Einer muss rein.

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Hamburg

Die letzten Meter, so hat er beschlossen, geht er zu Fuß. Einen Fuß vor den anderen setzt er auf den grobkörnigen Asphalt. Das Einfachste der Welt, doch heute kommt er immer wieder aus dem Tritt, stockt, strauchelt fast, als hätten es seine Beine plötzlich vergessen: die ewig gleiche Abfolge des Laufens.

In der rechten Hand hält er einen Gitarrenkoffer, an der linken den dreijährigen Sohn. „Papa“, fragt der, „wohin gehen wir?“

Nur 500 Meter ist Georg Langenbeck vorangekommen, seit sie vor einer Viertelstunde aus der S-Bahn stiegen. Knapp vier Kilometer hat er noch vor sich. Er setzt den Gitarrenkoffer ab, hockt sich auf den Grünstreifen. Schließt die Augen. Ein großer, hagerer Mann auf einer langen Seitenstraße im Osten Hamburgs. Die grau werdenden Haare zu einem Zopf gebändigt, die Wangen ausgemergelt. Wie ein Rockmusiker aus den siebziger Jahren wirkt Georg Langenbeck, wie einer, dessen Ruhm schon lange verblasst ist. Langenbeck zwingt sich wieder auf die Beine. Schweiß rinnt ihm in den Nacken. Er sammelt sich für einen Moment. In einigem Abstand folgt ihm seine Frau Katja, die einen Kinderwagen schiebt. Darin liegt Felix, zwölf Monate alt.

Langenbeck setzt neu an, bewegt erst das eine Bein, dann das andere. Er zittert. „Scheiße“, sagt er, „ich schaff das nicht.“

Das Ende dieses Weges markiert das Ende seines Lebens, wie es bisher war. Georg Langenbeck* muss für sechs Jahre ins Gefängnis. In die Justizvollzugsanstalt Billwerder. In der Kunstledertasche unten im Kinderwagen steckt die „Ladung zum Strafantritt“. Die Frist, sich selbst zu stellen, endet an diesem Tag im Spätherbst 2014, ein Montag, 17 Uhr. Die Rolex an Langenbecks Handgelenk zeigt: 16.45 Uhr.

Die Freiheitsstrafe ist die härteste aller Strafen, die dem Staat in Deutschland zur Verfügung steht. Das Gefängnis ist das Regulativ unserer Gesellschaft. Seine Abschaffung gilt als Utopie. Das wichtigste Prinzip des Gefängnisses ist die Isolation. Es nimmt dem Gefangenen das Außen, denn er soll sich auf das Innen konzentrieren. Verbrechen und Sühne, Fehler und Korrektur. Das Gefängnis löste Schmerz und Verstümmelung als davor gängige Bestrafungsmethoden ab. Das Gefängnis der Moderne, das im Industriezeitalter erfunden und seither immer weiterentwickelt wurde, ist ein ausgetüfteltes System zur Verabreichung von Strafe.

Der Staat schlägt dem Verurteilten nicht mehr die Glieder ab, er raubt ihm die Zeit. Die Jahre, die Monate, die Tage. Das Räderwerk der Haftanstalt misst bis auf die Stunde genau. Den Menschen, den der Staat nicht mehr kontrollieren konnte, zwingt der Staat in seine Kontrolle zurück. In der Haft hat er fast völlige Verfügungsgewalt über ihn. Er entscheidet, wann der Gefangene aufsteht, was er anziehen, wie oft er sich duschen darf, was und wann er isst. Der Staat zerlegt im Gefängnis die Zeit des Insassen in kleine und kleinste Einheiten und bestimmt exakt, was innerhalb dieser Zeiteinheiten passiert. Das Gefängnis ist eine Machtdemonstration. Mit ihm entledigt sich die Gesellschaft derer, die ihr schaden. Es schützt die Welt draußen vor der Welt drinnen.

Ein Gefängnis ist keine Besserungsanstalt, es bessert nicht. Das gestehen die meisten Experten ein. Trotzdem hält die Gesellschaft an ihm fest – weil ihr nichts Besseres einfällt.

Zehn Monate bevor Georg Langenbeck den Gang ins Gefängnis antritt, sitzt er zu Hause beim Frühstück. „Sollen wir abhauen?“ Katja bleibt stumm. Langenbeck pellt das gekochte Ei, sie schmiert das Brötchen.

Fotografie: Kathrin Sprik
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