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PHOTOGRAPHIE Christoph Püschner

 

Die weiße Pest. 

Von der Rückkehr der Tuberkulose. 

 

 

Du wirst es bereuen. Gehe nicht hin. Bleibe weit weg davon. Die Reise, die in Kasachstan startet und zwei Wochen später in einem Krankenhaus in Berlin endet, beginnt mit Warnungen. Einwohner von Kyzylorda raten ab, zum Plattenbau am Ortsrand zu fahren. Du unterschätzt das Risiko, sagen sie. Der Mundschutz aus Mull, den dir die Ärzte geben, schützt nicht. Die UV-Lampen, die in den Räumen die Luft säubern sollen, taugen nicht. Das Desinfektionsmittel, mit dem du dir die Hände einreibst, wieder und wieder, immer manischer, erst abends, dann auch mittags, fast stündlich irgendwann, desinfiziert nur ungenügend. Du holst dir in diesem Haus, vielleicht weniger, vielleicht mehr, etwas vom Tod: Tuberkulose. Die weiße Pest.

Wenn es passiert, muss es schnell gehen. Eine so große Menge an Blut kann zu Panik führen unter den Patienten. Die Krankenschwestern rufen einander zu: Schrubber, Handtücher, Wasserkübel. Das Blut, dickflüssig und schwarz, ist im Waschbecken des Zimmers, auf dem Linoleumfußboden, dem Bett, auf den Kleidern des 28-Jährigen, seinem Gesicht. Ein letzter Schwall läuft über das Kinn. Gekrümmt liegt er auf der dünnen Schaumstoffmatraze, die Haut grau wie Asbest. Als der Husten begann, hatte er nach der Stationsschwester gerufen. In weniger als einer Minute floss dann seine Lunge aus ihm.

Haus der Schmerzen nennen Anwohner das Hospital am Rande der Stadt. „Ich hatte gedacht, er wird es schaffen“, ist Ärztin Klara Sadikowa am nächsten Morgen benommen. Die Kollegen im Ärztezimmer schauen ratlos auf sie. Es liegen vor Sadikowa die Berichte der Nacht. Einer gestorben, zwei dem Tod knapp entkommen. Ganz allein hat die 44-Jährige die Schicht in der 405 Betten-Einrichtung bestritten. Es fehlen Ärzte. Sie meiden dieses Haus. Lassen sich nicht von Zulagen ködern, nicht von höheren Löhnen. Zu groß ist die Angst. „Mit dem Toten habe ich gestern noch gesprochen“, murmelt sie müde. Benommen verbessert sie in den Patientenberichten Rechtsschreibfehler, der Kuli gleitet ihr zwischendurch aus der Hand. „Er war doch noch so optimistisch. Er habe ein gutes Gefühl, sagte er.“ Eine Kollegin stellt ihr einen Becher heißer Brühe hin. Sie rührt ihn nicht an. Erneut ist eine Schwester am Telefon, dringlich im Ton: Dritte Etage, die ältere Frau, das Fieber.

Ein Killer, an den man sich fast nicht mehr erinnerte, kehrt zurück. Seine Bakterien kommen über die Atemluft in die Lunge, lassen sich dort von denen fressen, die sie abtöten sollen, sie aber nicht abtöten können, den Makrophagen, Fresszellen des Immunsystems. Dort vermehren sie sich und infizieren den Organismus. Die Lunge zerfällt, langsam, über Jahre. Keine andere Infektionskrankheit außer Aids fordert weltweit so viele Opfer.

Besiegt glaubten sie die Mediziner. Ihre Schrecken kennt man in Westeuropa nur aus Erzählungen der Großeltern. Man studiert sie im „Zauberberg“ von Thomas Mann. Diese Sorglosigkeit geht jetzt ihrem Ende zu. Die Tuberkulose flammt wieder auf, stärker als je zuvor, resistent gegen Impfung und Antibiotika. Epidemien toben auf fast allen Kontinenten. Zwei Millionen Menschen sterben jedes Jahr den Tod der Schwindsucht. Mitteleuropa bleibt vorläufig noch verschont, aber auch hier werden Lungenärzte zunehmend nervöser. Immer dichter rücken die Epidemieherde. Das Baltikum haben sie schon erreicht, Rumänien. In England und Wales steigen die Zahlen bedenklich. Die Weltgesundheitsorganisation veröffentlichte vor wenigen Wochen einen Hilferuf: „Tuberkulose droht global außer Kontrolle zu geraten.“ Die Geschichte der Seuche wurde noch bis vor kurzem als eine der größten Erfolgsgeschichten moderner Medizin erzählt. Sie könnte jetzt zu eine ihrer größten Niederlagen werden.

