2023

7. Oktober, zwischen 6 Uhr und 6.30 Uhr

Sie wacht als Erste auf. Inbal, 37 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern und schwanger im sechsten Monat. In der Ferne hört sie ein dumpfes Grollen, das aus dem Tal zu ihnen heraufdringt, aus Richtung des Gazastreifens. Inbal lässt ihren Mann weiterschlafen. Sie will ihn nicht wecken. Maor, 37, ist erst mitten in der Nacht mit dem fünfjährigen Sohn aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen. Der Junge hatte einen Asthma-Anfall, zum ersten Mal.

Inbal, so wird sie es später erzählen, lauscht auf dem Rücken liegend dem Grollen der Geschosse. An die gelegentlichen Raketenduelle zwischen der israelischen Armee und der Terrororganisation Hamas hat sie sich längst gewöhnt. Aber heute ist etwas anders. Das Donnern ist lauter, intensiver. Inbal schaltet ihr Handy ein. In den WhatsApp-Gruppen ist von Toten in den Nachbardörfern die Rede, von Ermordeten. Bewaffnete laufen herum und erschießen wahllos Menschen. Inbal weckt Maor, sie hat Mühe zu sprechen, Panik steigt in ihr auf.

Gemeinsam, so wird sie später erzählen, holen sie die Kinder aus den Betten, den Sohn und die dreijährige Tochter. Gemeinsam stehen sie in ihrem Haus, wie gelähmt, unschlüssig, was sie tun sollen. Sie haben Angst, drinnen zu bleiben. Sie haben aber auch Angst, nach draußen zu gehen, die Tür zu öffnen.

Im Morgengrauen dieses Tages feuert die Hamas Tausende Raketen auf Israel. Die meisten werden noch in der Luft abgefangen, einige kommen durch, treffen Häuser, Autos, Menschen. Gleichzeitig überrennen Hamas-Kämpfer die Grenzbefestigung zu Israel und greifen mehr als 15 Dörfer und Städte an. Die israelische Armee beginnt umgehend mit schweren Luftangriffen auf Gaza. An diesem Tag verkündet das Militär, mehr als 200 israelische Zivilisten seien getötet worden. Laut dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira sterben mindestens 232 Menschen bei den Luftangriffen auf Gaza.

Etwa 15 Kilometer weiter westlich, auf der anderen Seite der Mauer, die Israel von Gaza trennt, schreckt Jamal, 50, aus dem Schlaf hoch, so wird er später erzählen. Auch er hört ein Dröhnen, dann noch eines, aber weit entfernt. Seine Frau Faten, 40, neben ihm schläft weiter. Er dreht sich um, will wieder einschlafen, hört Fatens gleichmäßigen Atem.

Dann wieder ein Donnerschlag, diesmal ganz nah. Die vier kleinsten ihrer Kinder, vier, sechs, acht und neun Jahre alt, stehen plötzlich im Schlafzimmer der Eltern.

„Das ist normal“, sagt Jamal zu ihnen. „Das ist bald vorbei.“ Aber es geht nicht vorbei. Die Explosionen steigern sich, manche lassen die Fenster vibrieren, manche die Wände erzittern. Jamal und Faten versammeln die Familie im Treppenhaus, sieben Kinder, das älteste 20 Jahre alt. Im Treppenhaus, weiter weg von Fenstern und Außenwänden, wähnen sie sich am sichersten.

Dieses Dossier erzählt von zwei Familien. Die eine lebt auf israelischer Seite. Sie konnte der Autor in den Tagen nach dem 7. Oktober begleiten. Die andere Familie ist in Gaza zu Hause, der Autor kennt sie von früheren Reisen, zu Jamal, dem Vater, hielt er seit Kriegsausbruch telefonisch Kontakt. Nicht alles von dem, was Jamal erzählt, lässt sich überprüfen; im Lichte dessen, was man über die Ereignisse in Gaza weiß, erscheint es jedoch plausibel.

Die beiden Familien kennen sich nicht und werden sich vermutlich auch nie kennenlernen. Was sie verbindet, ist die Angst, die sie nach dem Terrorangriff der Hamas erfasst hat. Und der Wunsch, zu überleben.

Jamal und Faten heißen eigentlich anders. Keine Namen, keine Fotos. Das war die Bedingung dafür, dass Jamal sich auf die Gespräche mit der ZEIT einließ. Zu unsicher sei, wie dieser Artikel von ihrem Umfeld aufgenommen werde.

Auch Inbal und Maor bitten darum, ihren Nachnamen nicht zu nennen.

7. Oktober, gegen 9.30 Uhr

Im größten Kindergarten des Kibbuz Ruhama, in dem Inbal und Maor leben, kommen Dutzende Menschen zusammen. Gemeinsam wollen sie begreifen, was geschehen ist, und beraten, was zu tun ist. Maor ist unterdessen zum Stahltor des Kibbuz gelaufen, um die Wachmannschaft zu verstärken, alle sind Kibbuz-Bewohner wie er. Es heißt, Hamas-Kämpfer seien auch in ihre Richtung unterwegs. „Da haben wir unsere Waffen gezählt“, sagt Maor später. „Wir fanden heraus, dass wir nur drei Pistolen hatten.“ Vor einigen Jahren habe das israelische Verteidigungsministerium die Selbstverteidigungseinheit dieses Kibbuz weitgehend entwaffnet, so erzählen sie hier. Die Gewehre seien an die Armee verteilt worden, wohl eine Sparmaßnahme. „Es war gespenstisch am Tor“, erzählt Maor. „Wir fragten uns, was wir mit drei Pistolen ausrichten können.“

Maor und Inbal haben sich mit dem Leben im Kibbuz einen Traum erfüllt. Vor drei Jahren sind sie hierhergezogen, weg von der Stadt, in der sie beide aufwuchsen, Be’er Scheva, in der sie beide studierten, er Chemie, sie Umweltfolgenabschätzung. Dort habe ihnen der wachsende Einfluss nationalreligiöser Juden widerstrebt, außerdem die Anonymität, die Gleichgültigkeit vieler Menschen. „Wir wollten Teil von etwas sein“, sagt Inbal. Sie suchten lange, schließlich fiel ihre Wahl auf den Kibbuz Ruhama. 750 Einwohner, ein friedlicher Ort, umgeben von Wald und Feldern. In seiner Mitte geborgen: vier Kindergärten, das Herz der Siedlung, um das sich schützend Straße um Straße, Hausreihe um Hausreihe legt. „Perfekt für Kinder“, sagt Inbal.

