„Es gibt drei Arten von Menschen.
Die Lebenden,
die Toten
und die, die zur See fahren.“ Aristoteles
Der Plastikstrick, der scharfkantig ist und spröde, schneidet sich in das Fleisch ihrer Hände. Fest umgreifen ihn die beiden Männer und ziehen, Zug um Zug, bis das Meer den rostigen Stahl preisgibt, zwei verschweißte Stangen, ein Kreuz, der Anker der La Salvia, was „die Erlöserin“ heißt.
Das Schiff dreht sich mit der Strömung zum offenen Meer. Es ist spät geworden, viel zu spät, sie hatten die Dunkelheit meiden wollen. Doch jetzt senkt sich die Sonne über die Bucht. „Wo bleibt ihr?“, brüllt der Schiffseigner Jeofrey Elad zum Strand hinüber. Ein großer Mann, der alle anderen Männer überragt. Kurz vor der Abfahrt ist ihm aufgefallen, dass die Besatzung noch nicht vollzählig ist. Er ruft lautstark. Er wartet, fassungslos mit hängenden Armen, und sieht zum Strand.
Nur schwer lösen sich an diesem Tag die Männer vom Land. Torkelnd erscheinen sie im letzten Licht der Dämmerung am Ufer. Dante, der Schiffskoch, betrunken. Ein anderer, betrunken. Vier, fünf weitere Nachzügler setzen schwankend auf kleinen Booten zum Schiff über. Ihre Frauen im Dorf wollten sie nicht gehen lassen. Die kleinen Kinder haben geweint. Bis zur letzten Minute haben die Männer ihr Leben zur Gänze fühlen wollen, auf ihre Art, mit Suff und Kartenspiel. Jeder trägt eine Plastiktüte mit wenigen Habseligkeiten. Sie wissen: Wo diese Fahrt hinführt, brauchen sie nicht viel Gepäck.
Auf ein Zeichen von Jeofrey wirft der Kapitän den Motor an. Er heißt Biany Mula, aber alle nennen ihn Dong, klein und kräftig, 53, die ergrauenden Haare orange gefärbt. Er steuert das Boot aus der Bucht von Masinloc, einer kleinen Hafenstadt an der Westküste der Philippinen. Vulkane steigen im Landesinneren auf. Von ihren Hängen ziehen sich grüne Wälder bis hinunter zur Küste. Dong steht nicht wie andere Kapitäne hinter dem Steuer, er schwebt über ihm, in einem Netz, das er in die offene Dachluke des Ruderhauses gespannt hat. Darin sitzt er wie in einer Hängematte, den Kopf über dem Dach, mit Sicht nach allen Seiten, die Füße auf dem Steuer.

Die Abfahrt
Das Schiff, das auf dem offenen Meer zerbrechlich wirkt, ist 20 Meter lang, zwei Meter breit, hat flache Ausleger zu beiden Seiten, ähnelt mehr einer Spinne als einem Boot, aus ihm ragen zehn Beine aus Holzstämmen, die ein Deck aus Bambusbrettern tragen. Bangkas nennen die Philippiner Boote dieser archaischen Bauweise. Die Konstruktion besteht fast nur aus Holz und existiert mit nur wenigen Änderungen seit Jahrtausenden. Die Polynesier, das erste Volk, das die Inselwelt Asiens besiedelte, haben sich mit ähnlichen Modellen über die Ozeane bewegt.
Mit einer Crew von 19 Männern steuert Kapitän Dong Kurs Südsüdwest. Es ist der Beginn eines Fischzuges, von dem sie sich reiche Beute versprechen. Sie alle wissen, dass sie dafür ein hohes Risiko eingehen. Ihr Ziel liegt 16 Stunden entfernt, 240 Kilometer draußen im Meer. Sie steuern eine einsame Erhebung im Meeresboden an, auf der sich über Jahrtausende Korallen angesiedelt haben. Hartnäckig, Schicht um Schicht, wuchsen sie dem Licht entgegen. Ein Triumph des Lebens. Ein Atoll. Das Scarborough Shoal.
Für die Fischer ist es einer der letzten reichen Fischgründe. Und für die internationale Diplomatie das mögliche Epizentrum des nächsten großen Bebens, das bald die Welt erschüttern könnte.
Der Ozean, der vor ihnen liegt, hat viele Namen. Die Briten, als sie noch Asien dominierten, nannten ihn den dangerous ground. Die Chinesen nennen es das Südchinesische Meer, die Philippiner die Westphilippinische See. Die Vietnamesen sagen ihrerseits Ostsee. Indonesiens Regierung hat große Teile erst kürzlich in Nordsee umgetauft. Sie ist um ein Drittel größer als das Mittelmeer. Ein Gewässer, das nur kleine und kleinste Inseln birgt, ein paar Quadratmeter groß, manche nur fußballgroße Felsen, die aus dem Wasser ragen. Doch wer dieses Meer kontrolliert, kontrolliert den Zugang zu Taiwan, das nördlich liegt. Wer die Atolle dieses Meeres beherrscht, beherrscht eine der wichtigsten Achsen der Globalisierung – die Schifffahrtswege zwischen Asien, Europa und Amerika.
Viele Nationen reklamieren die Macht über diese Welt der Atolle für sich, doch ein Land ist besonders gierig: die Volksrepublik China. In den vergangenen Jahrzehnten ist China mit Küstenwachschiffen immer tiefer in das Gewässer vorgedrungen, hat ein Eiland nach dem anderen besetzt. Chinas Schiffe blockieren die Schiffe anderer Nationen, rammen sie, tun alles, um ihnen den Zugang zu den Atollen zu verwehren – nur schießen tun sie noch nicht.
„Wir werden nicht einen Zentimeter Land aufgeben, den uns unsere Vorfahren hinterlassen haben“, erklärte Chinas Staatspräsident. Doch bleibt er Beweise schuldig, dass die alten Kaiser die winzigen Eilande jemals für sich beansprucht haben. Nirgendwo zeigt sich China so aggressiv wie auf diesem Meer. Nirgendwo ist die Gefahr größer, dass sich der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen China und den USA zu einem Krieg ausweiten könnte.
„Jeder Angriff auf ein philippinisches Flugzeug, Schiff oder Militär“, warnte der US-Präsident Joe Biden seinerseits, werde den Bündnisfall des Verteidigungspaktes mit den USA aktivieren.
Die La Salvia fährt hinaus in die Nacht. Schiffseigner Jeofrey hat sich neben Kapitän Dong aufs Dach des Ruderhauses gelegt. Dante, der Schiffskoch, hager und still, steht am Heck, wo in einem Holzkabinett der Gaskocher untergebracht ist. In zwei Alutöpfen garen Reis und Gemüse. Die meisten Männer kauern im Heck, eingehüllt in Jacken und Plastikplanen, um dem Wind zu trotzen. Die La Salvia dient ihnen als Mutterschiff. Huckepack trägt sie sechs kleinere Boote, drei links, drei rechts. Vor der Abfahrt haben sie die Boote an Seilen hinauf auf das Deck gehievt. Es sind hüftschmale Bangkas, gebaut wie das Mutterschiff, aber nicht viel größer als ein Einbaum. Draußen in Scarborough werden sich die Fischer auf sie aufteilen und ins Atoll ausschwärmen. Niemand von ihnen weiß, ob sie Scarborough je erreichen.