Der verlorene Sohn.

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USA

Am Ende dieser Geschichte, die mit über den Ausgang der US-Wahlen entscheiden könnte, betreten Khizr und Ghazala Khan die Bühne einer großen Sportarena in Philadelphia. Brennendes Scheinwerferlicht legt sich auf ihre Gesichter. Eine Stunde lang wurde das Paar von Technikern in einem Probenraum an das grelle Licht gewöhnt. Er, 66 Jahre alt, ist groß und hager, trägt einen schwarzen Anzug, streicht mit seiner Hand kurz über ihren Rücken. Sie, kleiner als er, zu ihm hochschauend, die Hände gefaltet, das Gesicht zu einer Maske verspannt. Sie kämpft dagegen an, dass ihr der Kreislauf wegsackt. Es ist der 28. Juli 2016. Er, Khizr Khan, wird reden, weil sie es vor Aufregung nicht kann. Drei Minuten wurden ihnen gegeben. Kurz nach ihm soll Hillary Clinton sprechen. Es soll die wichtigste Rede in Clintons bisheriger Karriere werden. In der Sporthalle drängeln sich Tausende Delegierte der Demokratischen Partei, um sie zur Präsidentschaftskandidatin zu küren. Doch nach diesem Abend in Philadelphia wird kaum jemand mehr wissen, was sie gesagt hat. Und fast jeder in den USA wird sich an die Worte des bisher unbekannten Khizr Khan erinnern.

Hinter den Khans füllt das Porträt ihres toten Sohnes Humayun den riesigen Saalbildschirm. Ein junger Mann in Uniform.

Donald Trump hat geschworen, uns Muslime aus diesem Land zu verbannen“, sagt Khizr Khan. „Donald Trump, darf ich Sie fragen: Haben Sie jemals die Verfassung der Vereinigten Staaten gelesen? Ich werde Ihnen gerne mein Exemplar leihen.“ Khan holt eine schmale Broschüre aus seiner Jacketttasche und hält sie in die Höhe. Eine Drehung mit dem Handgelenk, die er zuvor lange geübt hat. „Suchen Sie in diesem Dokument nach den Wörtern (aufbrandender Applaus), suchen Sie nach den Wörtern ‚Freiheit‘ und ‚Gleichbehandlung‘! Waren Sie jemals auf dem Friedhof in Arlington? Gehen Sie hin, und schauen Sie auf die Gräber der tapferen Patrioten, die bei der Verteidigung Amerikas gestorben sind – Sie werden dort alle Religionen, Geschlechter und Ethnien finden. Sie (Trump) haben nichts und niemanden geopfert.“

Khans Rede endet nach sechs Minuten und einer Sekunde, sie wurde in den vergangenen Wochen von Sprachwissenschaftlern in allen Details untersucht und vermessen. Sie lässt die Umfragewerte von Trump, der die Khans gleich am nächsten Morgen in TV-Interviews angreift, um drei Prozentpunkte einbrechen. Viele Republikaner distanzieren sich nun von ihm, Veteranen, Soldatenverbände; Amerika, das in diesem Wahlkampf so unversöhnlich auseinandergetrieben worden ist, scheint noch einmal – zumindest für diesen Moment – zurück zu seiner alten Mitte zu finden, dank den Khans.

Die Geschichte der Khans, die dazu führen könnte, dass der Welt Donald Trump als US-Präsident erspart bleibt, kann man aus vielen Perspektiven erzählen. Sie beginnt in der Großstadt Lahore, Pakistan, in einem Seminarraum, in dem die 21-jährige Ghazala im April 1972 als Tutorin auf die Teilnehmer eines Kurses für persische Literatur wartet. Sie setzt sich im oberpfälzischen Amberg fort, wo die 22-jährige Irene Auer im Mai 2002 mit einer Freundin auf dem Marktplatz sitzt und sich nichts mehr von dem Abend verspricht. Und sie beginnt noch einmal neu im irakischen Dijala, als am 8. Juni 2004 kurz vor sieben Uhr morgens ein orange-weißes Taxi auf das Haupttor des US-Camps Warhorse zurast.

Das Haus, das die Khans jetzt im Bundesstaat Virginia bewohnen, ist das vorläufig letzte von so vielen. Es liegt einsam an einem Berghang, gesäumt von altem Wald. In der Auffahrt steht Khizr Khan, im dunklen Jackett, den Blick auf sein iPhone gerichtet, und wartet auf den Besuch aus Deutschland. Er gibt nur noch selten Interviews. Sie müssten zur Ruhe kommen, sagt er. Hunderte Anfragen und viele Tausend E-Mails haben die Khans erreicht, darunter auch Drohungen. Sie werden von Rechten bezichtigt, Agenten der radikalen Muslimbrüder zu sein. Clinton habe ihm 375.000 Dollar für die Rede gezahlt. Er und seine Söhne betrieben in ihrem Haus einen Sexclub.

Fotografie: Matt Eich
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