Der Störfall

2022

„Die Menschheit ist verrückt geworden.“

Leitender Ingenieur, Kernkraftwerk Saporischschja

Es ist zunächst ein einzelnes Klingeln. Einsam ertönt es im Innern des fensterlosen Raumes, in dem bislang nur das gleichmäßige Rauschen der Klimaanlage zu hören war.

Rrring.

Es klingt harmlos wie der Klingelton eines alten Festnetztelefons. Nach wenigen Sekunden, aus einer anderen Richtung, kommt ein blechernes Hupen dazu, ein zweites Hupen bald, lauter als das erste, dann ein Schrillen von rundherum, aus allen Richtungen, hoch und stechend, ein Geräusch, das nicht überhört werden will. Es kreischt plötzlich aus allen Wänden.

Sieben Männer in beigen Uniformjacken stehen vor Wänden aus Metallpaneelen. Sie sehen auf ein Labyrinth aus Linien und Leuchtdioden. Einer von ihnen schlägt auf einen Knopf und stellt damit den Alarm auf stumm. Sofort wird es still. Wieder hört man nur das Rauschen der Klimaanlage. „Wir sind nicht mehr mit dem Netz verbunden!“, ruft ein anderer. Immer mehr Signallichter schalten von Grün auf Rot. Die Wände sind bestückt mit ihnen, mit Hunderten Schaltern, Knöpfen, Anzeigen, Leuchtfeldern, winzigen Lämpchen.

„Wir haben eine Stunde“, sagt der, der eben gerufen hat, der Schichtleiter im Atomkraftwerk Juschnoukrajinsk im Süden der Ukraine. Eine Stunde, die ihm und seinen Technikern im Kontrollraum bleibt, um den Kontinent vor einer der größten Katastrophen seit Tschernobyl zu bewahren.

Der Direktor Ihor Polowytsch, 46, steht in einer Beobachtungskanzel aus Glas und schaut auf die sieben Reaktorfahrer. Ein stämmiger Mann, der als Jugendlicher in einer Kohlemine gearbeitet hatte, die Wangen rot, die Haare schweißnass.

Jeder der Reaktorfahrer im Kontrollraum hat seine Aufgabe, jeweils zwei Mann steuern den Reaktor, zwei die Pumpen, zwei die Turbine, die den Strom erzeugt. Normalerweise sitzen sie hinter Computermonitoren, jetzt sind sie aufgesprungen, laufen vor ihren Instrumenten auf und ab. Es ist eine stille Hektik. Sie reden selten, und wenn sie reden, dann in Codes, der Sprache der Atomtechniker. ZGIS, MOVTO, BSHCHU, SIUR.

In Sekunden muss die Reaktorleistung gedrosselt und das Tempo der Kernspaltung reduziert werden. Ohne die Anbindung ans Stromnetz kann die vom Reaktor erzeugte Energie nicht abfließen. Dann droht sie den Generator zu zerstören und die Turbine. Am Ende würde dem Reaktor selbst der Strom fehlen, um die Wasserpumpen zu betreiben, die ihn kühlen. Die Folge wäre eine Kernschmelze. Das System, das durch den Stromausfall aus der Balance zu geraten droht, wird durch die Männer im Kontrollstand allmählich durch viele kleine Handgriffe stabilisiert, durch das feine Abstimmen von Spannungswerten, Frequenzen, Wasserdruck, Dampfgehalt, Öldruck und Temperaturen.

Der Störfall ist dieses Mal nur eine Übung, der Alarm lärmt heute nur im Simulator. Polowytsch hat seine Ingenieure angewiesen, einen Notfall zu simulieren, wie er sich Tage zuvor im Kernkraftwerk Saporischschja ereignet hat, ebenfalls im Süden der Ukraine. Seit Monaten ist jenes Kraftwerk von russischen Truppen besetzt. Dort waren alle Hochspannungsleitungen, die es mit dem Stromnetz verbinden, durch Beschuss gekappt worden. Es ist unklar, wer geschossen hat, die ukrainische oder die russische Seite. Immer wieder beschädigen Granaten Teile des AKW, ein Drama, das weite Teile Europas in Gefahr bringen kann.

