„Wir haben keine Angst!“, rufen sie. Fünfzig bis sechzig Männer, Frauen und Kinder ziehen an diesem Abend in Plastiksandalen durch die sandbedeckten Gassen ihres Viertels. Eine kleine Prozession in fast völliger Dunkelheit. Nur an den Stimmen erkennen sie einander. „Wir haben keine Angst!“, rufen sie wieder, als könnten Worte allein ihnen die Angst nehmen.
Das Viertel heißt Burri-Korea, ein Arbeiterquartier im Süden der sudanesischen Hauptstadt Khartum, in dem die Straßen kaum beleuchtet sind.
„Wir haben keine Angst!“, ruft Ali Abu Ras, 25, ein arbeitsloser Innenarchitekt, groß und muskulös, den die Angst lange zögern ließ, sich dem Protest anzuschließen. „Wir haben keine Angst!“, ruft auch Mohammed Oscheik, 22, der neben Abu Ras geht. In Wahrheit, gesteht er später, lässt die Angst seinen Bauch krampfen. Mohammed Oscheik, zartgliedrig, lockiges Haar, runde Brille, hat Buchhaltung studiert, bis im vergangenen Dezember die Unruhen ausbrachen.
Alle, die in diesem Zug marschieren, haben an diesem Abend Ende April eine Entscheidung getroffen, die sie für Jahre ins Gefängnis bringen kann. Der Busfahrer, die Maurer, die Ingenieure, die Studentinnen und Hausfrauen – sie alle haben beschlossen, heute die Herrschaft in ihrem Viertel zu übernehmen. Ziel ihres Marsches ist ein schmuckloses Gebäude an der Hauptstraße mit zwei Büroräumen und einem betonierten Hof – der Social Club. Das Gemeindezentrum wurde einst von nordkoreanischen Entwicklungshelfern gebaut, daher der Name des Viertels: „Burri-Korea“. Die Marschierer wollen den Social Club erstürmen, unbewaffnet, nur mit der Kraft ihrer Wut. Dreißig Jahre lang war der Club der Sitz des Volkskomitees, der untersten Verwaltungseinheit der Diktatur, mit der Omar al-Baschir seit 1989 über den Sudan herrschte. „Wir holen uns, was uns gehört!“, ruft Abu Ras, als die Kolonne die Außenmauer des Social Club erreicht. Dann drücken sie ihre Leiber durch die Tür, die Frauen voraus, die Kinder hinterher, schieben den Wächter zur Seite. Sie jubeln, singen, stürmen hinein. Junge Männer klettern auf die Mauerkrone und entrollen die Nationalflagge. „Tasgot bass!“, rufen sie in den Hof hinunter. „Wir stürzen euch!“
Fast alle Revolutionen seit dem Arabischen Frühling 2011 sind entsetzlich gescheitert. Die Demokratiebewegung in Ägypten mündete in eine Militärdiktatur, noch schlimmer als die vorangegangene Herrschaft Hosni Mubaraks. Der Aufstand gegen Muammar al-Gaddafi führte Libyen in einen bis heute anhaltenden Bürgerkrieg. Genau wie die Rebellion gegen Ali Abdullah Salih im Jemen. Der Versuch vieler Syrer, sich der Herrschaft Baschar al-Assads zu entledigen, brachte das Land an den Rand der Auslöschung. Jetzt der Sudan, dieser zerrüttete afrikanische Staat. Ein Land, von dem niemand annahm, es habe eine Chance auf Demokratie.
Fotografie: Andy Spyra