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PHOTOGRAPHIE Daniel Samanns

 

Die Stadt, die es nicht mehr gibt.

vier Tage nach der Katastrophe.

 

3000 ihrer 7000 Einwohner kamen in der Welle um. Die Überlebenden von Mullaitivu, Sri Lanka nehmen Abschied von ihren Toten — und von ihrer Heimat.

 


Das Meer leckt mit unschuldigen Wellen am Strand von Mullaitivu. Es besprenkelt ihn mit Muscheln, zart und rosa, als hätte es niemals gewütet. Doch manchmal spült es eine Hand frei, die aus dem Sand ragt, ein Bein, glänzend wie schwarzer Gummi. Es ist der sechste Tag nach der Katastrophe. Überall in Mullaitivu, einer Kleinstadt im Nordosten Sri Lankas, qualmen Leichenfeuer. Helfer mit Masken, präventiv voll gepumpt mit Antibiotika, stochern im Kadaver der Stadt nach ihren Bewohnern. In den Straßenzügen, die sie noch nicht erreicht haben, steht bestialischer Gestank. Die Suchtrupps übergießen die Leichen mit Säure. Dann atmen die Männer wieder etwas leichter. Sie schütten Petroleum auf die Körper und verbrennen sie an Ort und Stelle. Es bleibt keine Zeit mehr, die Toten zu identifizieren. Keine Zeit für Mitgefühl. Die vermeintliche Gefahr, dass Seuchen ausbrechen, zwingt zur Eile. Im gesamten Ort starben 3000 von 7000 Einwohnern. Mullaitivu gibt es nicht mehr. Die Nachbardörfer gibt es nicht mehr. Die in Richtung Süden nicht und auch die in Richtung Norden nicht. Keine andere Gegend in Sri Lanka hat durch das Seebeben einen so großen Anteil seiner Bevölkerung verloren.

In Plastik-Flipflops, mechanisch einen Fuß vor den anderen setzend, stolpert der Dachdecker aus Bad Schwalbach im Taunus den Weg zurück, den ihm die 25-Meter-Welle landeinwärts riss. Anthonipillai Poologarasa, 42, besuchte zu Weihnachten seine Geburtsstadt zum ersten Mal, seit er 1993 vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland floh. Die Welle traf ihn im Haus seines Bruders. Poologarasa hat die Hoffnung, in den Trümmern doch noch seine Ausweispapiere zu finden. Ständig passiert er weiße Aschehaufen, in denen Schädelknochen wie zerplatzte Nussschalen liegen. Der kleine, kräftige Mann, der nicht verzweifelt, weil dazu noch die Zeit fehlt, verlor 39 Verwandte.

„Hier lag die Frau meines Bruders“, zeigt er auf einen Haufen aus Pflanzen und menschlicher Habe. Die 29-Jährige hatte sich im Stacheldraht verfangen. Sie war im siebten Monat schwanger. Ein Nachbar kommt ihm entgegen, in der Hand eine Rolle mit verschlammten Dokumenten seiner Kinder. Er sucht den Schutt nach Erinnerungen an sie ab. Alle drei sind tot. Einen anderen, der sein Fahrrad mit ein paar Habseligkeiten auf dem Gepäckträger voranschiebt, zieht er sich an die Brust. Lange halten sich die beiden Männer umarmt. Der Bekannte hat Frau und alle Kinder verloren. Viele Männer sind in den Flüchtlingslagern von Mullaitivu ohne ihre Frauen angekommen. In kleinen Gruppen sitzen die Witwer auf dem Boden der Schulräume. Reden. Schweigen. Schauen auf ihre überlebenden Kinder. Wissen noch nicht, wie sie sich um sie kümmern sollen. Die Erziehung regelten in Mullaitivu immer die Frauen, die jetzt in viel größerer Zahl starben als die Männer. Häufig konnten sie nicht schwimmen oder verfingen sich mit ihren langen Haaren. Mit ihren Saris, die an vielen Stellen aus dem Sand glitzern.