Nach 40 Minuten haben die Reaktorfahrer im Simulator die Situation unter Kontrolle gebracht, und der Direktor verabschiedet sich in die Mittagspause in der Kantine, so wie immer.

Es ist der sechste Kriegsmonat. Es ist Anfang August. Über der Ukraine liegt drückende Hitze. 350 Kilometer südlich von Kiew, in der weiten ukrainischen Steppe, steht das zweitgrößte Atomkraftwerk des Landes. Drei mächtige Reaktorblöcke ragen aus der Grasebene, hart an das Steilufer des Flusses Südlicher Bug gebaut. Der Name Juschnoukrajinsk heißt auf Russisch schlicht „südliche Ukraine“. Die Reaktoren sind Giganten der Energieerzeugung, am Laufen gehalten von 7000 Arbeitern. Eine Leistung von jeweils 1000 Megawatt Strom und 3000 Megawatt Wärme, insgesamt etwa so viel Energie, wie das größte deutsche Kohlekraftwerk produziert. Auf der anderen Flussseite leben 42.000 Menschen in einer kleinen Stadt, die Juschnoukrajinsk heißt, wie das Kraftwerk. Jüngste Stadt der Ukraine. Ihr Bau wurde parallel zu dem des Kraftwerks in den Siebzigerjahren begonnen. Die Atomkraft ist für die Menschen hier alles, ihr Leben, ihr Schutzschirm, aber auch ihre größte Bedrohung.

So viele Kriege es in der Geschichte der Menschheit gab, sooft sich Menschen bei Massakern aller Art töteten – noch nie gab es einen Krieg wie diesen. Noch nie gab es Schlachtfelder, auf denen um Atomkraftwerke gekämpft wurde. Nie zuvor wurden Kernkraftwerke beschossen, absichtlich oder versehentlich. Nie zuvor war die technisch komplizierteste Apparatur, die Menschen jemals erfunden haben – eine der folgenreichsten, der riskantesten – dem Schrecken größtmöglicher menschlicher Gewalt ausgesetzt.

Drei Monate lang haben wir, die Reporter des ZEITmagazins, mit den Behörden in Kiew verhandelt, bis uns gestattet wurde, für zehn Tage nach Juschnoukrajinsk zu reisen. Von allen Atomkraftwerken, die die Ukraine noch kontrolliert, ist es der Front am nächsten. Seit Beginn des Krieges sind wir die ersten ausländischen Journalisten, denen der Zutritt gewährt wird. Die Nervosität ist groß. Die ersten zwei Tage behandelt uns diese Stadt wie ein Virus. Passanten rufen die Polizei, wenn sie uns sehen. Die Bewohner besitzen ein kollektives Abwehrverhalten; fast alle hier arbeiten im AKW.

Die Stadt liegt auf einem breiten Felsrücken, hundert Meter über dem Lauf des Südlichen Bugs. Sie ist der fast baugleiche Zwilling von Prypjat, der Satellitenstadt von Tschernobly. Die gleichen Plattenbauten. Das gleiche üppige Grün, die gleichen weiten Straßen, Alleen und Parks, wie es sie auch in Prypjat gab. Nur bohren sich hier keine Wurzeln durch die Fundamente, wachsen keine Büsche durch die Küchenfliesen wie in Prypjat heute, das 1986, fünf Tage nach dem Reaktorunglück, evakuiert wurde. Juschnoukrajinsk ist voller Leben. Auf den Fußgängerwegen drängen sich die Menschen. Junge Mütter, manchmal auch Väter, schieben Kinderwagen. Kinder überall. An vielen Stellen gibt es Verkaufsstände mit bunten Süßigkeiten und Softeis. Die Stadt im Schatten des Atommeilers, einer der gefährdetsten Orte Europas, gibt sich alle Mühe, ein Kinderparadies zu sein.

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