Umhüllt von rissigem Lehm wird es im Feuer geschmolzen. Feuer hält es flüssig. Fast wird es selbst zu Feuer, flüssigem Feuer. Es strahlt orange, tief in seiner Hülle aus Lehm, Flammen züngeln auf ihm. Ein Material wie aus der Zeit, als die Erde ihre Form annahm. Geschmolzener Stein.
Glas, geboren in Hitze und Glut. Nasrullah Faisi ist sein Meister.
Er kauert auf dem Boden einer fast lichtlosen Kammer, die gefüllt ist von wabernder Hitze. In den Händen hält er ein dünnes Metallrohr, mit dem er in der glühenden Masse rührt.
Nasrullah Faisi, der sein Alter auf 65 bis 67 Jahre schätzt, ist einer der Letzten seiner Art. Er lebt mit seiner Familie in Herat, einer Großstadt im Westen Afghanistans, umgeben von Wüste und Bergen. Er und seine Söhne sind die letzten Glasbrenner Afghanistans. Sie sind, so glauben internationale Glasexperten, auch die letzten auf der Welt, die Glasgefäße noch so herstellen wie die Mesopotamier, die diese Kunst vor 2.700 Jahren im heutigen Irak erfanden.
Die kleine Werkstatt der Familie befindet sich hinter einer unscheinbaren Holztür in einer Lehmmauer in der Altstadt Herats, in dem Viertel Bagh-e-Dascht, übersetzt: „die Gärten der Wüste“. Hier sind die meisten Bauten aus Lehm errichtet, wie seit Jahrtausenden. Sie ähneln stolzen Palästen mit Arkaden, Galerien und Innenhöfen. Die Gassen zwischen den Häusern sind so eng, dass kaum ein Auto hindurchpasst, sie verschwinden immer wieder in Tunneln und Gewölben.
Tritt man durch die Tür der Werkstatt, die notdürftig repariert wurde, mal mit dünneren Nägeln, mal mit dickeren, niemand weiß, wie alt sie ist, steht man in einem winzigen Hof und vor einem Lehmbau, vier mal vier Meter groß, darin wie ein Schrein aus alter Vorzeit: der Ofen. Ein Zylinder, brusthoch, auch der wie alles hier aus Lehm, mit einem halbrunden Vorbau, in den kleine Öffnungen gebrochen wurden, aus denen die Glut leuchtet.
Mit zwei Söhnen und einem Neffen stellt Nasrullah das Glas nach Methoden her, die ihn sein Vater gelehrt hat und den dessen Vater und auch jenen wieder sein Vater. Die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden, so lange das Gedächtnis der Familie in die Vergangenheit zurückreicht.
Chaidrullah lernte von Nasrullah.
Nasrullah lernte von Saidullah.
Saidullah lernte von Faisullah.
Faisullah lernte von Schukrullah.
Was vor Schukrullah war, wissen sie nicht. Da erlischt die Erinnerung an das Alte. Die Vergangenheit ist in Afghanistan wie der Lehm, aus dem die Häuser sind. Rasch, innerhalb weniger Generationen, meist ohne Spuren zu hinterlassen, zerfällt sie zu Staub. Es müssen Jahrhunderte sein, in denen die Tradition des Glasmachens von einer Generation an die andere weitergereicht wurde.
Vor zwei Tagen hat Nasrullah mit seinen beiden Söhnen begonnen, den Ofen anzufeuern. Zwei Tage lang haben sie nur dem Feuer gedient. Sie haben den Ofen von alter Asche befreit, die Risse im Lehm gekittet. Sie haben Holz der Afghanischen Esche gekauft, das beim Verbrennen hohe Temperaturen erreicht. Sie haben es in einen Meter kurze Stücke gesägt, es an der Wand des schmalen Vorhofs aufgestapelt. Drei Stunden dauert es, bis die nötige Temperatur erreicht ist, 1.200 Grad, so genau hat es hier niemand je gemessen, die Temperatur, bei der Stein zu Glas wird.

„Du musst nachschieben“, sagt Nasrullah zu seinem Enkel, der gerade 15 geworden ist, im Schneidersitz hockt er vor dem Ofen. Durch zwei Öffnungen an der Frontseite nährt er das Feuer, hält ein Stück Holz und schiebt es, je mehr es abbrennt, tiefer in den Ofen. Beide, Großvater und Enkel, sind schweißüberströmt. Alle 20 Minuten müssen sie aus dem Verhau hinaus, weil die Hitze nicht länger erträglich ist, sie werden abgelöst von einem der beiden Söhne Nasrullahs und einem Nachbarsjungen.
