Die Kampfbahn

2022

Auszug aus dem täglichen Schadensbericht, 13. Mai. Raketenangriffe auf Bahnanlagen im ganzen Land. Raketenbeschuss von Gleisanlagen in Losowa, Bezirk Charkiw, in Tscherkaske, Zentralukraine, in Dobropolje, Donbass. Raketenangriff auf Gleisanlagen in Krementschuk, Zentralukraine. Angriff auf den Bahnhof von Nowhorod-Siwerskyj, Nordukraine.

Der Nachtzug fährt an, in fast völliger Dunkelheit, unmerklich erst, dann mit einem harten Ruck, der die Passagiere, die noch stehen, aus dem Gleichgewicht wirft. Sie taumeln, spreizen die Arme, suchen fluchend nach Halt. Es ist ein Beben, das ganz vorne von der Lokomotive ausgeht, sich auf den ersten Waggon überträgt, auf den zweiten, den dritten und mit jedem weiteren Waggon zu einem metallischen Kreischen wird, das sich kurz über den leeren Bahnsteig legt und dann verklingt.

Der Zug rollt aus dem Hauptbahnhof von Kiew hinaus, nunmehr scheppernd und seufzend, dann schneller und schneller. Die Mechanik findet allmählich ihren Rhythmus, das dumpfe Schlagen von Stahl auf Stahl, das wiederkehrende Trommeln, neun Waggons und 330 Meter lang.

Im letzten Waggon, einem Schlafwagen, sitzt auf einer Pritsche Oleksandr Kamyschin. Pferdeschwanz und ausrasierter Undercut, tief über sein Smartphone gebeugt. Der 37-Jährige, der, wenn er sich zur vollen Körpergröße aufrichtet, kaum in das Abteil passt, leitet eines der größten Unternehmen Europas: die staatseigene Eisenbahn Ukrsalisnyzja. Ein Imperium mit 22.300 Schienenkilometern, 1648 Bahnhöfen und 232.000 Beschäftigten. Es ist der bedeutsamste Arbeitgeber der Ukraine

Wie im ganzen Zug sind auch die Fenster in Kamyschins Abteil mit Plastikfolie abgeklebt. Das soll verhindern, dass bei Beschuss Glassplitter die Insassen durchbohren. Ebenfalls zur Sicherheit hat das Zugpersonal in jedem Abteil die Jalousien zugezogen. Der Zug fährt lichtlos durch die Nacht.

Es ist der 13. Mai, erst im letzten Moment hat Kamyschin der Verkehrsleitung die Anweisung gegeben, einen Sonderwaggon für ihn selbst anzuhängen. Das Ziel des Zuges ist Charkiw die zweitgrößte Stadt der Ukraine, von zwei Seiten umgeben von russischen Truppen. „Ich weiß, was ich riskiere“, sagt Kamyschin. Vor wenigen Tagen habe ihn der ukrainische Geheimdienst informiert, die Russen hätten eine Taskforce gebildet, um ihn, Kamyschin, umzubringen.

Dieser Krieg, der jeden Tag Hunderte Menschen das Leben kostet, ist auch ein Krieg der Eisenbahnen. In keinem anderen Konflikt der vergangenen Jahrzehnte haben Züge eine so große Rolle gespielt. Die Bahn ist in der Ukraine jetzt oft die einzige Möglichkeit, sich durchs Land zu bewegen. Die Flughäfen sind geschlossen. An den Tankstellen gibt es kaum Benzin. Bisher wurde es über Weißrussland und die Schwarzmeerhäfen eingeführt, doch beide Wege sind blockiert. Ausländische Regierungschefs, Präsidenten und Minister reisen mit der Bahn an. Züge wurden zu Rettungszügen. 3,8 Millionen Menschen hat Kamyschins Unternehmen in den vergangenen Wochen evakuiert, darunter mehr als eine Million Kinder. Und Züge nähren den Krieg. Jeden Tag schaffen sie Waffen und Munition an die Front. Was Überleben für die einen ist, ist Verderben für die anderen.

Mehrfach täglich attackieren die russischen Streitkräfte die ukrainische Eisenbahn. Sie beschießen Bahnhöfe, Schienen, Brücken, Reparaturwerkstätten, Depots und Unterkünfte. Umgekehrt bringen ukrainische Saboteure Züge in Russland zum Entgleisen. Denn auch Russland ist in diesem Krieg auf seine Eisenbahn angewiesen. Es ist ein Wettlauf zwischen denen, die Schienen zerstören, und denen, die Schienen reparieren. 161 von Kamyschins Mitarbeitern haben bis Anfang Juni ihr Leben verloren.

Die ukrainische Eisenbahn, die vor dem Krieg einen desolaten Ruf hatte, Symbol war für den Verfall eines Staatswesens, für die alles durchdringende Korruption in der Ukraine, ist über Nacht zum Sinnbild der letzten Ordnung geworden. Die Existenz eines ganzen Landes liegt auf den Schienen.

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