Die Menschen ertrinken, wo es kein Meer gibt, nur trockenen Staub, ausgedörrtes Land, inmitten von Steppe. Sie ersaufen im Tbc-Krankenhaus von Kyzylorda am Blut aufgeplatzter Lungengefäße. Vier Stockwerke hoch, kahl außen, kahl innen, Chirurgie, Labors, Abteilungen für Kleinkinder, Jugendliche und Erwachsene: Der Bau ist im Kampf gegen die Menschheitsgeißel eine der vordersten Verteidigungslinien. Kasachstan hat eine der höchsten Erkrankungsraten der Welt, und die höchste von Kasachstan hat der Bezirk Kyzylorda, aus dem die Ärzte fliehen. Etliche vom Personal haben sich angesteckt, in der Isolierstation ringt eine Lungenärztin um ihr Leben. „Ich hätte nie gedacht, dass es so weit kommt“, sagt Sadikowa, die sich zu Sowjetzeiten auf der Siegerseite wähnte.

Zwei Katastrophen machten die Steppe zum Epizentrum einer Epidemie. Die untergehende Sowjetunion hat ihr Gesundheitssystem mit sich gerissen. Von der Ostsee bis zum Japanischen Meer schlossen binnen wenigen Monaten Krankenhäuser, Pharmakombinate, legte man Röntgenbusse still, die früher für Tbc-Reihenuntersuchungen durch die Dörfer tourten. In den 90er-Jahren gab es kaum mehr Vorsorge und Behandlungsmöglichkeiten. Infektionen blieben häufig unerkannt. Die Ernährungslage wurde dramatisch schlechter, die Arbeitslosigkeit nicht mehr schätzbar. 80 Prozent sind es hier zeitweise gewesen. Dazu kam die zweite Katastrophe. Die ökologische. Unter ihr brach das Immunsystem der Menschen von Kyzylorda vollends zusammen. Dem Aralsee in 400 Kilometer Entfernung hatte man zu lange zu viel Wasser entzogen, er trocknete aus, das Salz des Meeresbodens weht über die Steppe. Seine Ablagerungen auf dem Gelände der Klinik sehen aus wie Schnee. Pestizide, Insektizide, Sündenfälle sowjetischer Landwirtschaft, früher im Acker, sind jetzt in der Luft, im Grundwasser. „Wir haben keine Ahnung, was im Wasser ist“, sagt die Ärztin Sadikowa . „Aber es macht uns krank.“ Es hat den Anschein, als sammelten sich in Kyzylorda alle Gifte der Vergangenheit.

Die Ausgezehrten schauen auf ausgezehrtes Land mit sterbender Vegetation. Letzte Bäume stehen vor den Klinikfenstern. Statt Blättern tragen sie schwarze Krähen auf ihren Ästen. Sie schreien, Tag aus, Tag ein. Dem zwölfjährigen Imangeldy sind sie die einzigen Gefährten. „Ich spiele mit ihnen in meinen Träumen“, sagt der Junge, Kanüle im Hals, allein in einem weiten leeren Raum. Selten kommt jemand herein. Höchste Ansteckungsgefahr, heißt es. Die Tuberkulose-Erreger haben Imangeldys Hirnhaut infiziert, wohl die schlimmste Form der Seuche. Er wäre fast daran gestorben. „Du darfst dich nicht bewegen. Die Toilette musst du im Liegen erledigen. Du musst versuchen, so still wie möglich zu liegen.“ Klara Sadikowa prägt ihm auf ihrem letzten Rundgang nochmals die Überlebensregeln ein. Der Junge liegt seit 40 Tagen so still wie möglich, er weint jetzt oft. Zu den Regeln gehört auch die Einnahme von 17 Präparaten, stündlich eines, rund um die Uhr. Die Ärzte stehen ihren Gegnern, den Pestilenzen, in Grausamkeit zuweilen nur wenig nach. Nachts kommt die Schwester, wenn er wimmert, und knuddelt ihn kurz. Imangeldys Mutter war lange nicht mehr da. Sie lebt in einem Dorf, nicht sehr weit, aber sie hat das Geld nicht für den Bus.