„Träum nicht“, sagt Nasrullah zum Enkel, denn niemals, während sie Glas schmelzen, darf das Feuer niederbrennen.
Die Familie von Nasrullah hat die Geheimnisse um die Glasbläserei durch alle Kriege Afghanistans gerettet. Kriege durchpflügten das Land über 40 Jahre lang. Als die Sowjets einfielen, flohen die Glasbläser für einige Jahre in den nahen Iran, kamen aber wieder. Auch als in den Neunzigerjahren die Taliban das erste Mal Herat eroberten, flohen sie, kehrten aber bald wieder zu ihren Öfen zurück. Doch jetzt, nachdem die Taliban im Sommer 2021 zum zweiten Mal die Macht in Afghanistan übernommen haben, drohen die Öfen der Familie zu erkalten.
„Die Menschen schätzen uns nicht mehr“, klagt Nasrullah.
Sein Bart ist tiefgrau geworden. Dürr ist er, ausgemergelt, die Brust eingefallen, nicht von der Not, sondern von der Arbeit. Er führt das Metallrohr in die glühende Masse, rührt darin. Das Ende der Stange muss vorgeglüht werden, sonst klebt das heiße Glas nicht daran. Sie ist eines der ganz alten Werkzeuge, die die Menschheit benutzt, die Glaspfeife, 200 Jahre vor Christus in Syrien erfunden.
Es bleibt zähflüssiges Glas am Ende des Rohres haften. Nasrullah dreht es, mal in die eine Richtung, mal in die andere, bis sich eine kleine Traube gebildet hat, die immer weiter anwächst. Er zieht dann die Stange wieder aus dem Ofen, hinein in die Dunkelheit, wo die Traube aus Glas hell aufstrahlt wie eine Sonne. Er hält sie an dem Rohr in die Höhe, jetzt mit beiden Händen, betrachtet sie kurz, bläst dann hindurch, und aus der Blase wird eine Form, die sich zu einer Flasche entwickeln könnte, einer Vase, einem Becher.

Doch dieses Mal soll es etwas anderes werden, etwas, das er noch nie zuvor versuchte. „Ich weiß nicht, ob mir das gelingt“, sagt er. Das Glas ist mittlerweile auf die Größe eines Handballens gewachsen. Einen Apfel aus weißem Glas will er versuchen, das hat sich ein neuer Kunde gewünscht.
Mit dem Untergang des alten Regimes sind die alten Kunden der Glasmacher vor zwei Jahren fast alle verschwunden. Afghanen kaufen das Glas aus Herat jedoch schon lange nicht mehr. Die lokale Nachfrage ist bereits in den Neunzigern zusammengebrochen, als immer mehr Industrieglas aus Pakistan und dem Iran importiert wurde – es ist billiger und bruchfester. Die meisten Glasbläser von Herat gaben irgendwann auf, nur die Familie Faisi machte weiter.
In den letzten 20 Jahren produzierten sie hauptsächlich für Ausländer, die mit den westlichen Truppen ins Land kamen. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, hin und wieder auch Diplomaten, manchmal Beamte der Ministerien. Menschen, die im Unterschied zu fast allen Afghanen sich den Luxus leisten konnten, nicht nur auf den Nutzen zu achten, sondern auch auf die Schönheit. Doch verkauften die Faisis nie direkt an sie. Ladenbesitzer in Kabul und Herat vertrieben ihre Produkte. Über all die Jahre hielten die ihre Bezugsquelle geheim, behaupteten gegenüber Kunden, sie selbst würden die Waren herstellen. Eifersüchtig wachten sie darüber, dass niemand direkt bei den Glasmachern einkaufte, um so ihre Margen zu erhalten. Das rächt sich jetzt. Es kommen nur noch wenige Ausländer ins Land, die Läden in Kabul machen keine Geschäfte mehr. Im wahrsten Sinne über Nacht wurden die Glasmacher von Herat von allen Märkten abgeschnitten.
Die Entwicklungshelfer sind abgezogen und die meisten wohlhabenderen Afghanen geflohen. Das Regime der Taliban wurde mit internationalen Sanktionen belegt. Viele leiden Hunger. Felder liegen brach, weil wegen des Klimawandels in fast allen Landesteilen das Grundwasser sinkt, die Brunnen versiegen. Viele Familien in den Dörfern sind gezwungen, ihre Töchter lange vor der Pubertät zu verheiraten, weil sie das Brautgeld brauchen. Afghanistan ist von der Welt so isoliert wie selten zuvor. Nasrullah und seine Söhne hatten nach dem Zusammenbruch des Regimes ihre Öfen erst einmal stillgelegt.