Poologarasa, der selber die Welle nur knapp überlebte, fängt an, Wandstücke vom Boden zu wuchten und unter ihnen Flugticket, Pass und deutsche Aufenthaltsgenehmigung zu suchen. „Ich will wieder nach Hause“, sagt er. Nach Bad Schwalbach.

Pradeep Pajohn wird schwächer mit jeder Stunde. Er liegt auf einem Holztisch im Gang einer Schule, die jetzt dröhnendes Flüchtlingslager ist. Seine drei Kinder, die Mutter, sechs Tanten und sieben Onkel verloren haben, stehen dicht bei ihm. Die sechsjährige Tochter spielt an einem Zipfel seines Hemdes. Die Vierjährige legt ihren Kopf eng an den seinen. Sie stupst ihn mit der Nase. Immer wieder. Doch er bleibt teilnahmslos. „Ich schaffe das“, hatte er tags zuvor noch gesagt. „Ich komme da durch. Ich besitze eine gute Konstitution.“

Fast fröhlich hatte er gestern noch gewirkt. „Ich habe riesiges Glück gehabt“, strahlte er. Der Fischhändler war am 26. Dezember, dem Tag des Tsunami, 200 Meter vom Strand entfernt, als in Mullaitivu die schwarze Wasserwand über ihn hereinbrach. Sie warf ihn empor über Häuser und Palmen, schleuderte ihn gegen einen Kamin, an dem sein Unterkiefer zerbrach, seine Beine, ein Knöchel. Er hielt sich dort fest. Alle anderen 19 Fischhändler, die mit ihm in der Welle schwammen, kamen ums Leben. „Es muss doch einen Sinn haben,“ grübelte Pajohn am vorigen Tag, „dass Gott ausgerechnet mich überleben ließ. Er rettete mich für meine Kinder.“ Heute scheint Gott neu zu entscheiden. Pajohns Töchter klammern sich an den Holztisch ihres Vaters.

 



ein Jahr danach.
Mullaitivu– Rückkehr in Ruinen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Haushunde, die ihre früheren Besitzer fressen, in Rudeln die tote Stadt nach Futter durchstreifen, sind zum Abschuss freigegeben. Eine ganze Schwadron jagt sie. Die Behörden fürchten, die Tiere könnten Krankheiten verbreiten. Die Leichensucher schafften bisher erst die Hälfte der Siedlungsfläche. Eine elendige Arbeit. Sie ziehen mit Haken große Klumpen aus entwurzelten Pflanzen, Fischernetzen und Kleidern auseinander. Sie stapfen über eine Trümmerebene aus Matsch, zerrissenen Booten, Kinderspielzeug und Pfützen, in denen sich Verwesungsflüssigkeit sammelt. Die Studenten, junge Männer und Frauen, lachen bei der Suche, albern herum, völlig überdreht. Und viele von ihnen kehren am nächsten Morgen nicht wieder zurück nach Mullaitivu.

„Ich versuche, ein guter Katholik zu sein. Aber Gottes Entscheidungen zu verstehen fällt mir dieses Mal sehr schwer.“ Pfarrer James Bathinathen, 58, kann seinen Herrn nicht verteidigen. Er nimmt ihn nicht in Schutz. Er ist in die Stadt gekommen, um Reste der Kirche St. Peter zu bergen. Die Überlebenden, die er trifft, bestürmen ihn. Wie entsetzlich der Herrgott ist. Ein grausamer Menschenfresser. Pfarrer Bathinathen entgegnet nichts. Er hört nur zu, diesen Fischerleuten, die — eine Ausnahme unter den hinduistischen Tamilen — fromme Christen waren. Trost kann auch er ihnen nicht geben, weil er selber keinen findet.