Die Kinder von Kyzylorda reißen aus, sie rennen den Schwestern und Ärzten davon. Aus kahlen Klinikfluren flüchten sie in die weite Leere der Steppe. Dann schickt man Suchtrupps hinter ihnen her. Ein halbes Jahr werden die Kleinen auf der 80 Betten großen Kinderstation isoliert, bei Komplikationen wird daraus ein ganzes. So lange dauert die Therapie. Das Jüngste, das sie hier behandeln, ist noch keine sechs Monate alt. Viele haben Eltern und Geschwister verloren. Viel zu große Mulltücher schlucken die Gesichter der Kinder. „Bei den Kleinen ist es sehr schwer, sie an die Masken zu gewöhnen“, stöhnt eine Stationsschwester. „Sie ziehen sie herunter, sie knabbern an ihnen, sie beißen sie durch.“ Es gibt keine Spielsachen in den Räumen, keine Vorhänge an den Fenstern - in ihnen könnte sich Tbc einnisten. Wind zieht durch löchrigen Fensterkitt. Der einzige Fernseher spielt den Action-Thriller „Blade“. Er erzählt von Vampiren, die einem grausam das Blut aussaugen. „Es ist erstaunlich“, sagt die Stationsschwester, „dass die sanftesten Jungs bei uns die aggressivsten werden.“ Wer all das durchstand, wessen Tbc-Tests schließlich negativ sind, kommt für weitere zwölf Monate ins Tbc-Sanatorium. Ein noch trostloserer Plattenbau, 200 Meter gegenüber, auf der anderen Seite der Krähenbäume.

Eine Kindheit in Quarantäne. „Ich kann nicht mehr. Ich werfe mich unter ein Auto,“ erlitt neulich ein 16-jähriges Mädchen einen Nervenzusammenbruch. Der Bluttest, der den Kindern alle paar Wochen abgenommen wird, schien nach Monaten endlich negativ geworden zu sein. Das Mädchen war außer sich vor Freude. Doch wenig später teilte ihr die Ärzte mit, sie hätten sich geirrt. Eine Analysepanne. Nun hieß es für sie, weiter ausharren in der Isolation, sieben Tabletten nach dem Frühstück, sieben nach dem Mittagessen. Die Nebenwirkungen sind heftig. Ein Junge in der Kinderstation klagt, dass er zeitweise doppelt sehe. Andere plagen Kopfschmerzen und Übelkeit. Drei der Grundpräparate, die sie regelmäßig schlucken, führen zu Leberschmerzen, schließlich Leberschäden. Es gibt Kinder, die an Gehörverlust und Nierenschäden leiden.

Um die Stimmung zu heben, haben die Betreuerinnen jetzt Miss- und Misterwahlen unter den Jugendlichen veranstaltet. Da gab es einen Catwalk, und alle haben sich zurecht gemacht. Die Jungs als Sunnyboys, cool und adrett, die Mädchen mit Schminke und selbstgenähten Kleidern. Die Masken durften sie ausnahmsweise abnehmen dabei, und alle bekamen einen Preis. Die Ärzte simulieren einen Schulunterricht mit Mundschutzpflicht. Es gibt Lehrer, die üblichen Fächer, aber keine schlechten Noten. „Ich verbiete meinen Kollegen grundsätzlich, schlechte Noten zu vergeben“, meint die Rektorin. „Wir wollen die nicht zusätzlich quälen. Wir wissen nicht, wie lange unsere Kinder noch zu leben haben.“ Draußen, in der Welt jenseits der Klinikmauern, gelten junge Leute mit Tbc, auch wenn sie ausgeheilt ist, als aussätzig. Sie finden nur schwer Lebenspartner. Gelten als schlechte Partie. Es heißt, sie seien unfruchtbar. Die Jugendlichen in der Station ahnen längst: Es gibt keine Entlassung aus der Isolation.

