2023

Stille. Nur das Geräusch von Erde, die herunterrieselt. Irgendwo über uns höre ich das leise Knacken von Bäumen. Das Rauschen von Ästen und Zweigen, die zu Boden fallen.

Jeden Muskel angespannt, den Körper zusammengekrümmt, lausche ich hinaus in die Nacht. Ich liege in einem Loch im Boden, einem Unterstand, mit dem Spaten gegraben, knapp einen Kilometer von der Front entfernt. Zwei Meter tief, drei mal drei Meter groß, mit einer Lage Holzstämme und Sandsäcken überdacht. Ich habe die Augen geschlossen, umklammere meinen Kopf mit den Händen und lausche.

Stille.

Staub quillt in den Unterstand hinein. Es ist nur wenige Atemzüge her, da war plötzlich ein Surren in der Luft. Erst fern, wurde es schnell lauter, wurde zu einem Heulen, einem reißenden Fauchen, so laut, als wollte ein Flugzeug über uns zur Landung ansetzen. Ein greller Blitz, von dem ich nicht wusste, ob ich ihn vor meinen Augen sah oder in meinem Kopf, dann, für den Bruchteil einer Sekunde, hob sich die Erde um uns herum. Die Decke, die Wände, der Boden – alles hob sich. Als würde in diesem Moment unser Unterstand aus der Erdkruste in die Dunkelheit der Nacht geschlagen.

Die Rakete eines russischen Kampfflugzeuges, werden wir später erfahren. Knapp hat der Pilot uns verfehlt. „Es ist das erste Mal, dass uns ein Jet nachts angegriffen hat“, wird mir am nächsten Tag Kostya erzählen, der Kommandeur der Einheit, die wir, Fotografin, Übersetzer und ich, mehrere Tage lang in ihrer Stellung an der Front im Nordosten der Ukraine begleiten. Die Rakete ist über uns oder neben uns detoniert, wo genau, wissen wir nicht.

Ein Surren, ein weiteres Mal. Wieder hält es auf uns zu, wieder wird es zu einem Heulen, ein Schlag, der ein zweites Mal die Wände erzittern lässt. Wir kauern uns in die Ecke am Eingang, um fliehen zu können, bevor der Unterstand, der Schutz sein soll, zum Grab wird.

Wir wissen nicht, ob unser Unterstand beschädigt, wissen nicht, ob der zweite, nur 50 Meter entfernt, getroffen wurde. Dort sind die Männer untergebracht, über die wir berichten, die Fernmelder der 100. Brigade der Territorialverteidigung der Ukraine. Wir wagen es nicht, zu ihnen hinüberzulaufen, um nachzusehen. Wir wagen es nicht einmal, auch nur einen Schritt vor den Eingang unseres Erdlochs zu setzen.

Noch lange lauschen wir in die Nacht auf das Heranheulen weiterer Raketen und die Stimmen von Verletzten.

Stille. Nirgendwo birgt sie so viele Schrecken wie hier.

Die erste Nacht. Der Krieg hat in der Ukraine in den vergangenen Monaten eine Landschaft geschaffen, die Europa nur noch aus Geschichtsbüchern und Gedenkstätten des Ersten Weltkriegs kannte. Aus Äckern und Feldern wurden Minenfelder, zerpflügt von Schützengräben, Laufgängen und Panzersperren, durchsetzt mit Unterständen und Bunkern. Auf Satellitenbildern ist das Ausmaß zu erfassen: 2450 Kilometer lang, bis zu 60 Kilometer breit. Hunderttausende Soldaten sind auf beiden Seiten der Kampflinie unter die Erde gezogen. Der Mensch ist hier wieder Höhlenbewohner.

Im zweiten Jahr des Krieges haben sich beide Armeen so hochgerüstet, dass sich im Grauen ein Gleichgewicht eingestellt hat. Im Winter waren die Russen daran gescheitert, die ukrainischen Stellungen zu durchbrechen. Nun versucht die ukrainische Armee seit einem Monat, Gelände zu gewinnen. Die groß angekündigte Großoffensive. Die Erfolge aber sind bisher in wenigen Quadratkilometern zu messen. Die Soldaten beider Seiten graben sich immer tiefer ein. An den meisten Frontabschnitten ist der Krieg zu einem Stellungskrieg erstarrt. Hunderte Menschen sterben jeden Tag.

