Lyssytschansk – 93.000 Einwohner.
Bachmut – 70.000 Einwohner.
Awdijiwka – 32.000 Einwohner.
Was braucht es, um eine Stadt so zu zerstören, dass sie sich nicht mehr erholen kann? Welche Gewalt muss man ihr antun, damit nur wüstes Land bleibt und es späteren Generationen so scheinen wird, als hätte es diese Stadt nie gegeben?
Rubischne – 55.000 Einwohner.
Popasna – 19.000 Einwohner.
Marjinka – 9.000 Einwohner.
Was braucht es, um eine Stadt zu bauen? Die Menschheit benötigte Hunderttausende Jahre, um zu lernen, aus wilden Gräsern Getreide zu züchten. Es vergingen weitere Tausende Jahre, bis sie zum ersten Mal Städte gründete, bis sich in diesen Städten die Arbeitsteilung entwickelte, die Schrift, die Demokratie. Städte wurden zur großartigsten zivilisatorischen Idee, die Menschen je hatten. Sie wurden zu Orten von Schmutz und Krankheit, mehr als alles aber wurden sie zu Orten der Hoffnung, der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Glück.
Der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg, der mit besonderer Härte gegen die Städte geführt wird. Entlang der gesamten Front, auf über 1.200 Kilometern, werden Städte ausgelöscht. Einwohner in ihnen heute: nahezu null. Totenstädte. Die Liste ihrer Namen wird immer länger. Bald könnte ihr ein neuer Name hinzugefügt werden.
Kurachowe – 41.000 Einwohner.
Es ist der Beginn des Hochsommers, die Hitze drückt auf die Stadt. Bis auf neun Kilometer sind die russischen Truppen an das Zentrum von Kurachowe, Provinz Donezk, herangerückt. Bomben schlagen täglich ein. Schon jetzt gibt es kein einziges Haus, das nicht beschädigt ist. Nur mit äußerster Mühe halten die ukrainischen Verteidiger die Front. Noch harren in der Stadt 4.000 Zivilisten aus. Noch existiert sie, aber niemand weiß, wie lange. Über den Feldern hinter der Stadt, wo gekämpft wird, steigt eine schwarze Wand aus Rauch auf.
Auf diesen Horizont fahren wir zu, als wir uns Kurachowe nähern, ich, der ZEIT-Reporter, und der Übersetzer aus Kiew. Wir wissen nicht, wie lange wir bleiben. Wir planen Tag für Tag. Es gibt im Fall eines Angriffs nur zwei Ausfallstraßen. Wir erreichen den Ort am Nachmittag, beziehen rasch eine Wohnung in einem Plattenbau im Zentrum, verlassen sie nicht mehr, weil es heißt, nach 17 Uhr solle man sich nicht auf die Straße wagen. Der Beschuss setze am Abend ein.

7.30 Uhr. Ein neuer Tag in Kurachowe. Einer nach dem anderen betritt den Konferenzraum, der sich in einem Kellersystem unter dem Asphalt der Stadt befindet. Sie steigen die 14 Stufen hinab, wo Neonlicht den Untergrund erhellt, murmeln „Guten Morgen“, drücken Hände. Stuhlbeine kratzen über die Fliesen. 25 Männer und Frauen, die Abteilungsleiter der Stadtverwaltung. Jeden Morgen, mit Ausnahme des Sonntags, das gleiche Ritual.
Roman Padun, der Bürgermeister, sitzt hinter seinem Schreibtisch an der Rückwand des Raums. 50 Jahre alt, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, die Haare noch nicht ergraut, die Schläfen bereits licht. Padun hat sich vom Schlosser im Kohlekraftwerk hochgearbeitet zum Oberschlosser, hat Ingenieurwesen studiert, später Angewandte Ökonomie, ein Kumpeltyp, keiner mit großen Visionen, aber einer, der hingeht, wenn die Häuser brennen, weil Granaten sie trafen, einer, der bei der Bergung von Verletzten sein Leben riskiert, einer, der anpackt. Sein Blick, heute Morgen: leer.
„Es war keine ruhige Nacht“, sagt er in die Runde. „Ich habe schon besser geschlafen“, sagt Sveta, die Kulturamtsleiterin. „Ich habe bestens geschlafen“, sagt Arkadi, der Kämmerer, und alle grinsen gequält, Arkadi und seine Witze. (Abgesehen vom Bürgermeister baten alle Gesprächspartner darum, in diesem Artikel nur mit Vornamen genannt zu werden.)
Kurachowe liegt an einer militärisch prekären Position. Zwei Frontabschnitte, die Südfront und die Front im Osten, treffen hier aufeinander. Die Stadt ist zudem Sitz eines der wichtigsten Kohlekraftwerke des Donbass. Wie die Türme einer Kathedrale, nur noch höher, 250 Meter hoch, ragen die Zwillingsschlote auf, sichtbar bis ins russisch kontrollierte Territorium. 1.200 Menschen arbeiteten vor der Invasion 2022 im Kraftwerk. Stalin hatte es in den Dreißigerjahren errichten lassen und die Stadt gleich dazu. Es gibt in der Ukraine nur wenige Gebäude, die so oft beschossen wurden wie das Kraftwerk von Kurachowe.
Die Stadt liegt tief in einem Flusstal, ihre Verteidiger kämpfen auf den Hügeln über dem Tal. Erobern die Russen diese Anhöhen, haben sie freies Schussfeld. Dann ist Kurachowe nicht mehr zu halten.
