Die Hand des Menschen, eines der Wunder der Natur, besteht aus 27 Knöchelchen, die nur lose verbunden sind durch Gewebe und Sehnen. Das Kahnbein etwa, das Mondbein, das Große Vieleckbein. 14 Fingerknochen. 36 Gelenke. Die Muskeln, die ihr Kraft geben, befinden sich im Unterarm und entsenden nur ihre Sehnen in die Hand. Drei Nervenstränge. Ulnaris, Medianus, Radialis. Zwei Arterien für die Durchblutung. Auf der Handinnenfläche nehmen 17.000 Nervenzellen Druck und Vibrationen wahr. Sie können winzigste Erhebungen von gerade einmal 0,006 Millimeter spüren. Die Hände von Affen können noch viel mehr und sind die besseren Werkzeuge. Sie können kraftvoller zugreifen und sind gelenkiger. Aber eine Bewegung kann nur der Mensch: die Hand zur Faust ballen, wenn er sich wehren will.
Die Hände der 15-jährigen Saliha schnellen nach vorne, drehen nach links, nach rechts, ziehen mit einem Ruck, greifen wieder aus, drehen, ziehen wieder, in einer Geschwindigkeit, in der die vielen Bewegungen für das Auge zu einer einzigen werden. Das Mädchen sitzt in einem Verschlag aus Lehmmauern mit einem winzigen Fenster, in einem Vorort von Herat, einer Stadt im tiefen Westen Afghanistans. Salihas Nacken ist gebeugt, zwölf Stunden am Tag. Vor ihr steigen Tausende weiße Fäden steil wie eine Wand auf, ein Gitter aus Garn, beinahe bis zur Zimmerdecke empor.

„Ich hasse ihn“, sagt Saliha.
Unter ihren Händen wächst auf drei mal zwei Metern Länge ein Teppich heran. Ein Rahmen aus Metallstangen steht vor ihr. Darin sind die Webfäden straff gespannt. Mit ihrer Schwester arbeitet sie seit fünf Monaten an dem Teppich. Sie knüpfen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, sechs Tage pro Woche. An manchen Tagen scheint er kaum größer zu werden. „Wir haben am Anfang so viele Fehler gemacht“, sagt Saliha und lacht bitter.
Noch vor einem Jahr gingen die Schwestern zur Schule. Die Ältere, Rahima, 20, war in der elften Klasse. Sie wollte nach dem Abschluss persische Literatur studieren und Lehrerin werden. Sie liebt Poesie, sagt sie. Saliha ging in die zehnte. Sie wollte Frauenärztin werden. Sie sind in ihrer Familie die erste Generation Mädchen, die lesen und schreiben lernten, Hoffnung ihrer Familie, Hoffnung auf ein besseres Leben, ganzer Stolz ihrer Mutter, die selbst erst Anfang vierzig ist und Analphabetin.
Dieser Teppich ist alles, was ihnen von der Hoffnung blieb. Der Teppich ist alles, was ihnen die Taliban ließen. Von diesem Teppich handelt diese Reportage.
Vor etwas mehr als einem Jahr haben die Taliban erneut die Macht in Afghanistan übernommen. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, die weiterführenden Schulen für Mädchen zu schließen. Die Sprecher der Taliban gaben dafür keine Begründung. Der Koran verbietet Bildung für Frauen nicht, sehr wohl aber der Kodex vieler Stämme Afghanistans. Die Schließung der Schulen, versicherten die Taliban, sei nur vorübergehend. Sie würden wieder geöffnet, wenn der Schulweg sicher genug sei, hieß es zunächst. Sie würden geöffnet, hieß es Monate später, wenn das Bildungsministerium über die Frage der Schuluniformen entschieden habe. Bis heute ist die Frage der Schuluniformen nicht gelöst. Es ist auch nicht absehbar, ob sie das je sein wird. Erst vor wenigen Wochen haben die Taliban einen Mullah auf den Posten des Bildungsministers berufen, der als noch konservativer gilt, als es sein Vorgänger ohnehin schon war. Afghanistan ist damit das einzige Land auf der Welt, das Frauen höhere Bildung verwehrt.
