Söhne und Väter, keine Feinde

2023

Das Gras, durch das die sechs Männer schreiten, einer nach dem anderen, ist silbrig und weich, fast so weich wie Seide. Sie setzen jeden Schritt bedachtsam. Jeder tritt in die Spuren des anderen. Sie streichen mit den Händen über die hüfthohen Gräser, sanft schmeicheln sie ihnen auf der Haut.

Noch vor wenigen Monaten war hier nur verbrannte Erde. Jetzt, da es Frühling geworden ist und Sommer, wogt darauf ein Meer aus Gras. Die sechs Männer haben das Dorf Bohorodychne im Osten der Ukraine verlassen und ein kleines Tal betreten. Für fünf Monate verlief am Rande dieses Dorfes die Front. Erbittert kämpften Russen und Ukrainer gegeneinander. Zwischen Mai und September letzten Jahres wechselte es, so heißt es, vierzehn Mal den Besitzer. Die Ukraine hat die Siedlung im Herbst 2022 zurückerobert. Das Dorf, früher Heimat von knapp 800 Menschen, ist immer noch verlassen. Kein Haus, das nicht in Trümmern liegt. Die Kirche zur Mutter Gottes, deren Kuppel die ganze Gegend prägte, ist aufgesprengt, nur noch eine Ruine, schwarz von vielen Bränden.

„Tretet dorthin, wo euer Vordermann hingetreten ist“, erinnert Olexij Jukow, 37 Jahre alt, der Leiter der Gruppe. Die sechs Männer arbeiten für die Freiwilligenorganisation „Schwarze Tulpe“ der ukrainischen Regierung und müssen für ihren heutigen Auftrag ein Minenfeld durchqueren. Wie so oft. Ihnen voraus läuft ein Minensucher, der von der Armee zugeteilt wurde. Jeder Fehltritt kann die Männer das Leben kosten. Erst vor wenigen Wochen haben sie einen der Ihren verloren.

Die Kolonne von Olexij Jukow steigt vom Tal aus einen Berghang hinauf, bis fast ganz nach oben, dann sehen sie im Gras den bleichen Schädel. Neben ihm die in mehrere Stücke zerfetzte russische Uniform. Seinetwegen sind sie gekommen. Die Männer der „Schwarzen Tulpe“ haben jahrelang die Toten auf den Schlachtfeldern des Ersten und Zweiten Weltkriegs ausgegraben, oft im Auftrag der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Seit Beginn des neuen Krieges bergen sie die Toten auf den Schlachtfeldern der Gegenwart, russische wie ukrainische.

Sie haben sich nach dem Frachtflugzeug des sowjetischen Militärs benannt, das in den Achtzigerjahren die Gefallenen aus Afghanistan heimtransportierte. Der kleine, weiße Lieferwagen, den sie im Dorf haben stehen lassen, trägt ein Rotes Kreuz und die Ziffer 200, der alte sowjetische Code für Gefallene.

Jukows Männer folgen einem eingespielten Protokoll. Beim Schädel angekommen, streifen sie sich blaue Plastikhandschuhe über. Der Tote liegt hier seit August vergangenen Jahres. Erst vor ein paar Tagen hat ihn eine Drohne des ukrainischen Militärs entdeckt. Der Schädel ist bereits fleischlos. Seine leeren Augenhöhlen starren zum fast wolkenlosen Himmel hinauf. „Wäre er zu Hause geblieben“, sagt Jukow, als er den Kopf in die Hand nimmt, „wäre er noch am Leben.“ Seine Leute suchen den Boden nach Knochen und Minen ab. Wo sie Knochen finden, stecken sie ein rotes Plastikfähnchen in den Grund, wo sie Minen finden, markieren sie den Ort mit einem rot-weißen Band.

Es ist um sie herum ganz still. Der Krieg ist einige Kilometer weiter Richtung Osten gezogen. Der Lärm ist verklungen. Zu hören ist nur das leise Rauschen des Windes, etwas Vogelgezwitscher ab und an. Und das Geräusch der Männer, die Gras abreißen, um besser an die Knochen kommen zu können. Die Überreste des Toten liegen weit verstreut. Vier Meter vom Schädel entfernt, hangabwärts, stoßen sie auf das rechte Hosenbein des Soldaten. Der Oberschenkelknochen ragt heraus. Das andere Bein finden sie etwas rechts davon. Dazwischen liegt der Helm, mit mehreren Einschlaglöchern. „Schrapnelle“, sagt Jukow. „Drei gingen rein, eines ging hinten wieder raus.“ Der Mann, dessen Gebeine hier liegen und von dem noch kein Name bekannt ist, starb vermutlich eines raschen Todes.

Aus dem Hang ragen die schwarzen Stümpfe eines Nadelwaldes, der hier früher wuchs. Der Wald ist so zerstört wie das Dorf im Tal. Von Granaten zerfetzte Stämme. Metallsplitter in der Rinde. Die ukrainische Armee hatte sich auf der Hügelkuppe eingegraben. Der Tote, so vermutet Jukow, gehörte zu einer russischen Spezialeinheit, die die ukrainische Stellung umgangen hatte und sie von hinten angriff. Um sich gegen solche Attacken zu schützen, hatten die Ukrainer ein Minenfeld angelegt. Der unbekannte Soldat hatte es fast geschafft, bis auf 50 Meter war er an die ukrainische Stellung herangekommen, als er in eine Springmine lief.

Sie sind perfide Waffen, von der Wehrmacht in den Dreißigerjahren erfunden. Die Minen sind in der Erde vergraben und werden durch zwischen den Bäumen gespannte Drähte gezündet. Die Bomben springen einen Meter in die Höhe, explodieren erst dann in alle Richtungen und streuen so ihre Splitter in einem weiten Umfeld.

In einer Baumgruppe gleich hinter der Leiche findet der Minenexperte eine noch intakte Sprengfalle gleichen Typs. Ihr Draht ist fest zwischen den Stämmen verspannt. Vorsichtig, auf den Knien hockend, untersucht er, wohin der Draht führt. Dann umwickelt er die Bäume mit rotem Plastikband. Er wird die Mine nicht entschärfen, weil unter der einen Mine oft eine zweite liegt – als tödliche Falle für den Bombenentschärfer.

Jukow, hageres Gesicht, rotblonder Spitzbart, sucht fast schon sein ganzes Leben nach Toten. Die Erde der Ukraine birgt die Gebeine vieler Kriege. Als Jugendlicher hatte Jukow im Auftrag der Deutschen Kriegsgräberfürsorge begonnen, die Gefallenen der beiden Weltkriege zu exhumieren – Deutsche, Rumänen, Italiener, Russen und Ukrainer. Die Überreste von Menschen, die vor vielen Jahrzehnten ums Leben gekommen sind. Die Toten, die er jetzt birgt, starben vor nur wenigen Monaten, manchmal vor wenigen Tagen.

„Ich glaube nicht an einen christlichen Gott“, sagt Jukow. „Ich glaube an das Göttliche in der Natur.“ Seele und Körper seien miteinander verbunden. „Wir suchen keine Leichen, wir suchen Seelen.“ Wenn der Körper nicht zur letzten Ruhe finde, finde sie auch die Seele nicht. Weinend riefen ihn russische Mütter an, um sich nach ihren vermissten Söhnen zu erkundigen. „Das sind für mich keine Feinde“, sagt er über die Toten. „Das sind Söhne und Väter.“

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