Chairullah, 35, hat in der Nachbarschaft einen kleinen Friseursalon aufgemacht. In den Spiegelglas-Regalen stehen neben den Parfümdosen einige Glasvasen, Ausdruck einer zarten Hoffnung, sie auf diese Weise doch noch zu verkaufen.
Obaidullah, 28, hat sich auf das Warten von IT-Systemen einiger Firmen in Herat verlegt, würde aber gerne stattdessen der Glaskunst nachgehen. „Nichts tue ich lieber“, sagt er.
Die Alten, Nasrullah und sein Neffe Ghulam Sakhi, ein Mann Anfang 50 mit eigenem Ofen, sitzen meistens untätig zu Hause. Andere Glasmacher, zwei Söhne Nasrullahs und ein Sohn Sakhis, sind vor wenigen Monaten in den Iran ausgewandert, wo sie sich auf dem Bau als Hilfsarbeiter verdingen.
Nun hat die Familie die Öfen wieder angefeuert, weil sie einen Großauftrag bekommen hat, aus Deutschland, vermittelt durch das ZEITmagazin. Drei Händler in Köln, Berlin und im schwäbischen Reutlingen haben 1.400 Glasobjekte bestellt. Es ist der Versuch, eine jahrhundertealte Kunst zu retten und im Kleinen den Beweis zu erbringen, dass Afghanistan nicht, wie viele glauben, unrettbar verloren ist.
Die Gläser haben den Reiz antiker römischer Glaswaren, wie sie etwa in Köln oder Mainz in Museen stehen. Ihre Oberfläche ist uneben, und sie sind nie ganz gleich. Fällt Licht auf sie, bricht es sich in ihnen an Hunderten unterschiedlich großen Luftblasen. Es schweben Aschekörner in den Gläsern, zarte Schlieren von Verunreinigungen. Wer sie gegen die Sonne hält, sieht im Glas erstarrte Explosionen.
Den zweiten Ofen der Familie betreibt Ghulam Sakhi, Nasrullahs Neffe. Nasrullah ist hochgewachsen, Sakhi reicht ihm nur bis zur Brust. Als Siebenjähriger fiel er vom Dach und brach sich das Rückgrat. Wundersamerweise wurde er dadurch nicht gelähmt, aber die Ärzte in Herat wussten dem Jungen nur schlecht zu helfen. Sein Rücken verformte sich zu einem Buckel. Das hinderte ihn jedoch nie daran, genauso gutes Glas herzustellen wie sein Onkel. Manche sagen sogar, Sakhis Glas sei das bessere.
Sakhi hat seinen Ofen auf dem Gelände der Zitadelle von Herat errichtet. Ein Trutzbau aus dem 15. Jahrhundert. Alexander der Große soll ihre Grundfesten gelegt haben. Deutschland und die USA gaben Millionen aus, um das Denkmal zu renovieren. Es sieht jetzt aus wie neu, fast unecht, wie eine Kopie seiner selbst. Damals gab es die Hoffnung, Afghanistan in eine Touristenattraktion verwandeln zu können. Ghulam Sakhi konnte einen Laden in der Zitadelle mieten und durfte seinen Ofen dort bauen. Aber statt Touristen kamen die Taliban. So hoffnungslos war er schließlich, dass er nach Polen auswandern wollte, doch auch dieser Plan scheiterte.
In einer der schwersten wirtschaftlichen Krisen in der Geschichte Afghanistans, die nicht arm ist an schweren Krisen, droht das Wissen von Jahrhunderten verloren zu gehen. Viele alte Handwerke sind kurz davor, dem Vergessen anheimzufallen, nicht nur die Glasmacherei.
Auch die Kachelgießer in der großen Moschee in Herat wissen nicht mehr, wie sie sich ernähren sollen. Sie haben seit Jahrhunderten die Moschee mit Kacheln und Fliesen versorgt. In ebenso alten Gewölben haben sie sie hergestellt, in Lehm gegossen, in Öfen gebrannt, von Hand grundiert und bemalt. Das Wunder der Moschee, die eines der großartigsten Bauwerke der Welt ist mit zwölf Minaretten und 444 Säulen, das Wunder mit all seinen Farben, seinem Licht und Glanz – es ist das Wunder der Kachelmacher.
Wer durch die Höfe der Moschee geht, kann sich nicht mehr vorstellen, dass es Hässliches gibt. Diese Pracht bezweckt nur eines: zu beweisen, wie viel Schönheit der Mensch dank der Gnade Allahs erschaffen kann. Doch der Gottesbeweis, den diese Pracht erbringen will, er bröckelt. Die Kachelmacher bekommen von der neuen Regierung kein Geld mehr. Das Bauwerk ist unablässig auf neue Kacheln angewiesen, weil es ständig Kacheln verliert. Wie Schuppen fallen sie herab. Die Kacheln, die an den Fassaden fortlaufend ersetzt werden müssen, erneuert nun niemand mehr.
