„Ich kann ihn mir nicht mehr vorstellen“, sagt Sabirullah Hajat. „Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht mehr, was für ein Mensch mein Bruder ist.“
„Ist er immer noch so ein Arschloch? Früher war er ein bisschen ein Arschloch“, sagt Gulwali Hajat. „Er war alles und ich nichts. Er wollte immer etwas Besseres sein.“
Der eine ist um eine Kopflänge größer als der andere. Der eine trägt seine Haare schulterlang. Der andere schneidet sie kurz. Der eine wirkt ernst, hart sogar, aber oft schimmert der Schalk bei ihm durch. Der andere wirkt meist beschwingt, lacht viel und kann plötzlich unerbittlich sein. Vier Jahre trennen sie: Der eine ist circa 28, der andere circa 24.
Beide sind sie von derselben Mutter geboren, beide vom selben Vater gezeugt.
Zwei Männer. Zwei Afghanen. Zwei Brüder. Sie haben Entscheidungen getroffen, die unterschiedlicher kaum sein können. Der eine ging in den Untergrund, wählte den Kampf und schloss sich den Taliban an. Mittlerweile ist er befördert worden, zum Kommandeur einer kleinen Einheit. Der andere, der Waffen stets hasste, entschied sich, zu gehen und alles, was er bis dahin kannte, hinter sich zu lassen. Die Suche nach dem Glück führte ihn in die Fremde, nach Deutschland, wo man Schwein isst, die Frauen so wie die Männer leben und man nie lernen wird, seinen Namen auszusprechen.
Beide Brüder kennt der Reporter des ZEITmagazins seit zwei Jahren. Für diese Reportage haben wir sie über insgesamt vier Wochen begleitet. Zuerst Sabirullah in Afghanistan, dann Gulwali im Wendland. Ihre Geschichte kann in unzähligen Variationen von Hunderttausenden Menschen erzählt werden – überall auf dem Planeten werden jeden Tag Familien entzweigerissen, geografisch wie weltanschaulich. In vielen Ländern stellen sich ganze Generationen die immer gleiche Frage, in Afghanistan, in Venezuela, auf der Suche nach dem Glück:
Gehen oder bleiben?
Lehrgangsnummer: TM1-3/23. Truppmann-Ausbildung Teil 1, der Lehrsaal der Freiwilligen Feuerwehr Lüchow-Dannenberg. „Leute“, verkündet Kreisausbildungsleiter Frank Kronau, ein stämmiger, gut gelaunter Niedersachse, „heute wird es etwas anstrengend.“ Er steht mit in die Hüfte gestemmten Armen vor 34 Kursteilnehmern. Es ist acht Uhr früh, ein Samstag im September. „Wir schaffen das schon.“
Gulwali Hajat sitzt in der ersten Reihe. Den Blick hat er starr auf Kronau gerichtet. Wenn die anderen lachen, lacht er einen kurzen Moment später. Fast ist es, als versuche er, dem Ausbilder von den Lippen zu lesen. Gulwali spricht gutes Deutsch, sogar den niedersächsischen Dialekt hat er angenommen. Die Begriffe aber, die der Ausbilder Kronau verwendet, sind eine Herausforderung für ihn, fremdartige Gebilde aus Silben, unüberwindbare Wortgebirge.
Saugschlauch, Standrohr, Sammelstück.
Kontaminationsverschleppung.
Flammpunkt, Brennpunkt.
Welchem Feuer, fragt der Ausbilder, ist mit welchem Löschmittel beizukommen? Er redet über die Mischungsverhältnisse von Kohlenstoffdioxid und Sauerstoff. In dem Grundlagenkurs sitzen die künftigen Feuerwehrleute, viele junge Frauen darunter, in dunkelblauen Uniformen hinter Tischreihen mit ihren Namensschildchen darauf. Vor Gulwali steht ein Kärtchen mit dem Namen „Musaper“.
Der Name ist ein Missverständnis. Seit den ersten Tagen in Deutschland hängt es ihm an. Der Übersetzer, den die Behörden für die Ersterfassung seiner Daten beauftragt hatten, so erzählt Gulwali, habe sich mit ihm kaum verständigen können. Der habe Dari gesprochen, aber er, Gulwali, kann nur Paschtu. Aus Hajat, was „Leben“ heißt, wurde „Musaper“ – der „Reisende“. Gulwali Musaper steht jetzt in all seinen Papieren und an seiner Haustür. So erging es ihm nicht anders als vielen deutschen Einwanderern im 19. Jahrhundert, deren Namen den US-Beamten phonetisch zu kompliziert waren.
Trupp, Staffel, Gruppe, Zug.
Vollstrahl, Sprühstrahl.
Unterflurhydrant, Wandhydrant, Zumischer.
Er hat Mühe, wach zu bleiben. Die halbe Nacht war er auf. Er hatte Dienst in einer Wohngruppe mit fünf Jugendlichen aus Afghanistan und Somalia. Unter der Woche arbeitet er als Gärtner bei einer großen heilpädagogischen Einrichtung, am Wochenende hilft er in deren Wohngruppen als Betreuer aus.
