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PHOTOGRAPHIE Daniel Samanns

 

Die Stadt, die es nicht mehr gibt.

Mullaitivu – ein Jahr danach.

 

 

Die Irren von Mullaitivu drehen sich in engen Kreisen. Langsam erst, wie schlafend, dann schneller, wilder, immer wilder, bis sie beinahe ausgleiten, sie fast aus ihrer Bahn fallen. Ganz still sind sie dabei. Nach einer Weile werden sie wieder langsamer, Runde für Runde. Ihre rissigen Fußsohlen schleifen über den Betonboden, schwerfällig, müde, um bald abermals zu rasen. In endlosen Drehungen verbringen viele Patienten ihre Tage im „Victory Home“, der Nervenheilanstalt im Nordosten Sri Lankas, wo 145 Menschen leben, überwiegend Frauen, viele von ihnen vom Tsunami traumatisiert. Manche von ihnen haben ihre Namen vergessen. Musik schallt über das Gelände. „Wir sind mit dir, verzage nicht“, kommt es Trost spendend vom Band. Es gibt Kranke, die bewegen sich so gut wie nie, sitzen auf den Betten, starr wie Leguane. Andere halten nie still, ihre Finger nicht, die Arme nicht, die Beine, unter ihrer Haut zucken rastlos Muskeln und Sehnen.

Die, die es nicht ertragen, überschütten sich mit Petroleum, knoten ihre Kleider zu Stricken und versuchen sich an Bäumen zu erhängen. Sie stürzen sich in den Brunnen, der nur einen halben Meter tief ist, und werden von den Pflegerinnen an den Beinen wieder heraus gezogen. „Wir fürchten Schlimmes für die nächsten Wochen“, sagt eine von ihnen. Der Tsunami jährt sich am 26. Dezember. Ein Jahr ist seit der Katastrophe vergangen, bei der in Asien rund 300 000 Menschen starben. Die Überlebenden sind ihr noch längst nicht entkommen.

Die Fischer stehen vor der Stadt, von der fast nur Fundamente blieben, zwei zertrümmerte Kirchen, und schauen aufs Meer. Wellen rollen heran, steil aufragende Schaumwände, die gischtweiß in die Höhe bersten als wollten sie den Himmel verzehren. „Wenn du da raus gehst, sind sie dein Ende,“ sagt ein Fischer. 3000 von 7000 Einwohnern starben durch den Tsunami in dieser Stadt, die so vollständig zerstört wurde wie keine andere in Sri Lanka. Nun greift die See wieder nach ihr. 800 Kilometer vor der Küste tobt der Zyklon „Fanoos“ und treibt den Ozean in mächtigen Gebirgen auseinander. Es ist Monsunzeit in Mullaitivu, ihre neuen Boote haben die Männer zur Sicherheit weit auf den Strand geschoben. Unser Reporterteam hatte die Fischergemeinde vier Tage nach dem Seebeben erreicht und über ihn berichtet. Der schwer zugängliche Ort befindet sich im quasi-unabhängigen Kleinstaat der tamilischen Rebellenbewegung „Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE)“, vom Rest Sri Lankas durch Minengürtel und Todesstreifen getrennt. Jetzt sind wir abermals dorthin gereist mit der Frage: Wie geht es den Familien, die wir damals trafen? Wie leben sie mit dem Massentod?

Unter den Füßen von Anthonipillai Poologerasa knirscht welkes Laub. Er geht über festgestampften Sandboden, ein unscheinbares Areal in einer Baumplantage, auf dem an manchen Stellen etwas Kerzenwachs zerflossen ist. Er hat sein bestes Hemd angezogen, gebügelt, seinen Sonntagsstaat. „Hier, ganz genau hier“, zeigt der Dachdecker aus dem hessischen Bad Schwalbach auf einen Punkt. Dort liegt die 11-jährige Tochter seines Bruders. 2000 Menschen haben die Aufräumtrupps in den ersten drei Tagen nach dem Seebeben hier vergraben. Traktorenladungen aufgedunsener Leichen, die in keinen Sarg mehr passten, wurden in Gräben geschoben. Holzpflöcke markieren deren Lage, kreuz und quer gehen ihre Linien, Geographie des Massengrabs. Der 43-Jährige, der den Weihnachtsurlaub 2004 in seiner Heimatstadt verbrachte, wäre fast selber Opfer der Welle geworden. Wir haben ihn getroffen, als er in den Trümmern seines Dorfes nach Toten und Dokumenten suchte. Die meisten seiner 52 Verwandten, die starben, bestattete er in einem neu angelegten Familiengrab. 31 Namen ließ Poologerasa in eine Steinplatte gravieren. Brüder, Schwestern, Onkel, Nichten. Die Jüngste war erst vier. „Scheiße“, sagt er. „Die haben die Kette gestohlen.“ Die Zierkette ums Blumenbeet ist weg. Er redet immer noch mehr über die Dinge, die er verlor, als über die Menschen. Das scheint erträglicher.

