalynn fest in der seinen. Sie wird demnächst 92 Jahre alt. Stöhnend, aus etwas zu großer Höhe, lässt er sich krachend ins Gestühl fallen. Ein Morgen im August, im US-Bundesstaat Georgia, in Plains, einem kleinen Dorf im armen Süden. Kein Präsident in der Geschichte der USA ist je so alt geworden. Die Carters sitzen in der ersten Reihe, vorm Altar ganz rechts in der Kirche, wo die Plätze den Gemeindemitgliedern der Maranatha Baptist Church vorbehalten sind. Beide Carters sind als Baptisten sogenannte Wiedergeborene, sie gehören zu der wichtigsten protestantischen Glaubensbewegung in den USA.

Jimmy und Rosalynn Carter wurden in Plains geboren, schon ihre Eltern stammten aus Plains und deren Eltern davor. Nachdem er im Wahlkampf 1980 von Ronald Reagan geschlagen wurde, beschlossen sie, aus dem Weißen Haus hierher zurückzuziehen, in die tiefe Provinz, in den 776-Einwohner-Ort Plains.

Der 39. Präsident der Vereinigten Staaten und seine Frau zogen in ihr altes Haus, das sie 1961 gebaut hatten, als er noch Erdnussfarmer war. Ein Haus, wie es viele Landwirte hier in der Gegend haben. Gutachter haben es vor wenigen Jahren im Auftrag der US-Regierung auf 167.000 Dollar geschätzt, das ist weniger, als eines der gepanzerten Fahrzeuge des Secret Service kostet, die zur Bewachung der Carters abgestellt sind. Er ist der letzte lebende Bewohner des Weißen Hauses, der mit dem Glanz seines früheren Amtes nicht Millionen zu scheffeln versuchte. So wie es etwa Bill Clinton oder Barack Obama taten, die für ihre Vorträge jeweils mehrere Hunderttausend Dollar verlangen. Jimmy Carter hält seine Reden umsonst, in einer Dorfkirche. Sie ist nicht viel mehr als ein nüchterner Zweckbau. Roter Backstein. Sechs Fenster zu jeder Seite, gekrönt von einem weißen Dachreiter. Links wird die Kirche durch ein Baumwollfeld begrenzt, rechts durch einen verwahrlosten Trailerpark. Jeden zweiten Sonntag gibt der Altpräsident hier eine Stunde lang Bibelunterricht. Ohne politisches Kalkül. Und bis vor wenigen Jahren hatte der präsidiale Gottesdienst nur wenige Gäste interessiert.

Carter war mit zunehmendem Alter in Vergessenheit geraten. Ein Greis wie aus einer anderen Zeit, ein spaßfreier Baptist, Autor zahlreicher Titel von Erbauungsliteratur. Für viele eine Witzfigur. Unter politischen Beobachtern galt dieser Präsident der Demokratischen Partei als gescheitert. Seine Amtszeit war geprägt von der Energiekrise der Siebzigerjahre, von Schlangen vor den Tankstellen, von dem fehlgeschlagenen Versuch, 1980 mit einem Kommandounternehmen amerikanische Geiseln aus der US-Botschaft in Teheran zu befreien. Carter war ein Außenseiter im Weißen Haus, der nie die Kontrolle über die Verwaltung gewann.

Doch dann wurde 2016 der Milliardär Donald Trump ins Weiße Haus gewählt. Seither pilgern wieder Menschen nach Plains. Sie entdecken einen anderen Carter, einen, der schon 1976 forderte, erneuerbare Energien auszubauen, der Frieden stiftete zwischen den Erzfeinden Ägypten und Israel. Der massiv für Minderheitenrechte eintrat, früh die Gleichberechtigung von Frauen förderte, den Umweltschutz. Der in seiner Amtszeit als einziger Präsident der neueren Geschichte keinen Krieg führte. Der Prophet von Plains. Nie war die Kirche so voll. In ihm sehen sie, was sie in der Person des Amtsinhabers Donald Trump so sehr vermissen: einen guten Menschen.

Fotografie: Irina Rozovsky
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