Sachte, ganz vorsichtig, drückt jemand von außen die Türklinke herunter. Ein leises Quietschen. Die drei Männer, die hinter der Tür auf Klappstühlen sitzen, im Vorraum des Kellers ihrer Hausgemeinschaft, verstummen und starren auf die Klinke. „Wer kann das sein?“, flüstert der Arzt Artem. Es ist weit nach Mitternacht. Jemand da draußen versucht, die Tür zu öffnen, doch sie ist verschlossen. Jeder im Haus weiß, dass sie um diese Uhrzeit längst verriegelt ist. Hinter den dreien schlafen 150 Männer, Frauen und Kinder, die im Keller Schutz suchen. Jetzt rüttelt es einmal kurz an der Tür. „Wer ist das?“, fragt ein anderer der Männer, ein Fliesenleger. „Sei ruhig!“, zischt Artem. Sie lauschen, mit vornübergebeugten Oberkörpern, die Köpfe zur Tür geneigt.
Ein Arzt, ein Fliesenleger, ein Werkzeugmacher. Sie sind die erste Schicht der Nachtwache, die die Bewohner der Wohnanlage vor einigen Tagen eingerichtet haben. Das Haus, in dem sie leben, 24 Stockwerke hoch, eine wuchtige Wand aus 400 Wohnwaben, ist einer der letzten Bauten am nördlichen Stadtrand von Kiew Hinter diesem Haus sind nur noch Wiesen und Wälder. Und irgendwo dort sind die Spitzen der russischen Truppen. Wo genau, wissen die Bewohner nicht. In der Ferne ist grollendes Artilleriefeuer zu hören.
Jede Nacht, Punkt 23 Uhr, auf die Minute genau, verschließt sich die Hausgemeinschaft in ihrem Keller. So wie es auch die Bewohner der umliegenden Wohntürme tun. Niemand wird von nun an hineinkommen, und niemand wird mehr hinausgelassen. Ab 23 Uhr gilt in Kiew eine Ausgangssperre. Nachts sind sie in dieser Stadt alle auf sich zurückgeworfen, in kleineren und größeren Kellern.
„Ich geh nachschauen“, flüstert der Werkzeugmacher in das Schweigen. Er erhebt sich geräuschlos von seinem Stuhl, um im Labyrinth des Kellers an den Türen zweier Nebeneingänge zu lauschen. In der Nacht zuvor hat in einem Haus in der Nachbarschaft ein Mann versucht, eine Sprengfalle von außen an einer Kellertür anzubringen. Offenbar ein russischer Saboteur. Zum Glück wurde er entdeckt.
Angespannt bleiben Artem, der Fliesenleger und ich, der Reporter, am Eingang sitzen. Ich habe am Vortag Kiew erreicht, um aus der ukrainischen Hauptstadt zu berichten.
Schließlich kehrt der Werkzeugmacher zu uns zurück. Er zuckt die Achseln. Nichts Auffälliges an den anderen Türen. Noch eine Weile sitzen wir schweigend da und blicken auf die Klinke. Doch es bleibt still.

Kiew im Krieg. Das Unvorstellbare. Die Drei-Millionen-Metropole ist kurz vor der Einkesselung. Hunderttausende sind geflohen, aber viele mehr harren in ihren Wohnungen aus, weil sie sich bereits nicht mehr trauen, weil sie abwarten in der Hoffnung, das Schlimmste möge nicht kommen. Ein gigantischer, 65 Kilometer langer Konvoi aus Panzern, Raketenwerfern und Versorgungsfahrzeugen steht nördlich von Kiew. Er rückt nur langsam vor, mit offenbar großen Verlusten, doch jeden Tag kommt er etwas näher. Manchmal gelingt es den ukrainischen Streitkräften, ihn um einige Kilometer zurückzuschlagen, aber nur kurz. Dann rückt er wieder vor. Eine erdrückende Übermacht.