Jussuf und sein alter Panzer.

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Libyen

Für einen kurzen Moment blitzt der Lack des Kleinwagens auf der Küstenstraße auf, ein metallisches Blau. „Nissan!“, ruft ein Späher, der mit einem Fernglas über den Kamm des großen Sandwalls schaut. Reglos liegt er auf dem Wall, der die Front zwischen den „Löwen des Tals“ und dem „Islamischen Staat“ markiert, unter seinem Bauch eine alte Matratze. „Nissan!“, ruft ein zweiter Späher. In gebückter Haltung rennen jetzt Männer den Sandwall entlang, laufen zu ihren Stellungen. Sie tragen Flipflops und automatische Gewehre.

„Uns bleibt noch eine Minute!“, ruft der Späher, der das blaue Auto zuerst entdeckt hat, in 500, vielleicht 600 Meter Entfernung. Aber auf einmal sieht er das Fahrzeug nicht mehr, weil es in einer Kuhle verschwunden ist, die Sonne steht ungünstig, blendet die Kämpfer. Trotzdem beginnen sie zu feuern, aus allen Rohren, auf den Abschnitt der Küstenstraße, wo eben noch der blaue Lack aufgeblitzt ist.

Links der Straße brandet das Mittelmeer, direkt rechts von ihr beginnt die Stadt Sirte, Libyen. Der Ort ist seit einem Jahr in der Hand des „Islamischen Staates“, der hier seine erste Kolonie außerhalb von Syrien und dem Irak gegründet hat. In Sirte, nur eine Flugstunde von Italien entfernt, ist er Europa so nah wie nirgends sonst.

Das Schicksal Libyens hat sich schon oft in dieser Stadt entschieden. Sirte war die Modellmetropole Muammar al-Gaddafis, Projektionsfläche seines Größenwahns. Keinen anderen Ort hat der Diktator so geprägt. Er baute der Stadt vierspurige Paradeachsen und Libyens größte Versammlungshalle. Sirte besitzt gigantische Anlagen zum Empfang von Staatsgästen. Gaddafi wollte die Kleinstadt, in der 80 000 Menschen leben, zur Hauptstadt der „Vereinigten Staaten Afrikas“ wachsen lassen. Es war ein Vorort von Sirte, in dem er zur Welt kam, und es war Sirte, wo er sich 2011 verschanzte und von Rebellen getötet wurde.

Jetzt ist es abermals Sirte, das so bitter umkämpft ist. Es sind dieselben Straßen und Plätze, auf denen getötet und gestorben wird. Doch dieses Mal richtet sich der Kampf nicht gegen Gaddafi, sondern gegen den „Islamischen Staat“. Libyen hat er zu seiner Provinz erklärt, und Sirte zu deren Hauptstadt. Dieses Mal geht es nicht allein um die Zukunft Libyens, sondern auch um die Europas.

Fotografie: Stanislav Krupař
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