Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, der Tod wird nicht mehr sein.“ – Offenbarung, 21:4
Die Kinder kamen in Scharen zu Evelyn Kakuyuni*. Die älteren Kinder überredeten die jüngeren. Sie drängten in ihren Unterricht, selbst wenn es ihnen die Eltern verboten hatten. Die Kinder ließen sich nicht aufhalten vom Weinen ihrer Mütter oder von den Warnungen ihrer Väter. Sie verließen ihre Familien und zogen in die große Kirche, in der Kakuyuni Tag für Tag die Bibelstunden gab. Sie lacht, als sie sich daran erinnert.
Das Lachen von Evelyn Kakuyuni ist so strahlend, dass es schwer ist, sich ihm zu entziehen. Sie sitzt in einem Restaurant in Malindi, einer Küstenstadt in Kenia. Seit Stunden versucht sie sich zu erklären. Die Kinder waren wissbegierig, und sie wollten ihr gefallen. Hunderte aller Altersgruppen saßen zu den Füßen von Kakuyuni. „Jesus liebt euch“, sagte sie. „Fastet“, sagte Kakuyuni. Denn dann würden sie Jesus nahe sein. Die Kinder hörten eines Tages ganz auf zu essen, weil sie ihm so noch näher sein konnten, eins werden konnten, verschmelzen mit seiner Göttlichkeit.

Sie, die alte Lehrerin, ringt um Worte, dann lacht sie wieder, flüchtet sich in dieses Lachen. Sie ist in ihren Fünfzigern, spricht mit rauer Stimme. Knochiges Gesicht. Ihr kahl rasierter Schädel ist unter einem Kopftuch verborgen. Sie ist eine Frau, die Gewissheit verspürte, wo sich andere verloren fühlten, die Trost spendete, wo andere nur Trostlosigkeit sahen, und die 200 Kinder in den Tod führte.
„Ich habe nichts zu bereuen“, sagt sie.
Es ist nicht einfach, sie zu treffen. Sie wechselt täglich ihre Schlafstätte. Die Bibellehrerin versteckt sich vor der Polizei, vor allem aber vor den Familien der Kinder, die sie einst unterrichtete. Die meisten ihrer Schützlinge sind nicht mehr am Leben. Kakuyuni lehrte die Lehre der Good News International Church, einer protestantischen Freikirche, deren Mitglieder sich vor einem Jahr zu Tode hungerten. In einem Wald weit außerhalb der Stadt, der den Namen Shakahola trägt, einen Namen, der mittlerweile in ganz Kenia bekannt ist, wurden bis heute 436 Leichen gefunden. Über 600 Gläubige gelten als vermisst, die meisten von ihnen sind vermutlich tot.
Ich, der Reporter, sitze Kakuyuni gegenüber und ringe zusammen mit ihr. Ich möchte verstehen: den Sinn. Das Warum. „Der Pastor hat uns angeleitet“, antwortet sie. In seinen Träumen habe Gottes Stimme ihm verkündet, dass sich die Offenbarung der Bibel erfülle und das Ende der Welt nahe sei. „Gott spricht zu meinem Pastor.“
Gott. Teufel. Wahn.

Diese Geschichte, die an die Grenzen des menschlichen Verstandes rührt, hat sich in den letzten Jahrzehnten an vielen unterschiedlichen Orten der Welt in unterschiedlicher Weise zugetragen. 1978 im südamerikanischen Guyana, wo 928 US-Amerikaner in einem Massensuizid starben. Auf den Philippinen im Jahr 1985, wo sich 68 Menschen umbrachten. 1987 in Südkorea, 33 Tote. Sie wiederholte sich mehrfach in den USA, 1993 in Texas mit 81 Toten, 1997 in Kalifornien mit 39 Toten. 1994 brachten sich in der Schweiz 48 Sektenmitglieder um, 1995 starben in Frankreich 16 Menschen, im Jahr 2000 in Uganda circa 500. 2022 traf Kenia die Katastrophe. Sie wird die Welt nicht zum letzten Mal heimgesucht haben. Sie wird sich auch in Zukunft wiederholen, an anderen Orten, unter anderen Namen, solange es Menschen gibt, die glauben und hoffen und lieben.
„Und ich sah, dass das Lamm eines der sieben Siegel auftat, und ich hörte eine der vier Gestalten sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm!“ – Offenbarung, 6:1
In Handschellen betritt Pastor Paul Nthenge Mackenzie das Gericht in Mombasa, begleitet von einem Dutzend bewaffneter Gefängniswärter. Er geht in einem langen Zug kahl rasierter Männer. Paarweise sind seine Anhänger mit Handschellen aneinandergekettet. Es ist ein Montagmorgen, neun Uhr, der Beginn einer neuen Verhandlungswoche. Ein Spezialbus, dessen Innenraum ein Käfig aus Stahlgittern ist, hat sie aus dem Hochsicherheitsgefängnis hierhergebracht. Shimo La Tewa heißt das Gefängnis, was übersetzt wird mit: das Höllenloch. Das Rasseln der Ketten erfüllt die Gänge des Gerichts. Es folgt der Zug der Frauen, auch sie fast kahl geschoren.
91 Angeklagte nehmen auf den Holzbänken Platz, 60 Männer und 31 Frauen. Zu Prozessbeginn im Sommer vergangenen Jahres waren es noch 94 – drei sind in ihren Zellen mittlerweile an Krankheiten gestorben. Die Staatsanwaltschaft hat in vier Punkten Anklage gegen den Pastor und seine Anhänger erhoben: Mord, Totschlag, Terrorismus, Kindesmissbrauch. Vier Anklagen und vier Verfahren. Über 200 Zeugen. Niemand weiß, wann mit den Urteilen zu rechnen ist. Die Luft im Saal ist stickig. Die Menschen stehen, sie kauern auf dem Boden, schweißgetränkt.
Nach über einem Jahr in Haft hat Mackenzie, 52 Jahre alt, deutlich an Gewicht verloren. Der Mann, den die Videos seiner Gottesdienste auf YouTube zeigen, dick und aufgedunsen, hat äußerlich nur noch wenig mit dem Angeklagten hier im Gericht gemein. Das Leuchten ist ihm aber geblieben. Dieses Brennen von innen heraus. Er grüßt jeden Einzelnen. Für jeden hat er ein persönliches Wort, fast wirkt er wie ein Politiker im Wahlkampf. Er steht vor den Reihen der Angeklagten, lacht, tauscht Gefälligkeiten mit den Polizisten aus. Die haben Angst, sich mit ihm fotografieren zu lassen, seit Gerüchte kursieren, dass längst auch sie in seinen Bann gezogen worden seien.
„Die Welt da draußen versteht es nicht“, sagt Mackenzie zu mir vor Verhandlungsbeginn im Gerichtssaal. „Im Fasten wachsen wir spirituell. Gott spricht zu uns über unsere Träume.“ Ein Polizist will das Gespräch beenden. Mackenzies Anwalt stoppt ihn. „Beim Fasten träumen wir“, sagt der Pastor. „Beim Träumen hören wir den Heiligen Geist. Wir zogen in den Wald, um zu träumen.“ Weitere Polizisten eilen heran, wieder interveniert der Anwalt, vergeblich. Geschrei bricht im Saal aus, die Polizisten zerren mich fort.