Der Kibbuz-Rat, der einmal jährlich gewählt wird, wies ihnen eines der ältesten Gebäude zu, mehr Baracke als Haus. Kaum isoliert, aber ein Anfang, die Miete niedrig. Dann, vor einigen Monaten, konnten sie ein Grundstück kaufen für ein neues, größeres Haus. Eine Woche vor dem Angriff der Hamas hoben Bagger eine Baugrube aus. Arbeiter legten die Holzeinfassungen an, in die der Beton für das Fundament gegossen werden soll. „Arbeiter aus Gaza“, sagt Maor bitter lächelnd.

Jamal hat sich entschieden, mit der Familie das Haus zu verlassen. Zweistöckig steht es auf freiem Feld, ganz am Rand von Gaza-Stadt, die Grenze ist nur einen Kilometer entfernt, so beschreibt er es. Von den Fenstern aus könne man die gewaltige Mauer sehen, die Israel zu seinem Schutz gebaut hat, sechs Meter hoch, aus Beton, gekrönt von Maschinengewehrtürmen.

Jamal hat in Deutschland studiert, Ingenieurwesen, sich dann aber zusammen mit Faten entschieden, in den Gazastreifen zurückzukehren. Sie haben beide einen deutschen Pass. Aber damals, vor mehr als 15 Jahren, war in ihrer alten Heimat alles im Aufbruch. 2005 hatte Israel seine Siedlungen im Gazastreifen aufgegeben und das Land den Palästinensern überlassen. Es schien, als würden sich die Verfechter einer Zwei-Staaten-Lösung durchsetzen. Im Gazastreifen sollte ein Hafen entstehen, Kraftwerke, Fabriken. Die Weltgemeinschaft plante, Milliarden bereitzustellen. Jamal und Faten wollten daran mitwirken. Sie kehrten zurück und bauten ein Haus.

Nur das Nötigste mitnehmen! Das habe er am Morgen dieses 7. Oktober zu seinen Kindern gesagt, nachdem die Gegenschläge der israelischen Armee begonnen hatten, erzählt Jamal. Ein T-Shirt für jeden, eine Unterhose zum Wechseln, ein Kleid oder eine Hose, mehr nicht. Als der Beschuss das erste Mal nachlässt, rennen sie zum Auto und fahren zum Haus seiner Mutter. Es ist nur fünf Minuten entfernt, aber es steht nicht frei am Rand der Stadt, sondern eingezwängt in einem Gewirr aus engen Gassen. Das bietet einen gewissen Schutz vor den Bomben und Raketen.

„Ich lebe noch“, sagt Jamal am Telefon. Seine Kinder spielten jetzt mit den Kindern seiner beiden Brüder, die im Haus der Mutter wohnen. Bei Beschuss könnten sie ins Erdgeschoss fliehen. Einen Keller haben hier nur wenige Häuser.

„Wir versuchen, die Kinder zu beruhigen“, sagt Jamal. „Das ist das Wichtigste.“

8. Oktober

Israelische Soldaten bekämpfen Hamas-Kämpfer, die sich noch immer im Süden des Landes, außerhalb des Gazastreifens, befinden. Mittlerweile zählt die Armee mehr als 700 tote Israelis. Die USA schicken Kriegsschiffe in das östliche Mittelmeer, unter anderem einen Flugzeugträger.

Die Kibbuz-Bewohner haben sich über Nacht in ihrem Dorf verbarrikadiert. Bisher hat niemand gewagt, zu fliehen und die scheinbare Sicherheit des meterhohen Zaunes zu verlassen, der den Kibbuz umgibt. 90 Kameras sind an diesem Zaun befestigt, ihre Bilder werden auf Monitore in einem Büro im Kibbuz übertragen. Der Kibbuz-Rat hat die Bewohner in Wachschichten eingeteilt, jede Schicht dauert zwischen zwei und drei Stunden. Immer drei Bewohner gleichzeitig starren in dieser Nacht und den nächsten Tagen und Nächten auf die Monitore, die verlassene Straßen zeigen, endlos lange Zaunstrecken und Nachtfalter, die im Scheinwerferlicht flattern.

Später wird sich herausstellen, dass die Hamas-Kämpfer bis auf wenige Kilometer an den Kibbuz herankamen.

Am Nachmittag beschließen Maor und Inbal, den Kibbuz zu verlassen. Wie fast alle anderen Familien mit kleinen Kindern. Sie packen das Notwendigste in den Kofferraum, ein paar Kleider zum Wechseln, ein paar Spielsachen, so erzählen sie es später. Dann fahren sie nach Norden, in die Nähe von Tel Aviv, wo Inbals Eltern wohnen. Inbal wird die nächsten Tage dort verbringen. Ihre Schwestern und deren Kinder werden zu ihr stoßen. Die Familie kommt zusammen. In ihrer Gemeinschaft lässt sich der Schrecken ein wenig leichter ertragen.

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