Rezept um Rezept, Detail um Detail erodiert das jahrhundertealte Wissen der Handwerkskünste, nicht plötzlich, sondern allmählich. So haben die Glasmacher vor einiger Zeit aufgehört, ihr Glas aus Quarzsteinen und der Asche des Ischkar-Busches herzustellen. Die Steine hatten sie in Flussbetten gesammelt und die Pflanzenasche von Nomaden bekommen. Jetzt verwenden sie Altglas. Sie kaufen zerbrochenes Fensterglas auf. Die Lumpensammler der Stadt bringen ihnen gebrauchte Getränkeflaschen und Medikamentengläschen. Die schmelzen sie dann in ihren Öfen ein.
Das Glas sei früher nie so sauber geworden wie das eingeschmolzene Industrieglas. „Es war harte Arbeit“, sagt Chairullah. Sie hätten die Steine erst mahlen müssen. Die Öfen müssen sie heute nur halb so lange befeuern, wodurch sie Geld sparen. Noch wissen die Söhne, wie sich Steine in Glas verwandeln lassen, aber vermutlich werden deren Söhne es nicht mehr können. Die Farben sind nach wie vor die traditionellen: Blau, Grün, Braun. Diese vermögen sie ohne zugekaufte Chemie zu produzieren.
Blau – Kupfer. Sie nehmen alte Kupferkabel, befreien sie von den Plastikhüllen, zerstoßen sie dann im Mörser zu Pulver. Auf sechs Kilo Glas brauchen sie einen Teelöffel.
Grün – Eisen. Sie kochen Eisenschrott in heißem Wasser, filtern die feinen Späne, die sich unter der Hitze gelöst haben, trocknen sie und stampfen sie zu Pulver.
Braun haben sie früher aus der Asche einer Pflanze gewonnen, jetzt nutzen sie dazu schlicht braune Pillenfläschchen.
Die letzten Glasmacher Afghanistans wurden in der Vergangenheit von der Welt immer wieder neu entdeckt. In den Sechzigerjahren ließ ein Glasmuseum in New York einen Dokumentarfilm über sie drehen. In den letzten 20 Jahren wurde Nasrullah zu Workshops nach Amerika eingeladen, sein Neffe Sakhi nach Kenia. Fast immer liefen diese Kontakte über eine afghanische Regierungsagentur in Kabul, deren Mitarbeiter im Sommer 2021 in alle Welt flohen. Die Glasmacher gerieten in Vergessenheit – so wie auch der Rest des Landes.
Der Apfel, den Nasrullah aus einem Batzen Glas formen will, mag ihm an diesem Tag nicht gelingen. Immer wieder schiebt er das Rohr zurück in die Glut. Er legt es auf eine Metallplatte neben sich, rollt den Klumpen aus, der jetzt eine Kugel ist, nimmt sein langes Messer, eines, mit dem die Schlachter sonst Ziegen schlachten, legt es auf, versucht dem Glas mit ihm Form zu geben, nimmt ein zweites Messer zur Hand, aber Versuch um Versuch scheitert: Am Ende hat das Glas unverändert die Form einer Kugel, einem Apfel ähnelt es nicht.
Er bräuchte andere Werkzeuge dafür, über die sie in Herat nicht verfügen. Sie haben hier nur die Schlachtermesser und die Glaspfeifen, die sie aus alten Gewehrläufen herstellen lassen. „Es geht nicht“, sagt Nasrullah und schmunzelt entschuldigend. Dann macht er aus der Glastraube, die ein Apfel hätte werden sollen, eine Vase – so schön wie immer.
Ende des Jahres 2023 wird Herat von schweren Erdbeben heimgesucht. Mehr als 1.400 Menschen sterben, Tausende werden verletzt. Nur wenige Hilfsorganisationen kümmern sich. Die Welt außerhalb Afghanistans nimmt kaum Anteil. Die Glasmacher bleiben unverletzt, ziehen aber in Zelte, weil sie ihren Häusern nicht mehr trauen. Die Werkstatt von Nasrullah, in der der Ofen steht, ist einsturzgefährdet. Sie trauten sich nicht mehr hinein, sagt Nasrullahs Sohn Chairullah am Telefon. Zur Reparatur fehlt Geld. Wieder ist es unklar, ob der Ofen jemals wieder angefeuert wird oder ob er für immer kalt bleibt.
Die Gläser sind erhältlich über die Website ok-international.com und bei der Schulz Teppich Etage in Reutlingen.