Der große Niedergang.

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Russland

Die Überwachungskamera 12/H schwenkt von links nach rechts, langsam, gleichmäßig, dann bleibt sie stehen. Sie zeigt in Großaufnahme frisch verrutschte Erde. Mit einem Ruck setzt sich die Kamera wieder in Bewegung, schwenkt zurück. Ein Ziegelstein gerät ins Blickfeld, dann ein kleiner Baum. „Wo kommt der Baum jetzt her?“, fragt Witalina Kataewa am Kontrollmonitor. Ihre Stimme klingt alarmiert. „Der war schon da“, sagt die Kollegin, die neben ihr sitzt. „Der ist heute Nacht weiter nach unten gerutscht.“ – „Kleines Bäumchen, du“, witzelt Kataewa. „Gibt’s noch einen Tee?“, fragt sie ihre Kollegin. Die beiden Frauen sitzen in der Überwachungszentrale von Beresniki, einer Großstadt 1.200 Kilometer östlich von Moskau, Provinz Perm.

Beresniki unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht sonderlich von anderen russischen Provinzstädten. Grau liegt der Ort in den grünen Wäldern des Ural, die meisten Häuser sind Plattenbauten. Hier leben 140.000 Einwohner auf 55 Quadratkilometern. An den Rändern der Stadt ragen die Schlote der ehemaligen Kombinate auf. Sie wurden privatisiert, doch der gelbe und weiße Rauch ist geblieben. Beresniki besitzt eine Straßenbahn, die von misslaunigen Schaffnerinnen gefahren wird. Wie überall in Russland wurden auch hier in den letzten Jahren wuchtige Shoppingzentren gebaut. Putin, der Krieg in der Ukraine, alles, was die Welt bewegt, scheint hier weit weg. Und doch hat es Beresniki zu weltweiter Berühmtheit gebracht. Auf internationalen Kongressen diskutieren Geologen über Beresniki. Die Stadt versinkt. Sie steht auf den Stollen einer Kalisalzmine, die nach einem Wassereinbruch langsam in sich zusammenfällt. Mitten im Stadtgebiet tun sich riesige Krater auf. Die Bewohner leben in der ständigen Angst, von der Erde verschlungen zu werden.

Emergency center monitoring sinkholes

Andrej Chorow steht nackt auf der Straße. Er ist verwirrt. Vor sich erkennt er das Haus, in dem er lebt. Er will darauf zulaufen, doch plötzlich beginnt das Gebäude zu kippen. Unter Andrejs Füßen formt sich ein Trichter, dessen Ränder immer steiler werden. Er beginnt zu rennen, langsam erst, schneller dann. Er rennt, doch er kommt nicht voran. Sein Herz rast. Die Häuser beginnen einzustürzen. Die Welt um ihn herum zerfällt, und bevor die Erde den Unternehmer Andrej Chorow in die ewige Finsternis mitreißt – wacht er auf. „Dieser schlimme Traum“, sagt er am nächsten Tag müde. „Immer wieder dieser Traum.“ Er bläst in den Schaum seines Cappuccinos, seine Frau Irina sitzt neben ihm und blättert in einem Einrichtungskatalog. „Nur ein Traum“, sagt sie. Andrej schweigt. Schlimmer als der Traum, der immer endet, bevor er stirbt, ist in diesem Haus das Erwachen.

Das Haus der Chorows gehört zu der letzten Häuserzeile vor der „Zone“. „Die Zone bewegt sich schneller als früher“, sagt Andrej zu seiner Frau. „Meinst du?“ Sie blickt von ihrem Katalog auf. „Ich glaube, es hat wieder begonnen“, sagt er. Vor ihren Fenstern erstreckt sich menschenleeres Land. Seit einigen Monaten wellt es sich. Einige der Garagenreihen, die darauf gebaut sind, haben sich gehoben, andere senken sich. Ein Verwaltungsgebäude ist in der Mitte auseinandergebrochen. Laternenmasten stehen schief. „Wir müssen hier weg“, sagt Andrej zu seiner Frau.

Fotografie: Alexander Gronsky
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