Nur ein einziger Fisch. Er liegt auf dem Boden des Bootes und windet sich im Todeskampf. Er öffnet sein Maul, schnappt, reißt es auf, als wolle er das Leben erzwingen, erlahmt dann, wird ruhiger, bis er reglos ist.
Das Kind, das das Boot durch eine endlose Wasserlandschaft steuert, ganz allein, hält sich mit Mühe aufrecht. Ein Junge mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht. Neun Jahre alt, James Mawieh Bol, nackte dürre Beine. Über der schmalen Brust ein zerrissenes Hemd. Er drückt mit beiden Händen eine lange Holzstange hinter sich. Meter um Meter schiebt er das Boot voran. In den frühen Morgenstunden ist er von der Hütte seiner Familie aus aufgebrochen. Seither warten sie dort auf seine Rückkehr, die Eltern und drei kleine Geschwister. Der Junge kontrolliert die Netze, die er weit draußen im Wasser aufgespannt hat. Seine Fahrten machen in diesen Tagen den ganzen Unterschied zwischen Leben und Sterben aus.
Das Boot, in dem er steht, ist ein Einbaum, geschlagen aus dem Stamm einer Palme. Es ist halb leck. James hält immer wieder inne, um das Wasser mit den Händen aus dem Boot zu schöpfen. Als er gegen Mittag zu seiner Familie zurückkehrt, auf die kleine Insel mit der Hütte seines Vaters, stolpert er vom Boot, erschöpft, in seiner rechten Hand der Fisch.
Sein Vater sitzt auf einem Hocker vor der Hütte. Er ist ein warmherziger Mann. Einer, der selten streng ist. James steht mit krummem Rücken vor ihm, blickt ihn nicht an, schaut zu Boden. Die beiden schweigen. Der Vater sieht auf den Fisch, den James an der Schwanzflosse hält.
„Mehr hast du nicht gefangen?“, fragt der Vater, der zu krank ist, um selbst zu fischen. Der Junge bleibt stumm, presst die Lippen aufeinander. Er weiß, was er seiner Familie an diesem Tag nach Hause bringt: den Hunger.
Wasser und Schlamm umgeben die Insel, die nur so groß ist wie ein Fußballfeld. Auf ihr wohnen 20 Menschen in fünf Hütten, und in alle vier Himmelsrichtungen schauen sie auf einen riesigen Morast, den Sudd. Er liegt in der Mitte des Südsudans. Die Wasser des Weißen Nils stauen sich hier seit dem Ende der letzten Eiszeit zum größten Sumpf der Erde auf. 130.000 Quadratkilometer bedeckt er in der Regenzeit. Eine Fläche, so groß wie England. Fast undurchdringlich. Für viele Jahrhunderte glaubten die Europäer, der Sudd sei das Ende der Welt.
An diesem Ort haben James und seine Familie Rettung gesucht. Zehntausende flohen während der vergangenen Monate auf ein Archipel winzigster Inseln in dem Sumpf. Seit fünf Jahrzehnten ist Krieg im Südsudan, aber noch nie tobte er so schlimm wie jetzt. In vielen Provinzen sind Städte verlassen, Dörfer verbrannt und die Felder unbestellt. Sogar in Gegenden, die bis vor Kurzem als Kornkammer galten, drohen die Menschen an Hunger zu sterben.
Im vergangenen Februar richteten die Vereinten Nationen einen Hilfsappell an die Welt, der in seiner Art einmalig war. Der Nothilfe-Koordinator Stephen O’Brien warnte im Sicherheitsrat in New York vor der „größten humanitären Katastrophe seit Bestehen der UN„. In Afrika und auf der Arabischen Halbinsel seien 20 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht, in Kenia, Somalia, Nigeria, im Jemen und vor allem im Südsudan, wo der junge James Mawieh Bol in den Sümpfen nach Fischen sucht.
Um ein Massensterben abzuwenden, so die UN damals, müssten die reichen Länder zusätzlich 6,1 Milliarden Dollar bereitstellen. Die Regierungen gaben Geld – aber bisher nur einen Bruchteil des Notwendigen. Auch die Hilfsorganisationen haben Probleme, Finanzmittel einzusammeln. Viele Menschen, die früher gespendet haben, fragen jetzt: wozu? Wieso hört der Hunger nicht auf? Warum ist nach 600 Milliarden Euro Entwicklungshilfe, die in den vergangenen 50 Jahren nach Afrika flossen, die Not nun größer als zuvor? Haben wir falsch geholfen? Zu wenig geholfen? Oder ist es nur eine Illusion: die Annahme, helfen zu können?