Es ist eine alte Menschheitsfantasie. Der Traum von der Zeitreise. Kaum eine Idee klingt so verwegen. Das Rätsel der Zeit. Niemand weiß genau, worum es sich bei der Zeit eigentlich handelt. In der Relativitätstheorie ist sie eine physikalische Größe, so wie der Raum. Einen Raum kann man bereisen, also auch die Zeit? Gibt es einen Weg, sie zurückzudrehen? Eine Zeitmaschine, die uns befördern kann in vergangene Jahrhunderte, zu den Ursprüngen von Entwicklungen, von denen wir immer noch profitieren oder deren Folgen uns bis heute vergiften, etwas, das uns diese Kraft besser verstehen lässt, die uns vor sich hertreibt, uns unbewusst lenkt oder blockiert – unsere Vergangenheit.
Doch weder Physiker noch Science-Fiction-Autoren müssen so eine Zeitmaschine erfinden. Weil es sie bereits gibt.
Ich habe sie für mich entdeckt, als ich gerade dreizehn geworden war. Sie befindet sich nordöstlich des Dorfes Undingen, südlich des Dorfes Genkingen auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg, die vor Millionen Jahren der schlammige Boden eines Meeres war, bis sie von der Erde aus dem Wasser gedrückt wurde, hinauf in große Höhen, bis auf 861 Meter über dem Meeresspiegel. Dort liegt die Zeitmaschine, auf einer schmalen Bergspitze, verborgen in Wald und Unterholz.
Mauern, von Moos überwachsen. Steine, von Menschen behauen, aber so alt, dass sie kaum mehr vom Fels zu unterscheiden waren. Die Überreste einer Burg. Sie bedeckten den größten Teil des Berggipfels. Unter dem Laub überall Scherben von Keramik, sogar ganze Dachziegel, viele noch intakt. In einigen von ihnen waren die Fingerabdrücke der Menschen erhalten, die sie vor Hunderten von Jahren erschaffen hatten, Fingerabdrücke, die den meinen so gleichen.
Nicht viel mehr als der Name war von der Geschichte dieses Ortes bekannt. „Ruine Hohengenkingen, Entstehung vermutlich im 12. Jahrhundert“. So stand es auf einem Schild im Wald. Kein Gebäude hatte überdauert. Nur niedrige Mauern, die oft keine erkennbare Funktion hatten. Doch so viel Leben war hier einst gewesen, Leben, das mir beim Laufen als Scherben von Töpfen unter den Füßen knirschte. Der Boden war hier voller Geschichten. So voll schien er von ihnen, dass man ihn fast sprechen zu hören meinte, aber eben nur fast.
Das Geheimnis darum hatte mich als Kind in den Bann gezogen. Später als Erwachsener habe ich die Pyramiden gesehen und Luxor, Wikingerstädte in Dänemark, antike Siedlungen in Afghanistan, aber immer wieder bin ich an diesen Ort im Wald von Genkingen zurückgekehrt und habe gelauscht.
Dieser Text handelt von der Faszination der Archäologie. Sie ist eine oft gescholtene Wissenschaft, die es in der öffentlichen Wahrnehmung nicht immer leicht hat, weil sie Bauarbeiten aufhält, weil sie Neubauten teurer macht und selten Schatzkammern alter Pharaonen öffnet. Archäologie ist meist Erde, Staub und Scherben. Die Forschungsgelder dafür sind in Europa in den vergangenen Jahren drastisch gekürzt worden. Kaum eine andere Wissenschaft aber gibt eine größere Chance, innezuhalten, zurückzuschauen und sich zu fragen: Was macht der Mensch?
Die vergessene Burg, auf der ebenfalls keine Schatzkammern zu erwarten sind, ist inzwischen Mittelpunkt eines Forschungsprojekts. Der erste Archäologe, den ich auf die Burg führte, hat mit der Idee einen zweiten angesteckt, der dann einen dritten, bis sich am Ende eine interdisziplinäre Gruppe aus Forschern der Universität Tübingen zusammengetan hat. Die Wissenschaftler fasziniert, dass der Berg unberührt ist. Für sie ist der Ort die perfekte Zeitkapsel, nie wurde er überbaut.
Es ist ein Modellprojekt, in dem exemplarisch die Möglichkeiten der Archäologie ausgelotet werden sollen. Dabei sind auch der Bürgermeister der Gemeinde Sonnenbühl, zu der die Dörfer gehören, Freunde und ich. Ein Trägerverein wird für das Projekt gegründet. Die Finanzen sollen über Spenden und Fördergelder akquiriert werden. Begonnen hat alles vor zwei Jahren. Der Anfang einer Reise in die Vergangenheit, von der niemand weiß, wohin sie führen wird. Eine Zeitreise, gewissermaßen im Selbstversuch.
In einer kleinen Serie, in unregelmäßigen Abständen, werden wir sie in der ZEIT begleiten.