Den Tag verbringt er in einen Plastikstuhl vor der Hütte 161 in einem der Übergangslager. Wellblech von allen Seiten. Manchmal fährt er zum Meer, wo er sich vor die Trümmer der Kirche setzt. Zum Jahrestag will er den Überlebenden seiner Familie beistehen. Die Zeit seit dem Tsunami hat ihm nicht viel Glück gebracht. Den Dachdecker-Job hat er verloren, als Waldarbeiter in Hessen verdingte er sich zwei Monate, doch das körperlich harte Arbeiten fällt ihm jetzt schwer. Die Welle ist ihm mitten durch den Kopf gegangen, durch Nase, Ohren. Mit langstündigen Operationen versuchten Ärzte in Deutschland, den Druck im Schädel zu lindern, immer noch laborieren sie herum. Poologarasas Schläfen spannen oft zum Zerreißen, er leidet unter Hörschäden. Der Kiefer schmerzt ihm beim Reden. Das Verhältnis zum Bruder, der als einziger seiner Geschwister das Beben überlebte, eine Hütte weiter wohnt, ist gestört. „Ich habe kein Geld. Das versteht der nicht. Er denkt, wer in Deutschland lebt, ist reich.“ Nach dem 26. Dezember, wenn an der zerstörten Kirche Mullaitivus den 3000 Toten gedacht wird, will er sich in Deutschland um eine Stelle als Spülhilfe in einem Restaurant bemühen. „Wenigstens etwas“, sagt er.

Die Stadt ist nach einem Jahr so verwüstet, wie sie der Tsunami hinterlassen hat. Immer noch werden am Strand Reste menschlicher Skelette angespült. Die ersten 100 Meter der Küste sind wie überall in Sri Lanka Bannzone. Tausende Menschen leben jetzt in den Wäldern des Hinterlandes, wo internationale Hilfsorganisationen ein Netzwerk von 21 Übergangslagern gebaut haben. In einen bunten Supermarkt verwandelten sie die Gegend, überall zwischen den Bäumen leuchten großformatige Werbeschilder, „World Vision“, „Care“, „Oxfam“, die Marken, die in Europa wenige kennen, in Entwicklungsländern aber eine Bedeutung haben wie in Industriestaaten Daimler und General Motors.         

Nun stockt die Hilfe. Die alten Siedlungsgemeinschaften sollen an neuen Stellen aufgebaut werden, noch steht kein einziges Haus. „Ihr habt immer noch nicht angefangen!“ wirft der LTTE-Planungsdirektor auf einer Dringlichkeitssitzung dem Deutschen Roten Kreuz vor. „Wir haben angefangen!“ wehrt sich Projektleiter Bernward Hollemann. „Das habt ihr nicht“, hält der LTTE-Mann dagegen. „Wir fragen euch seit zweieinhalb Monaten und nichts ist getan.“ Die Guerillakämpfer der Tiger bitten nicht, sie fordern. Sie wissen, genügend Spendengelder sind da. 30 Vertreter unterschiedlicher Hilfsorganisationen suchen während der Konferenz ihr Gleichgewicht auf wackeligen Plastikstühlen.

Die Schuld sieht jeder beim anderen. Monate brauchte es, bis LTTE und Zentralregierung Bauland fanden, das von den Tsunami-Vertriebenen auch akzeptiert wurde. Wochen brauchte es, bis die Minenräumorganisationen diese Grundstücke abgesucht hatten. Mullaitivu, von der Regierung 1991 erobert, 1996 von der LTTE zurückerobert, ist Frontstadt. Es mangelt zudem an qualifizierten Bauarbeitern im ganzen Land, an bezahlbaren Baumaterialen. In Sri Lanka wurden seit einem Jahr so viel Gebäude errichtet wie zuvor nicht in einen Jahrzehnt.

