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PHOTOGRAPHIE Uli Reinhardt

Die Jagd nach Leben. Der Einsatz einer  schwäbischen Suchhundestaffel. 

 

 

Der Tag, den sie voller Hoffnung begannen, endet in Verzweiflung. „Es ist vorbei“, sagt Klaus Röper. In Rettungsuniformen klettern die sieben Deutschen über Trümmer, Rücken krumm, Köpfe zwischen die Schultern gesackt. Die Menschenmenge, die ihnen auf dem Rückweg eine Gasse öffnet, sie aufmuntern will, sehen sie nicht. Blutverkrustete Köpfe, von herabstürzenden Wandteilen aufgeschlagen, nicken ihnen zu, bandagierte Hände recken den Daumen. „Wir haben keine Chance“, sagt Röper wieder, und die anderen schweigen. Zwanzig Stunden schon suchen sie, keinen einzigen Überlebenden haben sie gefunden. Ihre Beine, müde und schwer, schrammen gegen Teile von Schrankwänden, verbogene Bettroste, treten auf Familienfotografien, die aus Betonfundamenten quillen. Die orange leuchtenden Retter reden wenig, vergraben das Gesicht in das Fell ihrer Hunde, immer wieder, wie zum Trost. Auf Schreckliches hatte sich das Team vor dem Flug ins algerische Erdbebengebiet eingestellt, nicht aber auf das Schrecklichste: hilflos zu sein.

Eine sakrale Stille begleitet den kleinen Tross auf dem Weg durch die Ruinen. Rettungshundestaffeln sind die letzte Instanz der Hoffnung. Den Tod wollen sie überrunden, ihm liefern sie ein Wettrennen, ein vermessenes manchmal, dafür trainieren sie jahraus, jahrein. Sie schlagen ihn mit seiner eigenen Waffe, dem Jagdinstinkt, der in freier Wildbahn den Tod bringt und Verschütteten das Leben. Deutschland ist weltweit das Hochland der Suchhunde, 3000 Vierbeiner, flächendeckend organisiert in 400 Staffeln. Malteser, Johanniter, DRK, alle sind in den vergangenen zehn Jahren auf den Hund gekommen. Seine Nase ist das perfekte Ortungsgerät, ausgestattet mit bis zu 250 Millionen Riechrezeptoren. Der Mensch hat sieben Millionen. Die Mitglieder der Staffeln arbeiten allesamt ehrenamtlich, auch die Einsatzkräfte der „Search and Rescue Dogs Germany (SAR)“. Aus dem Roten Kreuz gründete sich die eigenständige Gruppe um Klaus Röper, weil ihnen die Organisation bei Auslandseinsätzen zu schwerfällig war und sie schneller sein wollten, viel schneller.

Das Handy klingelt. Mittwoch, 21. Mai. Die Lichtkegel der Taschenlampen wandern über den Laubboden, Röper steckt im dämmrigen Unterholz, er nestelt an der Gürteltasche. Es ist später Abend, die Staffel übt in einem Wald bei Nürtingen Flächensuche, wie sie es dreimal in der Woche tut. Ein Staffelmitglied hat sich versteckt, die Tiere wedeln durch das Geäst. Die Hundeführer versuchen, sie zu koordinieren, ihre Reaktionen zu verstehen. „6,7 auf der Richterskala, 40 Sekunden, die Todeszahlen noch niedrig, aber sie steigen von Meldung zu Meldung.“ Der Anrufer ist ein Bekannter mit „Erdbebenticker“ am Computer. Röper, von Beruf Gaststätteneinrichter, Schreibtischbäuchlein, scheu und selbstbewusst zugleich, war bei den schlimmsten Erdbeben der letzten zehn Jahre im Einsatz. Er ahnt: „Da kommt etwas auf uns zu.“

Der Tod in Trümmern. Es gibt Menschen, lebendig begraben, die an der reinen Angst sterben. Andere ersticken, verdursten, verbluten langsam. Stuttgarter Flughafen, 22. Mai, 19 Uhr, 23 Stunden nach dem Beben. Noch 49 Stunden, bis den meisten Verschütteten die Kraft ausgeht. Röper schaut von nun an immer häufiger auf seine Uhr. Die algerische Regierung fordert deutsche Rettungskräfte an, auch die SAR, die Botschaft faxt ein Schnellvisum. Der Transport erweist sich als ernstes Problem. Die Linienverbindungen sind ausgebucht, Charter kann die ehrenamtliche Truppe nicht finanzieren, das THW, das mit einem Charter der Bundesregierung von Köln/Bonn startet, weigert sich, Externe aufzunehmen. Angeblich eine Versicherungsfrage.

