2023

„Übt ein Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft aus, so wirkt eine gleich große, aber entgegengerichtete Kraft von Körper B auf Körper A.“ Das dritte Newtonsche Gesetz.

„Das hast du doch schon so oft gesehen“, sagt die 72-jährige Rosemary Coker* laut seufzend.

„Das ist mir egal“, sagt Jim Coker, 73, und starrt weiter ungerührt auf den großen Fernsehschirm.

Beide sitzen nebeneinander in weinroten Lehnsesseln. Die Polster sind vom jahrelangen Sitzen ausgebeult, besonders der von Jim. Rosemary nippt an ihrem White Russian, den sie am frühen Nachmittag immer trinkt. Kaffeelikör mit Wodka.

Es ist ein Tag Anfang Februar 2023. Im Fernseher läuft die Aufzeichnung eines zehn Jahre alten Nascar-Rennens. Autos, die im Kreis rasen, gelegentlich miteinander kollidieren, durch die Luft schleudern, in Echtzeit, in Zeitlupe, immer wieder.

„Das ist doch langweilig“, sagt Rosemary. „Das Rennen hast du bestimmt schon ein Dutzend Mal angeschaut.“

„Jedes Mal“, erwidert Jim schmunzelnd, „entdecke ich neue Details.“

Das Wohnzimmer des Ehepaars ist eine bis in alle Winkel ausgepolsterte Gemütlichkeit. Der Fernseher läuft meistens, auf hoher Lautstärke seit einiger Zeit, weil Jim immer schlechter hört. In der Küche köchelt das Abendessen, Salsa verde mit viel Chili. Radiomusik dringt aus dem Schlafzimmer. Jim ist früher Lastwagen gefahren, Rosemary war Buchhalterin in einem Krankenhaus, beide sind nun im Ruhestand. „Ich mag keine Aufregungen mehr“, sagt Rosemary, die Beine auf einem Hocker. „Ich will es nur noch ruhig.“

Der Ruhe wegen hatten die Cokers vor 15 Jahren das Haus gekauft, hier in Boca Chica, das einsam auf einer Halbinsel in Südtexas liegt und damals aus nur 28 Häusern bestand, einer zentralen Straße, bewohnt fast ausnahmslos von Rentnern. Die nächste Stadt, Brownsville, zu der Boca Chica verwaltungstechnisch gehört, ist 40 Autominuten entfernt. Gleich hinter dem Dorf fließt der Rio Grande, die Grenze zu Mexiko, vor dem Dorf der Golf von Mexiko, überall um die Cokers herum: ein Wattenmeer und Hunderttausende Vögel.

Dieses Idyll fand schlagartig ein Ende, als 2019 der Multimilliardär Elon Musk seinen Hauptwohnsitz nach Boca Chica verlegte und in das Haus gegenüber der Cokers einzog.

Viele Jahre lang hatte Elon Musk bis dahin in ganz Amerika, an allen US-Küsten, sogar auf Hawaii und mitten im Pazifik, den perfekten Standort gesucht für eines der riskantesten und möglicherweise auch folgenreichsten Experimente unserer Zeit: die Entwicklung der größten je gebauten Raklete, das Starship-Projekt.

Der Ort musste an der Ostküste liegen, der für Reisen ins All günstigen Erdrotation wegen. Er musste sich an der Küste befinden und in einem dünn besiedelten Gebiet – für den Fall eines katastrophalen Unfalls. Musks Wahl fiel auf Boca Chica. Von hier aus will er den Mars bewohnbar machen, Tausende Kolonialisten dorthin schicken.

In wenigen Wochen, Mitte März, plant das Raumfahrtunternehmen von Elon Musk, das SpaceX heißt, den Jungfernflug des 120 Meter großen Starship. Mit aller Macht will Elon Musk den Himmel aufstoßen, um schon bald Reisen zwischen den Planeten und zum Mond zu ermöglichen. Er will, so sagt er, die Menschheit vor der möglichen Auslöschung bewahren, etwa durch einen Meteoriteneinschlag auf der Erde.