Als wäre das nicht genug, brach auch noch der Regen über Mullaitivu herein. Fünf Tage dauerte der, ließ Maschinen im Schlamm versinken, riss die Brücken fort, überschwemmte die Lager. Das Grundwasser steht zehn Zentimeter unter der Oberfläche. Hollemann vom Roten Kreuz muss jeden Tag improvisieren. „Wie soll ich denn unter diesen Umständen bauen?“ Er will zunächst wieder Wege und Brücken reparieren, um seine Baugebiete überhaupt erreichen zu können. Auf dem Abschnitt der deutschen Welthungerhilfe steht immerhin schon ein Musterhaus. Rote Fähnchen wehen jetzt an 23 Stellen, wo bis Ende Januar die ersten Häuser errichtet werden sollen.     

Lagerkoller droht in den eng bebauten Übergangscamps. Die Männer saufen, seit ehedem ein Problem im Fischerort, jetzt aber noch heftiger. Es kommt immer häufiger zu Schlägereien. Es wird geklaut. Die Gewalt gegenüber Frauen in den Camps nehmen zu. Verwandte sind es und Nachbarn. Vergewaltigungen werden selten angezeigt, Engelmacherinnen stochern die Föten aus den Leibern der Opfer. Die ersten unehelichen Kinder werden in den nächsten Wochen geboren, nervös erwarten die Kirchenleute die Reaktionen der Dorfgemeinschaften. Es soll zu einzelnen Fällen der Prostitution gekommen sein, undenkbar bisher. Der Tsunami hat den traditionellen Strukturen viel von ihrer Stabilität genommen. Zeitverzögert bricht nach den Häusern die Gesellschaft der Tamilen ein. 

In einer der drei Schenken, die in Mullaitivu wieder aufgemacht haben, im einzigen intakten Straßenzug, flimmern die Abendnachrichten über den Bildschirm. Der Sturm hat die Küsten Indiens erreicht und dreht direkt auf Mullaitivu zu. „Die ganze Welt wird vernichtet werden!“ schreit ein Betrunkener, der nahe am Fernseher sitzt. „Das Ende der ganzen Welt!“ Seine Grimasse streckt er in die Bilder von schweren Überschwemmungen in Südindien. „Halt dein Maul“ raunzt der Wirt. Ein anderer Gast verlässt eilig den Raum, um sein Fischerboot vom Strand zu bringen.

Aufgeregt wartet Pfarrer James Bathinathen in der Wohnhütte, in der er provisorisch untergekommen ist. „Ein Sturm dieser Stärke wäre wieder eine Katastrophe.“ Zwei Hausangestellte hat er mit dem Moped in die Nacht geschickt, um im „Communication Center“, dem einzigen Telefonanschluss im Ort, Erkundigungen einzuholen. Seiner Eingebung verdankt es Mullaitivu, dass wenigstens die Hälfte der Einwohner überlebte. Das Fest der Heiligen Familie ließ der Pfarrer am 26. Dezember nicht wie sonst in den Kirchen am Strand feiern, sondern am Altar auf dem höchsten Punkt der Stadt. „Ein Wunder“, stauen selbst abgeklärte Entwicklungshelfer. „Es war für uns nicht einfach, unseren Glauben aufrecht zu halten“, sagt Bathinathen. „Wenn wir aber den Glauben verlieren, was bleibt uns dann noch?“

Zwei Schiffe zerbrachen in der Vornacht in den Wellen, mit Glück haben sich die Fischer retten können. Die neuen Boote, die Hilfsorganisationen ihnen nach dem Tsunami geliefert haben, sind oft von miserabler Qualität. Berüchtigt sind besonders die der Caritas, zu dünn das Plastik, zu leicht das Ganze. In vielen Rümpfen öffnen sich schon nach zwei Monaten Risse, mit kleinen Plastikschüsseln schöpfen die Fischer eindringendes Wasser. 30 von ehemals 300 Besatzungen haben wieder den Mut, hinaus zu fahren. In Nussschalen müssen es die Männer mit dem Ozean aufnehmen, größere Schiffe erlaubt ihnen die Zentralregierung in Colombo nicht. Hilfsorganisationen hatten sie schon liefern wollen. Auch den alten Leuchtturm, im Krieg zerbombt, hätte die deutsche „Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ)“ aufgebaut. Alles scheitert am Veto der Regierung von Sri Lanka, die Partei ist in diesem Krieg, die die Tamilen abschnüren will von Waffenlieferungen über See. Acht Meter lange Trawler werden auch weiterhin nur Singhalesen aus dem Süden besitzen, die vor Mullaitivu ihre Schleppnetze ziehen und die Fischgründe wegfangen.

