Die geraubten Mädchen.

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Nigeria

Der Wald, der zum Schrecken eines modernen Staates wurde, ist lichtlos und fast undurchdringlich. Wer in ihn hineingerät, glauben viele in Nigeria, finde nie wieder heraus. Es heißt, ein Fluch aus der Vorzeit liege auf ihm. Der Sambisa-Wald ist der Letzte seiner Art. Er ist so alt, dass sich niemand an die Bedeutung seines Namens erinnern kann. Von all den großen Wäldern im Nordosten Nigerias ist nur noch er geblieben. Seine Bäume haben nichts Erhabenes. Sie sind nur wenige Meter hoch, knorrig und miteinander verwachsen. Das Dickicht ist voller Dornen, schärfer als Krallen. Die Wipfel der Bäume sperren den Himmel aus, selten schafft es die Sonne bis auf den Grund. Mächtige Flüsse aus den Mandara-Bergen strömen nicht ins Meer, sondern enden in den Sümpfen des Sambisa. Er bedeckt ein Gebiet, das größer ist als Belgien. In diesem Wald gibt es viele Raubtiere. Das gefährlichste unter ihnen aber ist der Mensch. Genauer: der Mann.

TALATU*, 14 Jahre: Alle nennen mich Talatu („die am Dienstag Geborene“), weil ich die Erstgeborene bin. Bei uns spricht man Erstgeborene aus Respekt nicht mit ihrem echten Namen an. Bevor die Männer mich in den Wald geschleppt haben, bin ich in die neunte Klasse der Secondary School in Duhu gegangen. Mein Lieblingsfach ist Mathematik. Ich mag Mathe, weil es logisch ist. Wenn du einmal verstanden hast, was die Logik einer mathematischen Regel ist, löst du alle Aufgaben ganz einfach und schnell.

Verborgen in den Sümpfen des Waldes liegt das Hauptquartier einer Terrorgruppe, die in ihrer Grausamkeit fast beispiellos ist. Sie ist so modern wie archaisch. Die Welt nennt sie Boko Haram („Westliche Bildung ist Sünde“), denn ihre Anhänger lehnen alles Westliche ab. Sie selbst gab sich den Namen „Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati wal-Jihad“, „Vereinigung der Sunniten für die Verbreitung des Islams und des Dschihad“. Sie kämpft für die Gründung eines Kalifats in Nigeria und kooperiert mit Al-Kaida in Mali und Algerien. Anfang März hat sie dem „Islamischen Staat“ im Mittleren Osten die Treue geschworen. In nur vier Jahren konnte sie ein Fünftel Nigerias besetzen. Aus einer Terrorzelle, die gelegentlich Polizeiposten und Kirchen überfiel, wurde eine schlagkräftige Armee mit etwa 15.000 Bewaffneten. Sie unterjocht die Muslime und führt Krieg gegen die Christen. Im Namen ihres „wahren Glaubens“ brandschatzt sie und zwingt ganze Dörfer in die Sklaverei. Eine Million Menschen sind auf der Flucht. Nach Angaben der Regierung starben bislang 20.000 Menschen. Und das sind nur die gezählten Toten. Die meisten Opfer in diesem Konflikt bleiben ungezählt.

SADIYA, 31 Jahre, Mutter von Talatu: Du kommst in den Wald, und es wird dunkel. So dunkel, dass du vergisst, dass es Tag ist. Sie haben uns beide in den Wald gebracht. Der Fahrer des Lastwagens musste das Licht einschalten, weil es dort so dunkel wurde.

Die Brutalität von Boko Haram machte international Schlagzeilen, als ein Kommando in der Nacht vom 14. auf den 15. April vorigen Jahres 276 Schülerinnen aus einem Internat in Chibok entführte. Die Islamisten zwangen sie auf Lastwagen und fuhren sie in den Wald, aus dem sie bis heute nicht entkamen.Bring back our girls„, forderten weltweit viele Prominente, darunter die US-Präsidentengattin Michelle Obama. Tausende Frauen und Mädchen werden mittlerweile in der Gefangenschaft Boko Harams vermutet. Die meisten davon sollen im Sambisa und in seinen Sümpfen festgehalten werden. Europäische und afrikanische Staatschefs hielten Krisengipfel zur Rettung der Mädchen und Frauen ab. Angela Merkel sagte die Unterstützung einer westafrikanischen Einsatztruppe zu. Doch der Schock hielt nicht lange an. Zu weit entfernt ist der Nordosten Nigerias von den Machtzentren der Welt.

Für diese Reportage haben wir, der Autor und sein Übersetzer, mit einem Dutzend Mädchen und Frauen gesprochen, denen die Flucht aus dem Sambisa gelang. Ihre Berichte dokumentieren unfassbare Verbrechen und geben Einblick in das Innenleben einer Terrororganisation, über die wenig bekannt ist.

Fotografie: Andy Spyra
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