In der Schule ohne schlechte Noten setzt sich der blonde Juri in der ersten Klasse wieder an seinem Platz, traurig und verstört. Der Sechsjährige war für zehn Minuten draußen, die Mutter ist schnell vorbeigekommen, sie hat ein bisschen geweint, ihn übers Haar gestreichelt, ihm Schokolade und einen Apfel geschenkt. Mit großer geschwungener Schrift hatte er im Heft bis zu der Unterbrechung die Schreibübungen gemacht, ganz klein fängt er jetzt wieder an, unsicher. Juri ringt mit den Tränen, doch Juri weint nicht mehr. Bald werden seine Buchstaben wieder größer. Er lebt seit Jahren in Tbc-Krankenhäusern. „Mich hat mein Onkel zu Hause angesteckt“, sagt er. „Der ist vor einem Jahr gestorben.“

Bei einem Wort zucken sie alle in diesem Haus zusammen, egal, welche Etage, ob Alt oder Jung. Es heißt Punkzii. Zu ihr geht es in den vierten Stock, wo Chirurgen mit Schlauch und Pumpe warten. Bei schweren Fällen der Tbc bildet sich eitrige Flüssigkeit am Rippenfell. In dem Maße wie der Brustraum zuläuft, wird die Lunge gequetscht, immer stärker, bis hin zum Ersticken. „Ganz ruhig“, führen die Lungenmelker ihre Patienten mit nacktem Oberkörper hinein. Sie stechen zwischen zwei Rippen eine 18 Zentimeter lange Nadel in die Flüssigkeitsblase. Einen Schlauch schließen sie dann an und eine automatische Pumpe. Wenn die ausfällt, was vorkommt, bringen sie eine Handpumpe herbei. Liter für Liter saugen sie aus der Brust, oftmals täglich. Kommt es zu Entzündungen in der Lunge, weil dort die Tbc bereits Hohlräume schuf, bleibt der Schlauch mehrere Tage im Körper. Die Menschen sitzen auf ihren Betten und schauen zu, wie aus ihrem Innern dunkelgelber Eiter in kleine Milchflaschen rinnt. Ab und an tropft dabei auch etwas auf die Matratzen. Bildet blasse Flecken. Das Bettzeug verbrennen die Schwestern einmal in der Woche auf dem Hof.

Das Duell zwischen Medizin und Tbc nimmt einen immer ungünstigeren Verlauf. Den Ärzten gehen allmählich die Waffen aus. Weltweit wirken Antibiotika nicht mehr, eines nach dem anderen wird stumpf. In der ehemaligen Sowjetunion erreichen die Resistenzraten gegen mindestens ein Medikament gebietsweise 67 Prozent. Schlimmste Brutstätten sind Gefängnisse, die überfüllt, stickig und verdreckt mit jedem Stoß Entlassener die Seuche neu ins Land ventilieren.