Das Kreuz der Kirche schleuderte das Meer 200 Meter weit. Vom Gebäude stehen nur noch die Giebelseiten und der Turm mit der Totenglocke. Schon züngeln Stranddünen über die freie Fläche, dort, wo im Kirchenschiff noch vor kurzem Gläubige knieten. Die Heiligenskulpturen liegen in der Stadt verstreut. Vier Kirchen verlor der Priester an jenem zweiten Weihnachtstag, alle waren sie in Mullaitivu am Strand gebaut. Das Meer türmte sich genau zur Gottesdienstzeit um 8.45 Uhr auf. Und trotzdem kam niemand in den Kirchen um. Irgendwie dachte sich der Pfarrer, es wäre gut, das Fest der Heiligen Familie diesmal zentral am Josefsschrein abzuhalten. Der liegt auf höherem Gelände. Er könnte sich trösten, dass so 1500 Menschen gerettet wurden. Es gibt Leute, die sehen in ihm schon einen Heiligen. Jemand, der Zeichen des Herrn sah. Doch das tröstet ihn nicht. Pfarrer Bathinathen, der kaum geschlafen hat seither, dem fast die Hälfte seiner Gemeinde gestorben ist, seine Haushälterin, der Küster, die Kinder, mit denen er zusammen Weihnachten feierte, versteht die Zeichen Gottes nicht mehr.

Es waren zuletzt alle so zuversichtlich gewesen in Mullaitivu, der Frontstadt zwischen tamilischen Rebellen und Zentralregierung. Geschäftsleute hatten am Strand sogar ein Restaurant und ein Hotel für Touristen zu bauen begonnen. Eine Gemeinde in Aufbruchsstimmung. Fischer, die arm nach Mullaitivu gezogen waren, kamen schnell zu bescheidenem Wohlstand. 300 Boote lagen, nur zwei Jahre nach dem Waffenstillstand, schon wieder am Strand. Es schien Hoffnung zu geben für den Küstenort, der im 20 Jahre dauernden Bürgerkrieg zwischen der singhalesischen Mehrheit und der tamilischen Rebellenbewegung LTTE zusammengeschossen wurde. Wer Mullaitivu besaß, meinten die Kriegsherren, kontrolliere die See. Die Bevölkerung floh. Die kleinen Dörfer der Gegend säumen nun riesige Gefallenenfriedhöfe. Sie sehen aus wie die um Verdun, weiße Stelen, getrimmter Rasen, Kohorten von Toten. Nach der Rückeroberung durch die „Tamil Tiger“, nach Tausenden von Kriegsgefallenen, ist Mullaitivu nun Teil des tamilischen Winzstaats.

Die Fischer brechen mit dem Meer. Es geht nicht mehr, sagen die meisten in den Flüchtlingscamps. Viele, die das Meer seit Generationen nährte, können sich ihm nicht mehr anvertrauen. Seinen bloßen Anblick ertragen sie nicht mehr. Nur die Mutigen, die dieser Tage in die Stadt zurückkehren, um das verbliebene Eigentum zu retten, wagen die Konfrontation. Stellen sich an den Strand, unter Anspannung, vom Wetter gegerbte, kräftige Männer, erstarrt, und sehen hinaus.

Hilfe kommt nur langsam in den Norden Sri Lankas. Wenige ausländische Organisationen dringen bis hierher vor. Die Katastrophe droht politische Konflikte aufzureißen. „Macht die doch jetzt fertig“, sagen Eiferer im Süden. Im Norden erheben sich ähnliche Stimmen. Die Gelegenheit, wichtige strategische Positionen zu erobern, sei günstig wie nie. Die Staatspräsidentin Sri Lankas bestand bisher darauf, die Hilfe zentral von der Hauptstadt Colombo aus zu koordinieren. Die Rebellen verlangten dagegen, sie direkt zu beliefern. Zudem erliegen sie dem Reflex, den starken Mann zu markieren. Wir haben alles im Griff. Kein Bedarf an Katastrophenhilfe, heißt es von Offiziellen. „Von allem haben wir genug.“ Ärzte in den Lagern behaupten das Gegenteil. Fast alle wichtigen Medikamente gingen zur Neige, würden sogar schon mit Wasser gestreckt.