In der Pause steht er abseits, zieht nervös an seiner Zigarette. Gulwali hat lange gezögert, ob er an dem Kurs teilnehmen soll. Er ist der einzige Ausländer im Saal. Ein Syrer hat es mal bei ihnen als Feuerwehrmann versucht, erzählt der Ausbildungsleiter in einer Pause, doch bedauerlicherweise sei der nicht lange geblieben. „Ich bringe euch jetzt den Mastwurf bei“, sagt ein anderer, genauso stämmiger Ausbilder am Ende des Theorieunterrichts. „Der Mastwurf ist für uns Feuerwehrleute der erste Sicherungsknoten.“ Er macht es vor, jeder macht es nach. „Sieht gut aus“, sagt der Ausbilder, als Gulwali den Knoten machen soll. So schwer ihm die Theorie fällt, so schnell ist er in der Praxis.
Mit ganzer Kraft hat Gulwali in den letzten zehn Jahren versucht, Wurzeln zu schlagen. Er hat im Landkreis Dannenberg das getan, was er in seinem Heimatdorf in Nangarhar im Osten Afghanistans gelernt hatte. Unermüdlich knüpft er Netzwerke, sucht Nähe, versucht Fremde zu Freunden zu machen, denn letztlich ist nur auf Netzwerke von Freunden Verlass. Die besten Netzwerke auf den Dörfern an der Elbe natürlich: bei der freiwilligen Feuerwehr.
Er hat einen langen Weg zurückgelegt. Er kam hier an mit 14 Jahren, verloren, verängstigt, nach langer Flucht durch den Iran, wo er fast erschossen wurde, durch die Türkei, wo er entführt wurde, über die Agäis, wo er fast ertrank.
Jetzt hat er eine gute Stelle, überwiegend nette Kollegen, eine schöne Wohnung, einen eigenen Wagen und sogar einen Dienstwagen dazu, er kennt Bürgermeister und die meisten Unternehmer. Er müsste als Vorzeige-Einwanderer gelten, aber oft ist er erschöpft. Oft stößt er an unsichtbare Grenzen. Weil er dann eben doch nicht dazugehört. Weil viele ihn nicht ernst nehmen. Der kleine Afghane. Gulwali, der Clown. Immer extracool. Immer einen flotten Spruch parat. Oft genug einen schrägen Spruch. Gulwali, der bei Frauen nicht immer den richtigen Tonfall findet. Das richtige Verhältnis zwischen Blick und zu langem Blick. Grenzen, die kein Lehrbuch und kein Lehrgang erklärt.
In drei Wochen findet die Prüfung statt. 20 Fragen. Wer besteht, bekommt ein Abzeichen und wird dazugehören.

Fliegen wandern über das Gesicht von Sabirullah. Es sind schwarze, dicke Fliegen, doch ihn stört es nicht. Ermattet von der Hitze, liegt er dösend auf einer Plastikmatte. Neben ihm lagert sein Schnellfeuergewehr, das er einst von den Amerikanern erbeutet hat. Über ihm der Schatten eines Flechtdaches aus Dattelblättern. Das Hauptquartier seiner Einheit, das er vor anderthalb Monaten bezogen hat, befindet sich auf dem Gelände eines Sufi-Schreins. „Das Haar des Propheten“ heißt der heilige Ort. In einem Mauerwinkel, abseits der Pilgerströme, haben die Taliban ihre Basis eingerichtet. Der Sommer, der in diesem Jahr besonders heiß gewesen ist im Süden Afghanistans, neigt sich seinem Ende zu.
Neben Sabirullah hockt sein Stellvertreter im Schneidersitz, Sadik, Anfang zwanzig, eine Kalaschnikow quer auf seinem Schoß. Er hat schwarze lange Haare, die ihm als breiter Fächer über die Schultern fallen. Mit größter Hingabe ölt er sie ein, mit beiden Händen, von oben nach unten, vom Scheitel bis zu den Spitzen. Eine Stunde ist so vergangen. Sabirullah döste, Sadik war versunken in seine Haare. Da klingelt Sadiks Handy. „Chef“, rüttelt er an Sabirullahs Schulter, nachdem er den Anruf entgegengenommen hat: „Wir müssen los.“
Ein lang gehegter Traum ist für Sabirullah wahr geworden; vor wenigen Wochen hat er sein erstes Kommando bekommen. Seit Jahren hatte er darauf gehofft. Schon im Krieg hatte er als Leibwächter seinem Kommandanten gedient. Er ist jetzt Ende zwanzig, hat längst eine Frau, mittlerweile zwei Kinder, eine Tochter, einen Sohn, und endlich gibt man ihm mehr Verantwortung. Er ist jetzt Vorsteher eines kleinen Polizeipostens: Zehn Mann hat er unter sich, zumindest theoretisch, denn selten sind mehr als fünf von ihnen da. Ihr Revier besteht aus drei größeren und acht kleineren Dörfern, Distrikt Surkh Rod, der direkt an Dschalalabad grenzt, eine der größten Städte Afghanistans ganz im Osten. Eine Stunde bräuchte man auf dem Motorrad, um die Grenzen seines Reviers abzufahren.