Die Gefängnisärzte der Tbc-Kolonnie 167/2 ertragen das Sterben in ihren Zellen nicht mehr. Im Nachbarbezirk von Kyzlorda haben sie sich deshalb entschieden, die Gefängnistore ausnahmsweise für die westliche Presse zu öffnen. 31 Mediziner behandeln hinter fünf Meter hohen Mauern tausend an Tbc erkrankte Gefangene. Bis vor kurzem hatten sie die Männer hier einfach nur zusammengepfercht, isoliert von gesunden Häftlingen, ohne sie je behandeln zu können. „Damals lagen in den Stockbetten Leichen über Leichen“, berichtet der Major Isabekow Kanshigit, 42. „Wir konnten nichts anderes für die Leute tun, als ihre Kadaver zum Tor hinaus tragen.“ Der kasachische Staat versorgte die Insassen nicht mit den nötigen Medikamenten. Seit drei Jahren werden in der Kolonnie 167/2 immerhin die fünf Grundpräparate verabreicht. Wer nicht an Resistenzen erkrankt, wird gerettet. Wer an Resistenzen erkrankt, kommt im Tbc-Gefängnis in ein doppelt abgeschirmten Hochsicherheitstrakt. Zwölf Schlösser trennen ihn von der normalen Haftanstalt - trennen Tod von Leben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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rockener Husten füllt die Räume, rasselnder Atem, ausgemergelte Männer stehen stramm, die schwächeren rollen sich ein in Filzdecken. Todgeweihte, wie Kanshigit einräumt. „Wir beantragen Jahr für Jahr bei der Regierung, uns die Reservepräparate zu bewilligen. Die könnten hier alle heilen. Nie bekommen wir Antwort.“ Die Schwerstkranken, deren Lungenflügel beidseitig durchseucht sind, die nur noch wenige Wochen zu leben haben, entlassen sie. Ein Akt letzter Gnade. Ein bis zwei Monate in Freiheit bleiben ihnen durchschnittlich. Dann sind sie tot. Kanshigits Kollege erzählt nach der Besichtigung, bei Wodka und Bier, von seiner Alkoholsucht, wie der Tbc-Tod ihn auf den Alkohol brachte. „Du siehst den Leuten ins Gesicht und weißt, der wird sterben. Du weißt auch, das müsste der nicht. Das macht dich irre auf Dauer.“ Die Gefängnisärzte hoffen nun auf Hilfsorganisationen. Aber auch die zögern, die rettenden Reservemedikamente zu liefern. Fürchten, dass nach Ablauf der Haftzeit, viele die Behandlung abbrechen und sich Resistenzen sogar gegen diese letzten Mittel bilden.

Es darf jetzt nichts mehr passieren, sagten sich auch die Ärzte in Kzyzlorda, als sie vor zwei Jahren die Multi-Resistenz-Abteilung aufmachten. Außerhalb des Krankenhauses, am anderen Ende der Stadt, isolierten sie die an den neuartigen Erregern Erkrankten. Fast 100 Menschen liegen heute hier. Sie erhalten fünf Reservepräparate. Bis zu 4000 Euro kostet die zweijährige Behandlung, eine normale Tbc hingegen nur wenige Euro. Weltgesundheitsorganisation, die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau und Europäische Union gaben Gelder für die Gründung dieser Zentren in den GUS-Staaten. Wenn die Ärzte Zweifel haben, dass ein Patient die Prozedur nicht durchhält, nehmen sie ihn nicht auf. Überlassen ihn seinem Schicksal.

Doch es passierte, was nicht passieren durfte. Der Hausfrau Iskakowa Rsaloly fehlten zehn Euro für eine Zugfahrt. Armut ist der engste Verbündete aller Seuchen. Die Frau war an einer resistenten Form erkrankt, die Spezialmedikamente gab es damals nur in der fernen Hauptstadt Almaty. Nach der Therapieunterbrechung halfen auch die Reservepräparate nicht mehr. An Rsaloly diagnostizierten kasachische Ärzte erstmals die „Super-Resistenz“. Die WHO hatte seit Jahren gewarnt, dass so etwas eines Tages auftreten könne. Kein Medikament kommt dieser Tbc-Form verlässlich bei. Neun Monate suchte man sie in Kyzylorda zu behandeln, dann entließ man sie. Zum Sterben. Seither tauchten Dutzende dieser Fälle im Land auf. „Es könnte bald wieder so schlimm werden wie vor 100 Jahren“, sagt die übernächtigte Klara Sadikowa. Noch will sie aushalten im Seuchenheim. Sie muss – ihr Mann, ein Ingenieur, ist arbeitslos.