Wochenlang haben wir mit dem ukrainischen Militär verhandelt, nur selten gewährt es Journalisten Zugang zur „Kontaktlinie“. So nennen sie euphemistisch den Verlauf der Schützengräben. Kostya, der junge Offizier, dessen Kompanie wir die nächsten Tage begleiten werden, nimmt uns 20 Kilometer hinter der Front in Empfang. Hier, in einem Dorf knapp außerhalb der Reichweite der meisten russischen Geschütze, hat die Führung seiner Brigade ihr Hauptquartier.

Wir haben in dieser Reportage die Namen der meisten Orte und aller Personen geändert, aus Sicherheitsgründen.

„Wir müssen uns beeilen“, sagt Kostya, 28, erst vor Kurzem zum Leutnant befördert. Es dämmert bereits. Der Beschuss durch die russische Artillerie habe gerade etwas nachgelassen, was sich aber jederzeit ändern könne. Kostya hat Bauingenieurwesen studiert. Jetzt kommandiert er 90 Soldaten. Er steigt in einen Nissan Frontier, gebraucht aus Deutschland importiert. Freunde haben ihn mit Spendengeldern erworben. Ein Mechaniker der Brigade hat ihn mit grüner Tarnfarbe umgespritzt. Fahrzeuge sind an der Front ein rares Gut, leicht fallen sie Drohnenangriffen zum Opfer.

Die Fahrt führt durch Ansammlungen von Ruinen, die einmal Dörfer waren, erst von den Russen erobert, später von den Ukrainern zurückerobert. Gerippe aus verkohlten Balken und halb eingestürzten Wänden. Nur noch wenige Zivilisten wohnen hier. Viele sind mit den abziehenden Russen geflohen. Die Straßen sind Schneisen aus Schlamm. Der Stahl der Panzer hat sie zertrümmert. Eine Brücke über einen kleinen Fluss, mehrfach gesprengt, mit Erddämmen geflickt, das Geländer von Geschossen in alle Richtungen verbogen. Das Wrack eines gelben Schulbusses, mit dem russische Soldaten vor den anrückenden Ukrainern in die nahen Wälder fliehen wollten. Eine Granate traf den Bus. Die Leichen lagen noch viele Tage lang auf dem Kunstlederpolster der Sitze.

Der Wald dann endlich, Baumkronen erheben sich über dem Nissan. Der Wald von Kreminna, einer Kleinstadt, die auf der anderen Seite der Front liegt. Dort, wo die Bäume dicht genug stehen, verbirgt uns nun das Laub vor den Kameras der russischen Drohnen. Früher war der Wald ein Nationalpark, ein Ausflugsgebiet für Familien mit vielen kleinen Seen. In den vergangenen Monaten hat er sich in ein Schlachtfeld verwandelt, wie die Stadt Bachmut einer der umkämpftesten Orte der ganzen Front. Kostyas Einheit hält hier eine prekäre Position am äußersten Ende eines Frontwinkels. Im Norden und Osten stehen die Russen.

Schweigend laufen wir durch den Wald, Kostya mit seiner Kalaschnikow voraus. Den Wagen hat er unter Bäumen geparkt, hat ein Tarnnetz über ihn gezogen. Die ausgeglühte Karosserie eines Kleinwagens irgendwo. Das Zweier-Team, das die Drohnen des Bataillons steuerte, wurde vor drei Wochen von einer Granate getroffen. Beide Männer wurden schwer verletzt, überlebten aber.

Frisches Gras wächst auf schwarzem, verkohltem Waldboden. Immer öfter sehen wir zerfetzte Bäume. In ihrem Holz stecken Metallteile. Der Wald scheint menschenleer, und ist doch voller Menschen. Alle hundert Meter passieren wir Eingänge zu verborgenen Unterständen anderer Einheiten, getarnt mit Stämmen und Ästen. Es ist fast dunkel, als wir bei Kostyas Stützpunkt ankommen. In der Ferne vereinzeltes Geknatter von Maschinengewehren.

