2024

In der Warteschleife

Ich bin verwirrt, auch verletzt, zornig, manchmal voller Wut, Gefühle, gegen die ich mich wehre, sie gehören sich nicht, sind im wahrsten Sinne ungehörig, denn welches Recht habe ich dazu: Diese Menschen sind keine ungezogenen Kinder. Schon gar nicht sind sie Kinder. Die zehn erwachsenen Frauen und Männer können mir womöglich mehr beibringen als ich ihnen. Sie haben mehr erlebt als ich, sprechen mehr Sprachen als ich. Von einem Tag auf den anderen sind sie vor zweieinhalb Jahren aus ihrer Heimat Afghanistan nach Deutschland katapultiert worden, mitten hinein in die Provinz, in der ich lebe, nach Reutlingen, einer schwäbischen Kleinstadt, in eine Kultur, die sie genauso wenig verstehen wie ich die ihre. All ihr Wissen, ihre Erfahrungen, nutzen ihnen jetzt nichts mehr, weil sie das Schicksal in eine ferne Welt zwang, die radikal anders funktioniert, so sehr anders, dass hier die Naturgesetze ausgehebelt zu sein scheinen.

In Afghanistan war ich ohne ihre Unterstützung hilflos wie ein Fisch ohne Wasser. Sie haben ihr Leben für mich riskiert. Ohne ihre Anleitung hätte ich ständig grundlegendste Regeln verletzt. Ohne sie hätte ich dort nicht eigenständig leben können. Ohne sie, um es deutlich zu sagen, hätte ich es oft nicht einmal auf die Toilette geschafft. Das ist die Wahrheit.

Das ist mein Mantra. Immer wieder habe ich mir es in den vergangenen Monaten aufgesagt, wenn ich von ihren Problemen gehört habe. Von ihren Schwierigkeiten in der Freiheit, zu der ich ihnen verholfen habe.

Fische ohne Wasser. Im Sommer 2021 nahmen die Taliban im Sturm die Hauptstadt Kabul ein. Menschenmassen stürmten zum Flughafen. Verzweifelte hängten sich an die Tragflächen startender Flugzeuge. Zehntausende wurden von einem Tag auf den anderen aus ihrem alten Leben gerissen, darunter die Gruppe, die jetzt in Reutlingen lebt, 33 Frauen und Männer, Kinder aller Altersklassen, die Familien unserer Übersetzer und Rechercheure, die die Berichterstattung der ZEIT aus Afghanistan vor Ort unterstützt hatten.

Sie hatten damals nur die Kleider, die sie trugen, mitnehmen können, nicht einmal einen Koffer. So kamen sie an. Nur wenige von ihnen waren bis dahin im Ausland gewesen. Die Frauen hatten ihr Leben fast ausschließlich in den Innenräumen weniger Häuser verbracht. Die meisten von ihnen hatte ich noch nie gesehen. Noch nie hatten die Frauen vor der Evakuierung nach Deutschland einen Laden betreten, um einzukaufen. Noch nie konnten sie über eigenes Geld verfügen. Die Familien gehören der Ethnie der Paschtunen an, ein Bergvolk, konservativ, verharrend in den Traditionen. Die Männer betrachten Frauen als eine Art Perlen. Frauen sind für sie zerbrechliche Kostbarkeiten, die feste Schalen um sich herum brauchen, fensterlose Mauern, Schutzmauern, Kerkermauern, je nach Perspektive, behütet vor allen Blicken.

Bei unseren ersten Begegnungen vor drei Jahren trauten sie sich kaum, mir in die Augen zu sehen. Jetzt schauen sie mich selbstbewusst an; daran messe ich für mich den Fortschritt.

Das sind also meine neuen Nachbarn. Sie alle wohnen weniger als fünf Gehminuten von mir entfernt: Waheedullah Masoud, genannt Waheed; wenn ich aus Afghanistan berichtete, war er mein Übersetzer. Seine Frau Saliha samt neun Kindern. Er hat lange für die US-Truppen gearbeitet, nie hat er Bart getragen. Fast wirkt er wie ein Amerikaner.

Gul Mina, die Witwe meines Mitarbeiters Amdadullah in der Provinz Nangahar, der wenige Tage vor dem Regimewechsel ermordet wurde. Ihre vier Kinder. Immer wieder bricht Gul Mina in den ersten Monaten in Tränen aus. Als ich ihr den Laptop ihres Mannes aus Afghanistan mitbringe, presst sie den Computer an ihre Brust und hält ihn lange weinend eng umschlossen. Die drei Söhne sind hyperaktiv, kommen nie zur Ruhe, zerren und ziehen. Zu meinem Nachbarn wurde auch: Ezatullah Khoganyi, Ex-Verkehrspolizist, einer der drei Brüder des Toten, der als männlicher Begleiter mit der Witwe ausreisen musste, das verlangten die Taliban. Kann nicht lesen und schreiben, dazu seine Frau, die es auch nicht kann, und ihre sechs Kinder.

Die Hälfte der Familie Mirzad mit vier Personen. Osman Mirzad hatte in Kundus eine deutsche Hilfsorganisation geleitet. Zwei Söhne, eine Tochter. Alle Opfer der Taliban: der älteste Sohn Najibullah, 37, angeschossen, Omar, 18, entführt und gegen Lösegeld freigelassen, die Tochter, Moqadasa, 21, auf dem Nachhauseweg von der Universität mit Messern verletzt. Ihre Mutter, zwei Töchter, 19 und 16 Jahre alt, und ein Sohn, der ist sechs, sind durch die chaotischen Umstände der Flucht in Afghanistan zurückgeblieben – täglich telefonieren sie.

„Ich werde in einem halben Jahr Deutsch können“, sagte Waheed Masoud zu Beginn optimistisch. Schließlich kann er 21 paschtunische Dialekte, Dari, Englisch und etwas Urdu.

„Ich werde lernen, lernen, lernen“, sagte auch Osman Mirzad. Das sagten auch die Frauen. Das sagten alle.

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