„Die Stimme einer Frau“, verkündete der stellvertretende Direktor der Akademie der Wissenschaften in Kabul, seit einem Jahr ebenfalls ein Taliban, „darf nur im Privaten von ihrer Familie gehört werden.“ Würde jemand, der kein Familienmitglied sei, ihre Stimme vernehmen, begingen sie eine Sünde.
Das Leben für Hunderttausende Mädchen, niemand weiß, für wie viele genau, hat sich drastisch verändert. Nachdem sich die internationale Gemeinschaft von dem Land am Hindukusch abgewandt hat, versuchen sich die Schülerinnen und ihre Familien in den neuen Verhältnissen einzurichten, in einer Welt mit noch engeren Grenzen, so eng wie die Knoten eines Teppichs.
„Warum hast du uns diesen Teppich ins Haus gebracht?“, wirft Saliha oft ihrer Mutter vor. Sie weiß natürlich, warum. Der Winter naht, die Nächte werden kälter. Zu viert lebt ihre Familie in einem kleinen Mietshaus ganz am Rande der Großstadt. Mutter, zwei Töchter und ein Sohn, der noch keine zehn Jahre alt ist. Sie haben drückend hohe Schulden. Erst vor einem Jahr sind sie hier eingezogen. Das Haus, in dem sie davor, nur zwei Straßen weiter, wohnten, mussten sie verlassen; sie konnten die Miete nicht mehr zahlen. Der Vater verdingt sich als Landarbeiter in weit entfernten Dörfern. Für nur wenige Wochen im Jahr lebt er bei ihnen, selten bringt er ihnen Geld. Vermutlich hat er anderswo eine neue Frau geheiratet, muss eine andere Familie finanzieren. Erneut droht ihnen jetzt der Rauswurf. Sie sind mit der Miete wieder im Rückstand. So wie fast alle Familien, die in ihrer Nachbarschaft wohnen.
Also wissen sie nur zu genau, warum sie Teppiche knüpfen, die beiden Schwestern, Saliha auf der rechten Hälfte der Holzbank, Rahima auf der linken. Sie knüpfen gegen das Elend an.
An diesem Tag, es ist ein Dienstag Mitte Oktober, fehlen Saliha und Rahima bis zur Fertigstellung noch 40 Zentimeter. „Ich bin müde“, sagt Saliha. „Ich will nicht mehr.“ Sechs Monate Arbeit liegen hinter ihnen. Sechs Monate für zweieinhalb Meter. Fast pausenlos saßen sie auf der Holzbank. Je eher der Teppich fertig wird, desto eher bekommen sie das Geld.
„Mir tut der Rücken weh“, klagt Saliha und lässt die Hände sinken, schaut zu ihrer Schwester, die schweigend weiterknüpft. Rahima leidet ebenfalls unter Schmerzen, Zahnweh, seit Monaten. Erst der Erlös des Teppichs wird sie davon befreien. Dann endlich wird sie sich einen Zahnarzt leisten können.
„Du denkst zu viel nach“, sagt Rahima zu ihrer Schwester. „Wie sollen wir so je fertig werden?“ Saliha wirft ihr einen kurzen bösen Blick zu, nimmt dann aber wieder den Knüpfhaken auf, spannt damit den Hinterfaden nach vorne, zieht mit der linken Hand den Wollfaden um ihn, führt den Faden um den Vorderfaden, zieht ihn zwischen beiden hindurch, zieht straff, klopft den Knoten fest. Ein neuer Knoten. Dann der nächste. Dann der nächste. 30 Knoten in der Minute, so haben Forscher einmal in Indien errechnet, produziert ein durchschnittlich schneller Teppichknüpfer. Das sind rechnerisch 8640 Knoten in acht Stunden.

Der Vermieter der Familie will in einer Woche vorbeikommen, um die ausstehende Miete einzukassieren. Unbedingt muss der Teppich bis dahin fertig werden, sagt die Mutter, die Masouma heißt. Sie fürchtet, dass der Vermieter ihnen kündigen wird, wenn sie in einer Woche das Geld nicht haben, wenigstens einen guten Teil davon. Wenige Tage bleiben noch für den letzten halben Meter. „Ich kann nachts vor Aufregung nicht schlafen“, sagt Masouma.