Wir betreten einen kurzen Laufgraben, der sacht in den Waldboden führt, links und rechts eine Holzpalisade, dann stehen wir im Zwielicht einer kleinen Kammer. „Es ist heute eigenartig ruhig“, begrüßt uns Orest. Kantig, fast kahl rasiert, die Augen leicht glasig, ein Mann, der, selbst wenn er lächelt, selten lustig ist. Er sitzt an einem Tisch mit alten Telefonen und neuen Funkgeräten. Die Kommunikationszentrale von Leutnant Kostya. Die Aufgabe der Fernmelder ist es, von hier aus die Verbindung zum Bataillons-Hauptquartier zu halten – und gleichzeitig zur vordersten Linie, wenige Hundert Meter entfernt.

Drei Männer drängen sich auf engstem Raum. Anatoli, 47, ein Maurer, der bärtige Roman, 24, Lagerarbeiter, und Orest, 54, der in seinem Leben schon vielen Berufen nachgegangen ist, er war Nachtportier, Parkwächter, Küchenhilfe. Sie alle wirken übermüdet und bleich, selten sehen sie das Tageslicht. Es riecht nach Erde, nach frisch geschlagenem Holz, nach Schweiß. Es gibt ein Sofa, ein Feldbett, ein Stockbett. Die meisten Möbel stammen aus verlassenen Häusern eines zerstörten Dorfes. Der Tisch, an dem Orest sitzt, ist eine Schulbank aus der leeren Grundschule. Vor ihm liegt ein Logbuch. Jedes Ereignis, das ihnen gemeldet wird, wird darin eingetragen, die Front im DIN-A5-Format. Dem Logbuch trauen die Kommandeure mehr als digitalen Speichern – Logbücher können nicht gehackt werden.

Ein Luftstoß jagt von draußen in den Unterstand. Der Boden wankt. In der Luft ein Geräusch wie ein hohles Orgeln, das allmählich leiser wird und erstirbt. „Die Unseren“, winkt Orest ab. Mehrere ukrainische Mörserstellungen befinden sich um uns herum. Auch ihre Mannschaften leben in Erdlöchern.

Nach wenigen Sekunden hört man die Einschläge in der Ferne. Dann wird es wieder still. Die Mörserbesatzungen ziehen sich in ihre Unterstände zurück und warten. Alle wissen, die Antwort der Russen kommt rasch.

Minuten später beginnen sie zu feuern. Es ist 20.47 Uhr, Orest notiert die Uhrzeit im Logbuch. Explosionen in Sekundenabständen, meistens vier hintereinander, die erste weit weg, die zweite etwas lauter, die dritte noch einmal lauter. „Scheiße“, sagt Orest und drückt sich hinten in die Ecke. Der vierte Schlag. Holz splittert, der Boden vibriert. „An alle Positionen“, ruft Orest in das Funkgerät: „Gebt mir euren Schadensbericht!“ In der Leitung ein Knacken.

„Paris an Botschafter“, kommt es zurück. „Botschafter“ ist der Codename des Funkunterstandes, „Paris“ derjenige einer der drei Frontabteilungen der Kompanie. „Vier, null“. Vier Einschläge mit null Toten oder Verletzten. Kurz darauf meldet sich „Club“, dann „Törtchen“. Beide melden: alle am Leben.

21.12 Uhr. Die Mörser der Ukrainer feuern erneut. Das grausame Duell der Mörsermannschaften. Oft beginnt es abends und hält bis in die Nacht an. Wir hören, wie sich die Granaten beider Seiten über uns kreuzen. Ein reißendes Heulen. Als würden die Geschosse auf ihrer Bahn Löcher aus der Luft stanzen. Wenn sie in unserer Nähe einschlagen, jagen Druckwellen in den Unterstand.

Zwei Stunden vor unserer Ankunft hat eine Granate den Fernmelder-Unterstand im Abschnitt der Nachbarkompanie, 500 Meter entfernt, getroffen. Zwei Soldaten wurden verletzt.