Der Sturm, der sich bedrohlich der Küste entgegenmahlt, verhindert, dass Anqusany Parameswaran in dieser Nacht seine Angst besiegt. Nie wieder ist der 46-Jährige seit dem Seebeben auf Fischzug gewesen, für heute hatte er es sich vorgenommen. Im Tsunami verlor er Frau und vier Kinder, einen Sohn riss ihm das Meer aus der Hand. Als einzige ist ihm Mary, 16, geblieben. In den Tagen nach dem Tsunami, als wir beide das letzte Mal trafen, wussten sie wenig miteinander anzufangen. Erziehung ist bei den Tamilen Frauensache. Die einzige Überlebende seiner Familie schien er damals kaum zu sehen, tief nach innen war sein Blick gekehrt. Anqusany hat das Sehen wieder gelernt. Ratlos aber schaut er vom Hütteneingang auf die neue Welt, die er nur unter Mühen betreten kann. Als gäbe es noch zu starke Fesseln, die ihn an die alte binden: Erinnerungen. Die Menschen in den Lagern kleben an ihnen wie Fliegen an Spinnweben.

 


Mullaitivu – vier Tage
nach der Katastrophe.

 

 

 

 

 


„Hast du in dem Moment an mich gedacht, als die Welle dich getötet hat?“ Therapeuten lassen Waisenkinder Briefe an die toten Eltern schreiben. „Am Morgen des Tsunami habt ihr mich gebeten, euch Essen zu bringen. Ich weiß nicht, ob ihr es je gegessen habt.“ „Liebe Mutter, komm zurück.“ „Vater, willst du mich nicht noch ein einziges Mal besuchen, um mich zu sehen?“ „Ich kann nicht lernen ohne dich. Ich kann nicht schlafen. Nicht weinen. Liebe Mutter, ich fühle mich wie ein allein stehender Baum.“ 

Zum Sturm im Osten kommt Sturm im Westen. Der Waffenstillstand, der seit drei Jahren hält, wird brüchiger. Fast täglich sterben singhalesische Soldaten bei Anschlägen. Es gibt Autobomben, Schüsse aus dem Hinterhalt, blutige Demonstrationen. Niemand übernimmt die Verantwortung, aber beide Seiten ziehen ihre Truppen zusammen. Beide Seiten werfen der jeweils anderen massive Verstöße gegen das Waffenstillstandsabkommen vor. Kofi Annan warnt dringlich. Norwegische Friedensvermittler fliegen in Notmissionen ein. „Wenn es Krieg gibt“, sagt einer der Alten von Mullaitivu, „werden 95 Prozent aus der Stadt fliehen.“ Der nächste Armeeposten ist nur zehn Kilometer entfernt.

Pfarrer Bathinathen rechnet fest mit dem Ende des Friedens, auch er predigt ihn nicht. „Du hältst einmal eine Wange hin, zweimal, dreimal, aber irgendwann ist Schluss. Dann schlägst du zurück.“ An den Büros der Tsunami-Therapeuten hängen Poster von Selbstmordattentätern, die Popstars der Tamilen. Die meisten Hilfsorganisationen sind pessimistisch. Ihre Aufbauarbeit könnte schon bald von Bomben und Granaten zunichte gemacht sein. Das ist halt der Job, zucken sie die Schultern.

Der Zyklon durchpflügt den Norden Sri Lankas und macht 2000 Menschen obdachlos. Kurz darauf werden in Jaffna vier Soldaten erschossen. „Gibt es wieder Krieg?“ fragen die Irren im „Victory Home“ gar nicht irre. Sie lesen Zeitungen, sagen sie. Dann drehen sie wieder ihre Runden. Aus Mullaitivu dringen nach dem Zyklon zunächst keine Nachrichten. Die Stadt ist wieder isoliert.

   

Mullaitivu – vier Tage
nach der Katastrophe.

 
         
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Daniel Samanns, München
www.lightstalkers.org/daniel_samanns