In Boca Chica wurde die Zukunft zur Gegenwart. Doch die Zukunft hat ihren Schrecken.

countdown: das hörbare Rückwärtszählen in fest definierten Einheiten (wie etwa Sekunden) von einer willkürlich gesetzten Anfangszahl, um die Zeit kenntlich zu machen, die bleibt, bis ein Ereignis eintritt.“ (Webster Wörterbuch)

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Die ersten Vorboten, dass sich die Welt der Rentnerkolonie Boca Chica bald verändern würde, war das Erscheinen zweier Vermessungsingenieure. Im Frühjahr 2012 zogen sie mit einem Entfernungsmesser durch den Ort. Sie sagten den Bewohnern nicht, wozu. Das verbiete ihr Arbeitsvertrag. In den folgenden Jahren passierte scheinbar nicht viel, zumindest nicht nach außen. Im Stillen aber kauften mehrere Immobilienfirmen Häuser und Grundstücke in Boca Chica auf, für einen einzigen, geheimnisvollen Kunden.

Das Land zwischen Flut und Ebbe hat sich mittlerweile in einen riesigen Industriekomplex verwandelt. Am Strand von Boca Chica, nur drei Kilometer vom Dorf entfernt, ist ein 145 Meter großer Stahlturm in die Höhe gewachsen. Die Ingenieure nennen ihn „Mechazilla“, in Anlehnung an das japanische Riesenmonster Godzilla. Eine Milliarde Dollar soll er gekostet haben. Etwas wie ihn gab es noch nie in der Geschichte der Raumfahrt: An dem Turm sollen Raketen abgeschossen werden – aber an ihm sollen sie auch landen.

Etwas weiter im Landesinnern, auf dem Gelände einer ehemaligen Schießsportanlage, steht das SpaceX-Drucktest-Zentrum. Hier werden in großen Testkammern einzelne Bauteile der Rakete den Druckverhältnissen von Start und Landung ausgesetzt. Boca Chica selbst ist als Dorf kaum mehr erkennbar. Die kleinen Häuser wie das der Cokers, Ruhesitze der Pensionäre, sind längst verschwunden hinter Hangars, Hallen, Montierplätzen und großen Industriezelten.

Die Bauwerke haben den Ort regelrecht überwuchert, jedes Jahr etwas mehr. In einem Bereich werden die Stahlringe der Rakete hergestellt, in einem die Elektrik, in einem anderen die Triebwerke fertig montiert, in wiederum einem anderen die Hitzekacheln vorbereitet. 1800 Techniker arbeiten mittlerweile in Boca Chica. In der ganzen Region, das behauptet die Distriktsadministratorin, soll das Projekt bereits 61.000 Arbeitsplätze geschaffen haben. Straßen und Wohnparks tragen Namen von Mars-Landschaften wie Olympus Mons, dem Mars-Vulkan, oder Valles Marineris, der größten Schlucht auf dem Mars. Das Ortsbild prägen drei gewaltige Hallenbauten, die Mega Bay, die High Bay und die Mid Bay. Fensterlos, grau, bis zu 100 Meter hoch. So hoch sind sie, dass sie das Dorf von allen Signalen abschirmen, weshalb die Cokers zu Hause keinen Handyempfang mehr haben.

Die Welt ist hier jetzt ganz auf das Leben auf dem Mars ausgerichtet, so vieles hat sich in Boca Chica ins Gegenteil verkehrt. Ruhe hat das Ehepaar längst nicht mehr, Tag und Nacht lärmen Bulldozer und Bagger vor dem Haus. Strahler großer Lichtmasten machen die Nacht zum Tag. Einzelne Bewohner haben deshalb in der Vergangenheit ihre Fenster mit Brettern vernagelt. Doch nach und nach begannen die meisten Nachbarn auszuziehen, sie ertrugen es nicht länger. Ihre Häuser wurden von SpaceX gekauft, Raketeningenieure und Techniker zogen ein. Die Häuser werden wie in einer Hotelanlage von einem Reinigungsservice betreut. Täglich sorgt er auch für frische Wäsche. Die Fassaden erhielten einen neuen Anstrich, in Grau und Schwarz, die SpaceX-Farben. Das Schlimmste aber für das Ehepaar Coker: die fortwährenden Explosionen.

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