Das Festmahl
Die Gesichter der Kinder von Abdul Khel: Sie sind schmutzig, Staub bedeckt sie und die Erde der Feldarbeit. Sie sind rissig vom Wetter, von der Entbehrung, der Höhensonne, vor der hier nur wenig Schatten schützt. Leuchtende Gesichter. Gesichter voller Hoffnung, voller Kraft. Oft sind sie zerschunden von den Narben der Wunden, die ihnen ihre Väter schlugen.
Ein Festmahl!, hat man ihnen gesagt. Die Kinder des Dorfes drängeln sich zu einem Knäuel, sie kichern und lachen, schieben sich aneinander vorbei. Sie sind zum Haus des Maliks gekommen, des Vorsitzenden der Ältesten, weil sie gehört haben, dass er heute Abend Gäste bewirtet, es ein Festmahl geben wird, hier im Dorf am Ende des Tales, in das schon lange keine Besucher mehr gekommen sind. Abdul Khel liegt in der Provinz Nangarhar im Osten Afghanistans. Es ist umgeben vom knapp 5000 Meter hohen Gebirgszug des Spīn Ghar und steht auf ausgetrocknetem, hartem Land.
Die Frauen und Mädchen, die wir, die Besucher, nicht zu Gesicht bekommen werden, kochten den ganzen Tag, putzten Gemüse, schnitten Fleisch, zerstampften Gewürze für diesen besonderen Abend. Ein Festmahl! Die Nachricht verbreitete sich schnell in der ganzen Nachbarschaft.
„Mein Vater ist Bauer“, sagt einer der Jungs, noch keine zehn, die neben uns auf das Auftragen der Speisen warten.
„Mein Vater schlägt Holz in den Bergen“, sagt ein anderer.
„Meiner macht nichts“, sagt ein dritter, nicht älter als zwölf. „Er schläft nur. Er ist drogenabhängig.“
„Meiner nimmt auch Drogen“, sagt der Junge neben ihm, auch nicht viel älter. Da lacht der andere: „Sein Vater ist brutal. Er schlägt ihn, bis sein Rücken grün ist!“ Der Junge schaut zu Boden, lacht gequält. Vater schlage immer dann, wenn sie kein Geld hätten für Opium und Meth. „Er schlägt dann meine Mutter, meine Schwestern und mich. Er schlägt uns mit allem, was er finden kann. Aber ich laufe dann weg.“
Zwischen den Jungs steht ein kleines Mädchen, drei Jahre alt. Sie schaut still auf uns. Ihr Vater, der aufseiten des alten Regimes kämpfte, wurde kurz vor ihrer Geburt getötet.
Seit über zwei Jahren herrschen in Afghanistan abermals die Taliban. Es ist weitgehend Frieden in diesem Land, das vier Jahrzehnte lang nur den Krieg gekannt hat. Aber Afghanistan ist international isoliert. Die meisten Hilfsorganisationen haben es verlassen. Als vor einer Woche im Westen Afghanistans bei einem der schwersten Erdbeben der letzten Jahre etwa 2500 Menschen ums Leben kamen, blieben die Überlebenden in den Dörfern weitgehend auf sich selbst angewiesen. Das Land ist von den internationalen Finanzströmen abgeschnitten. Die Wirtschaft, die fast vollständig von der Hilfe der Weltgemeinschaft abhängig war, ist kollabiert. Die Armut grassiert, das Elend der Drogensucht. Während die Taliban-Spitzen damit beschäftigt sind, den Staat in einen Staat der Mullahs umzubauen, wütet der Klimawandel, und Afghanistan erleidet die fünfte Dürre in Folge.
Der Malik hat uns im Hof seines Wohnsitzes Pritschen aus Holz aufstellen lassen. Die Teezeremonie zur Begrüßung. Wir kennen uns seit sechs Jahren. Der Malik, der Ghusa Gul heißt, herzlich, verschmitzt, manchmal auch rau. Nicht ein Haar grauer geworden, schmeichle ich ihm. Er winkt lächelnd ab. „Ich färbe mein Haar. In Wahrheit bin ich mittlerweile komplett ergraut.“
Wer in Afghanistan etwas über die Zukunft des Landes erfahren will, sollte nicht in Kabul nach Antworten suchen, sondern in dem 3000 Einwohner starken Abdul Khel. Wandel, der später das ganze Land erfasst, oder Unheil – beides beginnt meist in Dörfern wie Abdul Khel.
2017, bei meinem ersten Besuch, stand der Ort noch größtenteils unter Kontrolle des „Islamischen Staates“, den die Taliban auf der einen Seite, die US-Special Forces und die damalige afghanische Regierung auf der anderen Seite bekämpften.
2018 hatte die Regierung das Dorf zurückerobert und herrschte mithilfe einer Miliz, geführt von Bilal Batcha, einem lokalen Warlord, noch grausamer, so hieß es, als die Taliban.
2021 ergaben sich die Regierungstruppen kampflos. Seither regieren wieder die Taliban, doch der „Islamische Staat“, der vereinzelt Anschläge verübt, ist nicht ganz verschwunden.
Auf den ersten Blick sieht das Dorf im August 2023 aus wie vor zwei Jahren, als ich den Malik das letzte Mal besuchte. Eine Ansammlung aus Lehmwürfeln in einer weiten Talsenke. Jedes Haus umgeben von meterhohen Mauern. Jedes Haus weit entfernt vom nächsten. Jede Großfamilie siedelt für sich.

Immer noch gibt es in Abdul Khel keine Toiletten mit fließend Wasser, sondern nur Sand und flache Steine. So unterschiedlich die Machthaber in der Vergangenheit waren, daran hat keiner von ihnen etwas geändert. Eine große Plastikmatte wird auf dem Boden ausgerollt. Die Kinder der Nachbarschaft werden von den Männern zurückgescheucht. Aus sicherer Entfernung schauen sie zu. Einer der Söhne des Maliks trägt eine Plastikkanne mit Wasser heran. Er geht gebeugt von Gast zu Gast und gießt Brunnenwasser über die Hände, reicht dann ein Frotteetuch, immer dasselbe, mit dem sich jeder die Hände trocknet.
„Niemand genießt den Frieden hier“, sagt der Malik. Die Armut zehre immer mehr an den Menschen. Von hundert Familien, so schätzt er, litten nur fünf keine Not. Die Felder geben immer weniger her. Es regnet seit einigen Jahren kaum.
Als es vor wenigen Wochen doch einmal regnete, brachte das Wasser sogleich große Zerstörungen mit sich, klagt ein anderer Ältester, der sich neben Ghusa Gul niedergelassen hat. Vier Tage hintereinander habe es gegossen, so stark wie selten zuvor. Die Wassermassen hätten die fruchtbare Erde von den Felder geschwemmt. „Ein Viertel der Felder ist zerstört“, sagt er. Es ist, als hätte sich alles gegen die Menschen von Abdul Khel verschworen.