Die Plage streut nach Mitteleuropa. Nie zuvor konnten Bakterien Kontinente schneller wechseln. Lungenklinik Buch, Berlin. In der Schleusenzone legt Daniela Zachow Maske, Handschuhe und Kittel an. Ungeduldig fingert sie an den Schnüren. Dann erst kann sie in die Isolierstation. „Guten Tag Herr Voss“, überrascht sie ihren Klienten über seiner Klatschzeitung. „Ich bin von der Tuberkulose-Fürsorge.“ Die Zahl der Neuerkrankungen sank in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten so stark, dass einzelne Bundesländer bereits die Auflösung der Beratungsstellen erwogen. Sie besannen sich jetzt eines Besseren. Zu besorgniserregend ist das, was Ärzte mittlerweile in den Lungen kasachischer Aussiedler, rumänischer Saisonarbeiter und moldawischer Huren finden. Neulich ist eine Variante der „Super-Resistenz“ in Bayern aufgetaucht. „Ich muss wissen, mit wem Sie im letzten halben Jahr Kontakt hatten. Nur so können wir eine Ausbreitung verhindern.“ Zachow, Typ energisch und zupackend, recherchiert jeden einzelnen Tbc-Fall in ihren Stadtbezirken. Versucht zu klären, aus welcher Straße, aus welcher Wohnung die Seuche kam.

Peter Voss (Name geändert) fällt die Skatrunde seiner Stammkneipe in Marzahn ein. „Ich kenne die aber nur beim Vornamen“, sagt er. „Der eine heißt Rudi. Und der andere, stimmt, der hustet immer sehr. Der heißt Luze.“ „Ist da auch `ne Bedienung?“ fragt Zachow. Wirt, Nachbarn, Personal, Skatbrüder wird sie in den nächsten Tagen kontaktieren. Voss ist ein einfacher Fall. Ein einsamer.

Hunderte von Verdachtspersonen muss Zachow manchmal zum Röntgen aufs Amt schicken. Die Kundschaft von Zahnarztpraxen und Klassen ganzer Schulen. Wer sich weigert, wird zwangsvorgeführt. Wer Tbc-krank ist, ansteckend und eine Behandlung ablehnt, kann in Kliniken zwangsweise eingewiesen werden. Für Monate. Bundesinfektionsschutzgesetz. „Wir werden immer wieder Ihre Befunde abfragen,“ mahnt Zachow. „Wir werden Sie von nun an drei Jahre lang überwachen. Wir wollen sichergehen, dass Sie das auch machen, was Ihnen die Ärzte sagen.“ Und sie gibt Voss noch einen ungewöhnlichen Rat. Er solle vorsichtig sein, wem er das mit der Tbc anvertraue. Zachow kennt einige, die durch Vorurteile Freunde und Arbeitsplatz verloren. Verblüffend schnell wird man zum Aussätzigen, auch in Berlin.

Hart bedrängt versucht die Medizin noch einmal den Befreiungsschlag. Noch einmal will sie die Tbc bezwingen. Eine U-Bahnfahrt von Zachows Röngtenamt entfernt, entwickeln acht Infektionsbiologen einen neuen Impfstoff. Den BCG Super. Direktor Stefan Kaufmann am Max-Planck-Institut schwenkt im Glaskolben eine blassgelbe Flüssigkeit. Das Protein Listeriolysin durchlöchert die Fresszellen, in denen sich der Tbc-Erreger bisher verbarg. So aufgedeckt, orte das Immunsystem die Bakterien und attackiere sie. Selbst resistente Formen soll die neue Rezeptur knacken können. Bei den Mäusen auf dem Institutsdach, schräg gegenüber der Reichstagskuppel, klappt das bereits. Dieses Jahr beginnen die Tests an Menschen. Fünf internationale Forscherteams sind an Impfstoffen dran. Marktreife vielleicht in fünf Jahren. Zudem sind etliche neue Medikamente in der Entwicklung.

Ein Happy End also hintendran? Leider nein. „Wir sind mit Tbc in einem ewigen Stellungskrieg“, sagt Kaufmann. Ein relativ hoher Anteil der Bevölkerung ist auch in Mitteleuropa infiziert. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand erkrankt, ist jedoch sehr gering, solange die Menschen ihr starkes Immunsystem behalten. Weltweit tragen den Erreger ein Drittel der Menschen. Stefan Kaufmann zählt dazu. Und auch der Autor ist nach seiner Rückkehr zum Testen gegangen. Das Ergebnis: positiv.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
   
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