„Eine Schlägerei!“, sagt Sadik, und Sabirullah müht sich von der Matte auf. Sie setzen sich zu zweit auf ihr Motorrad, Sabirullah vorn, Sadik hinten. Zwei Männer ringen an der Dorfstraße. Ein ungleicher Kampf. Ein großer junger gegen einen älteren kleinen. Die Kleider der beiden sind dreckig und zerrissen. Als sie die Taliban sehen, lassen die Männer voneinander ab. Eine Menschenmenge ist zusammengelaufen, in ihrer Mitte steht jetzt Sabirullah, der neu ernannte Polizeichef, und er fühlt sich unwohl.

„Er schuldet mir Geld, und als ich ihn fragte, wann er es mir zurückzahlt, fing er an, mich zu schlagen!“, klagt der Große im weißen Tuch. Der Ältere, sichtbar malträtiert, ist mit dem Rücken an einer Hauswand zusammengesackt. „Gebt mir zwei Monate mehr“, jammert er. Vor einem Jahr hat er von dem Großen eine Kuh für umgerechnet 900 Euro gekauft, sehr viel Geld in Afghanistan, aber bisher nur 600 Euro abbezahlt. „Du hast doch Einnahmen von der Kuh!“, sagt Sabirullah. „Die Kuh war krank, als er sie mir verkauft hat“, sagt der Alte. Kurz danach sei sie gestorben.
Plage um Plage ist in den letzten Jahren über Afghanistan gekommen. Der Krieg ist vorüber, vorläufig wenigstens, aber das Land ist unter den Taliban international fast komplett isoliert. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen. Der Klimawandel hat hier so heftige Auswirkungen wie in nur wenigen anderen Regionen der Welt. Die fünfte Trockenheit in Folge. Die Dörfer in Surkh Rod liegen in einer fruchtbaren Ebene, die in guten Zeiten eine Kornkammer Afghanistans war. Das Tal, tropisch grün früher, ist jetzt karg und staubig. Die meisten Quellen sind versiegt. Flüsse wurden zu Bächen, Bäche zu Rinnsalen. Von zehn Feldern liegen neun brach, weil ihren Besitzern das Wasser fehlt. Dazu kam im Frühjahr eine Tierseuche, die Tausende Kühe dahinraffte.
„Du musst zahlen“, sagt Sabirullah zum Alten. „Das ist die Scharia.“ – „Gebt mir mehr Zeit“, sagt der wieder. „Ich habe ihm schon mehr Zeit gegeben“, sagt der Große. Sabirullah will den Streit schnell beenden, man merkt, er fühlt sich im Dorf nicht sicher. Ständig versucht er die Menschenmenge im Auge zu behalten, sieht nervös um sich. Viele der Bewohner haben früher das alte Regime unterstützt und die Taliban bekämpft. „40 Tage!“, verkündet er seinen Urteilsspruch.
„Bist du mit dieser Entscheidung glücklich?“, fragt er den Alten. Der nickt. Dann besteigen die Taliban eilig das Motorrad und fahren aus dem Dorf. Der Alte bleibt zurück, zusammengekauert am Fuß der Wand, ein Bündel Mensch, die Augen geschlossen, die Hände auf der Stirn.
„Ich bin so müde“, sagt Sabirullah, als er zurückgekehrt ist hinter die Mauern des Schreins, wo seine Matte liegt.
Gulwali sitzt am Abend mit einer Flasche Bier auf der Terrasse seiner Wohnung und lehnt den Kopf nach hinten, damit er den Sternenhimmel sieht. Der strahlt hier fast so hell wie der über seinem Bruder in Nangarhar. „Hast du gesehen?“, sagt er. „Ein Meteorit!“ Er ist im Sommer aus der Stadtmitte von Dannenberg an den Ortsrand des Nachbarortes Hitzacker gezogen. Fast jeden Abend sitzt er auf der Terrasse.
„Noch einer!“, sagt er. Alle paar Tage, manchmal auch nur alle paar Wochen, telefoniert er per WhatsApp mit seinem Bruder. „Sabi!“, ruft er euphorisch, nachdem er ihn angewählt hat, ein Video-Call. Das Gesicht seines Bruders scheint auf. Lautstark grüßen sie einander. Sabirullah steht im Hinterhof eines Hauses. Tiefe Dunkelheit umgibt ihn. Das Glimmern des Displays ist die einzige Lichtquelle. Gulwali hat die Bierflasche aus dem Sichtfeld geschoben und in seinem Stuhl Haltung angenommen. Gebot der Höflichkeit gegenüber dem älteren Bruder. Ein Cousin winkt in die Kamera, diverse bärtige Männer, die sich aus der Dunkelheit lösen, kurz ins Licht treten und dann wieder verschwinden. Sie alle wollen grüßen. Schemen, die kaum zu erkennen sind, wie Schatten der Vergangenheit. Dann friert das Bild ein und erlischt.
„Da!“, ruft Gulwali und legt das Telefon weg. Er reckt den Hals und zeigt wieder zum Nachthimmel, so viele Meteoriten.