Unentwegt bellen die Lautsprecher in den Flüchtlingslagern die Namen von Vermissten, vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Eine lange Liste. Wenn sie zu Ende verlesen worden ist, wird wieder von vorne begonnen. Im Withiyaratha College in Mullaitivus höher gelegener Nachbarstadt drängen sich 2300 Personen. Im Megafon-Gedröhne sitzen die, die sich schon gefunden haben. Restfamilien trennen sich in den Klassenzimmern kleine Nischen ab, hocken abends um das schwache Licht einer Laterne. Die sanitären Bedingungen sind unbeschreiblich. Die Schule hat zu wenige Toiletten. Die Fischer waren außerdem gewöhnt, ihre Notdurft am Strand zu verrichten, mit dem Meer als Spülung. Die Aborte im Camp verwandeln sich deshalb rasch in einen Sumpf aus Kot.

Die Kinder, die nun ohne Eltern leben, beginnen, sich in Gruppen zusammenzuschließen. Acht-, zehnjährige Waisen, die im Lager eng aneinander kauern. Die Katastrophe zerstört Familien auch nach der Flut. Ein Fünfjähriger wirft seiner Mutter vor, seinen anderthalb Jahre alten Bruder getötet zu haben. „Ich konnte ihn mit meiner ganzen Kraft nicht halten“, bricht die Mutter im Schoß einer Nonne zusammen. Der Junge, der vom Vater gerettet wurde, weigere sich, bei ihr zu leben. „Dann werde ich auch sterben“, habe er sie angebrüllt. Der Vater versucht verzweifelt, das Kind zu beruhigen.

Die Welle reißt am Lebenswillen der Menschen. Mullaitivu hat in der Vergangenheit schon viel Leid erlebt, vielleicht aber ist dieses jetzt einfach zu viel. Immer mehr Menschen kündigen den Priestern an, sich umzubringen. Da weigern sich Männer, die ihre gesamte Familie verloren haben, zu essen. Neue Kleidung anzunehmen. Sich zu waschen. „Ich möchte verdorren“, sagt einer, der vor dem Camp auf der Wiese liegt. „Nichts ist mehr wichtig.“ Die Priester fürchten den ersten Suizid. Der könnte eine Kettenreaktion im Lager auslösen.

Während die Welt der Fischer zunichte ist, beginnt auch die der Bauern langsam zu sterben. Das Meer hat eine Lücke zur Süßwasserlagune geschlagen. Salzwasser strömt ein, vergiftet die Gegend, Reisfelder verfaulen, die Pflanzen wirken wie verbrannt. Zudem kippt das Grundwasser. „Wir wissen noch nicht, was mit uns passiert“, sagt Pfarrer James Bathinathen. Mullaitivu jedenfalls wird es nicht wieder geben. Die Behörden wollen die Überlebenden tiefer im Landesinnern ansiedeln. Auch Bathinathen baut seine Kirchen nicht wieder auf. Er möchte ihre Reste als Denkmal erhalten.

Am Nachmittag fährt vor dem Camp ein Jeep mit der Leiche eines siebenjährigen Mädchens vor. Sie ist an diesem Morgen im Krankenhaus gestorben. Wie es heißt, an einer falschen Behandlung. Das Schreien der Angehörigen hallt durch das Lager. Es steckt viele Familien an.

Noch gibt es keinen Trost. Noch geht das Sterben in Sri Lanka weiter.

 

Mullaitivu ist wieder im Krieg. Die Reste der zerstörten Stadt werden von der Luftwaffe Sri Lankas bombardiert. Die Basis der Sea Tiger nahe der Stadt wurde angeblich zerstört. Die Hilfsorganisationen haben den Wiederaufbau der Häuser gestoppt. Der Übersetzer, der mir damals sehr half, ein 70-jähriger Rotkreuz-Mitarbeiter, wurde von der LTTE in Beugehaft genommen. Ein anderer Übersetzer, der mich beim zweiten Besuch begleitete, ist in Colombo aus Angst um sein Leben untergetaucht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ein Jahr danach.
Mullaitivu– Rückkehr in Ruinen.

 
         
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PHOTOGRAPHIE
Daniel Samanns, München
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