Den Feind haben Leutnant Kostya und seine Männer noch nie zu Gesicht bekommen. Für sie ist dies der erste echte Fronteinsatz. Erst Anfang April wurden sie von der relativ ruhigen weißrussischen Grenze in den Osten verlegt. Nun halten die Soldaten der Kompanie einen 340 Meter langen Schützengraben. Bisher hatten sie großes Glück. Nur neun von ihnen wurden verletzt, noch keiner getötet. Andere Einheiten haben nach nur wenigen Wochen im Schützengraben ein Drittel ihrer Männer verloren.

21.46 Uhr. Immer noch schlagen Mörsergranaten in unserem Waldstück ein. In den Momenten der Stille hören wir ein fernes, lang anhaltendes Fauchen. „Grad“, sagt Orest, so heißt das Geschütz auf Russisch, auf Deutsch: „Hagel“, eine der schrecklichsten Waffen, die die Sowjetunion hervorgebracht hat. Ein auf einem Lkw montierter Raketenwerfer. Er verschießt 40 Raketen in 20 Sekunden. „Sie greifen die Fallschirmjäger an“, mutmaßt Orest. Eine ukrainische Fallschirmjäger-Brigade verteidigt den Frontabschnitt zu ihrer Linken.

Als die Abstände zwischen den Einschlägen im Umkreis unseres Erdlochs größer werden, es ist bereits halb elf, beschließen wir Reporter, den Unterstand zu wechseln. Der Raum der Funker ist zu eng für uns alle. In einer Grube nebenan gibt es noch freie Plätze, dort werden wir schlafen. Die 50 Meter rennen wir, mit Schutzweste und Helm.

Die nächsten Stunden horchen wir hinaus in die Dunkelheit. Der Krieg wütet nunmehr in der Ferne. Ein beständiges, eisernes Hämmern. Hammerschlag um Hammerschlag, jeder Schlag ist dazu bestimmt, Menschenfleisch zu treffen. Welche Energie. Welche Gewalt. Welcher Irrsinn.

Gegen Morgen, um kurz nach vier, wecken uns die ukrainischen Mörser. Der Waldboden wackelt fast unaufhörlich. Als bestünde er nicht aus Erde, sondern aus einer geleeartigen Masse.

Die zweite Nacht. Orest kocht Kaffee, Punkt sieben Uhr morgens, das ist ein festes Ritual. Er erhitzt Wasser auf einem Gaskocher, der auf dem Wandregal steht, in dem die Lebensmittel lagern. Instantnudeln, Instantkaffee, ein Stapel Schokolade.

Die Welt wird klein hier vorne an der Front. In Kiew ist sie noch ganz groß, voller Strategien und politischer Betrachtungen. Je näher man der Front kommt, desto mehr schrumpft sie. In diesem Wald besteht die Welt nur noch aus diesem winzigen Unterstand und ein paar Dutzend Bäumen drumherum. Schon das Terrain ein wenig weiter, das die Verstecke einer anderen Einheit birgt, ist Kostyas Leuten fremd. Sie kennen die Männer nicht, die dort in den Erdlöchern leben. Sie gehen nie dorthin.

Leutnant Kostya schläft in seiner Koje. In der Nacht ist er zur vordersten Kampflinie gelaufen, um die Rotation seiner Mannschaften zu überwachen, wie immer alleine, er will es so. Alle zwei Tage tauscht er auf seinem Frontabschnitt die Besatzung aus. Zwei Dutzend Soldaten gehen, zwei Dutzend kommen. Er begleitet sie auf dem Weg zum Schützengraben und wieder hinaus. „Der kritische Moment“, wie sie hier sagen. Denn dann verlassen die Männer den Schutz der Stellungen und sind gezwungen, eilig ohne Deckung das Gelände zu queren, bis Pick-ups sie aufnehmen. Wenn die Russen sie mit den Überwachungsdrohnen erfassen, feuern sie mit ihrer Artillerie auf sie. Gleiches tun die Ukrainer, wenn die russischen Mannschaften auf der gegenüberliegenden Seite rotieren. Heute Nacht aber hatten Kostyas Soldaten Glück, es blieb ruhig, niemand schoss.

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