Dreimal sind die Beamten der Stadtverwaltung in den vergangenen zweieinhalb Jahren umgezogen. Das erste Mal aus ihren Büros in den Keller des Rathauses. Das zweite Mal aus dem Keller des Rathauses in eine Berufsschule. Das dritte Mal flohen sie in diesen Keller im Stadtzentrum. Längst haben die Russen sie auch hier aufgespürt. Ständig überfliegen Überwachungsdrohnen die Gegend. Regelmäßig explodieren Bomben und Raketen in der Nähe. Oben, nicht weit vom Kellereingang, haben sich Dutzende Straßenhändler angesiedelt, trotz der Gefahr. Immer wieder gibt es dort Verletzte. Immer wieder kehren die Händler zurück.
Der Reihe nach fragt Padun die Berichte der Abteilungsleiter ab. Fast alle sind neu in ihren Funktionen, nur wenige Mitarbeiter sind ihm von früher geblieben. Da ist Tatjana, die Direktorin des Schulamts. Arkadi, der Kämmerer, der fortwährend seine Witze erzählt, Witze, mit denen er das Geräusch der Bomben weglacht, Witze meistens über Autos und Autopannen. Andrej, der selten lacht, einer der Jüngsten, bemüht, emsig, immer ernst, zuständig für die technischen Betriebe, für Wasser, Abwasser, alle Liegenschaften im Stadtbesitz. Da sind die Kinderschutzbeauftragte, die Leiterin des städtischen Krankenhauses, der Direktor des kommunalen Beerdigungsunternehmens, der in der Stadt den teuersten Privatwagen fährt. Und natürlich Sveta, die Kulturamtsleiterin, die die Social-Media-Seiten von Kurachowe zum Blühen bringt, mit Fotos von Rosen. Rosen am Montag, Rosen am Dienstag, Rosen! Svetas Fotos zeigen fast nie Ruinen. „Warum sollten wir“, sagt sie. „Das bringt noch mehr Schmerz.“
Ein dumpfer Schlag wummert von außen durch die Mauern. Padun stutzt kurz, winkt dann ab. „Weit weg.“

Unsere Wohnung, in die wir abends zurückkehren, liegt in einem Plattenbau im Zentrum. Alle Hotels der Stadt sind zerstört. Die Wohnung stinkt, es ist klebrig überall, die Fenster sind mit Sperrholzplatten zugenagelt, der große Vorzug: die Lage. Die Räume liegen im dritten Stock. Er ist bei insgesamt fünf Stockwerken der sicherste. Relativ fern für die Splitter der Granaten, die auf der Straße vor dem Haus explodieren. Nicht zu nah am Dach, von wo Raketen und Granaten drohen.
Die Grünanlage um den Block herum ist verwildert. Hunde stromern durch hohes Gras, in dem einzelne Tulpen wachsen. Letzte Reste von privaten Blumenbeeten. Manchmal sitzt ein alter Mann in einem der Hauseingänge. Er stiert vor sich hin. Wenn er redet, ist er kaum zu verstehen. Ein zahnloses gemurmeltes Nuscheln.
Ein Zischen. Ein Lichtblitz. Es ist kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Schreie einer Frau in der Straße. Nach kurzer Zeit wieder Stille. Wir lauschen nach draußen. Wir texten Bürgermeister Padun, er textet zurück: „Alles ist normal.“ Niemand nimmt das Risiko auf sich, auf die Straße zu gehen, um nach Verletzten und Schäden zu sehen. Ein Mann mit nacktem Oberkörper steht auf einem Balkon gegenüber. Im Dunkeln glimmt die Glut seiner Zigarette.
Die Stadt schwindet mit jeder Nacht etwas mehr. An jedem Morgen ist ein weiteres Stück von ihr verschwunden, ein weiteres Haus zerstört, manchmal sind es auch mehrere. Wie eine Schlinge spannt sich die Front um Kurachowe. Immer enger zieht sie sich zu. Lange war sie unbewegt geblieben. Die Ukrainer hielten sich in gut ausgebauten Bunkersystemen, aber im Dezember konnten die Russen die ersten Linien überwältigen. Sie eroberten die Kleinstadt Marjinka, die seit 2014, seit der ersten Landnahme der russischen Armee im Donbass, die Front markiert hatte. Ende April fiel das Dorf Nowomychailiwka. Im Juni eroberten die Russen Heorhijiwka. Namen von kleinen und kleinsten Orten, die nicht in den Schlagzeilen sind, aber für den Tod Tausender stehen.
Drohnenvideos bestätigen die Behauptungen der Kiewer Armeeführung, dass allein im Kampf um Nowomychailiwka 314 gepanzerte Fahrzeuge der Russen zerstört wurden. Doch nahezu ununterbrochen stürmten Moskaus Brigaden heran. An kaum einem anderen Frontabschnitt setzen die Russen so viele Kräfte ein, 30.000 Soldaten auf 50 Kilometern, heißt es. Bombardements zerstörten die Minenfelder, von denen die Ukrainer geschützt worden waren. Artillerie und Luftwaffe ebneten fast alle Gebäude ein, schufen eine Landschaft aus Kratern, in der die Verteidiger keine Deckung mehr fanden. Die Russen eroberten weitere Dörfer, kamen Kurachowe näher – mit der Einnahme der Stadt hoffen sie Kiew zur Aufgabe des Donbass zwingen zu können.