Die Zeit drängt, und die SAR-Gruppe hat noch keinen Flug. Vier Leute telefonieren pausenlos. Schließlich wendet sich Röper ans Focus-Magazin, das den Kontakt zum Maschinenbauer Reinhold Würth vermittelt. Der schwäbische Unternehmer stellt spontan einen Firmenjet zu Verfügung, überredet zwei Piloten zu Überstunden. So landet in Stuttgart außerplanmäßig eine dreistrahlige Dassault Falcon und fliegt die Staffel endlich nach Algier. Sie sind hoch euphorisch, neun Hundeführer mit fünf Hunden, schlafen kann keiner im Edelflieger, obwohl sie wissen: An Schlaf wird Mangel sein in nächster Zeit.

Mitternacht, ein Scheinwerfer spendet trübes Licht. Schroff steigt der Trümmerberg auf, er droht zu kippen, die Wände des Mehrfamilienhauses, zerbrochen und gesplittert, werfen klingenscharfe Schatten auf die Hundeführer. Als Erste schickt Ursula Steeb, 32, Konstrukteurin, die Erfahrendeste, ihren Hund Gipsy in die Spalten. Algerische Polizisten holen einen Mann aus dem Dunkeln. Er vermisst Frau und Tochter, versucht sich zu erinnern, wo genau im Gebäude sie gewesen sein könnten. Er wirkt apathisch, weint nicht, klagt nicht. Die Spalten, durch die sich Gipsy, der belgische Schäferhund, quält, sind oft nicht höher als 40 Zentimeter. Die Wände wurden regelrecht pulverisiert, die Betondecken der Stockwerke stapeln sich. „Wie ein Sandwich“, sagt Röper. „Abartig. Wer will da drin überleben?“

Gipsy kriecht, mitunter robbt sie, mehr Schildkröte als Schäferhund. Die Verbrüche sind instabil, immer besteht die Gefahr, dass sich das Tier einklemmt. Während des letzten Erdbebeneinsatzes in der Türkei 1999 verletzten sich von fünf Hunden drei. Steeb lässt das Tier eine Holzleiter hinauf, von der es auf die Decke springt, vielleicht führt dort ein Loch ins Innere. Für Gipsy ist es ein Spiel. Sie hofft auf ausgelassenes Kraulen, das ist der Lohn, den sie auf Übungen vom Versteckten bekommt. Irgendwo stößt Steeb auf rosa Mädchenschuhe, die einer Dreijährigen passen, der Familienvater nickt, es sind die seiner Tochter. Mehr geben die Steine nicht frei. Gipsy hat einmal gebellt, nicht so dynamisch wie sonst, verhalten. „Eine Leiche“, sagt Steeb. Der Mann, die kleinen Schuhe in seinen Händen, dankt ausdruckslos und tritt aus dem Scheinwerferkreis der Feuerwehr.

Sieben Uhr morgens, das dritte Gebäude. Die Hitze zieht süßlichen Verwesungsgeruch aus dem Schutt, Gipsy zittern die Beine, und auch Steeb kann nicht mehr. In aller Hektik hatte sie kurz vor Abflug noch Konstruktionszeichnungen an BMW gemailt. Ansaugmodule entwickelt sie. „War knapp, die hätten nicht weitermachen können.“ Im Schatten eines Baggers versucht sie nun zu dösen, Augen zu, Beine hoch, das soll erfrischen. Eine verrückte Woche, schon vor Algerien. Zwei Nächte lang hat Steeb nach Vermissten gesucht, die Polizei in Baden-Württemberg hält sie auf Trab. Montags sprang ein junger Mann von einem Autobahnviadukt, 40 Meter tief, zwei Stunden brauchte Steeb, bis sie den aufgeplatzten Oberkörper entdeckte. Dienstags suchten sie sieben Stunden lang im Wald bei Rottenburg. Ein alter Mann, der die Diagnose Leukämie erhalten hatte, war nach Schreiben eines Abschiedsbriefes verschwunden. Diesen Verzweifelten fanden sie nicht. Erst am frühen Morgen fiel Steeb ins Bett.

7.30 Uhr. Ein trockener Knall. Die Luftmatratzen der Dösenden schaukeln, ein Gefühl wie auf hoher See. Explosionsartig entlädt sich das bisher schwerste Nachbeben, 5,8. In der Stadt heulen Polizeisirenen. Das Team bricht wieder auf. Während der Fahrt zum nächsten Einsatzort wirken sie ein bisschen wie eine Kegelrunde auf Kultururlaub. So also ist Arabien. Bella, die Bordercollie-Hündin, bekommt einen Verband ans Bein. Sie blutet.

Als hätte Gott einen Markierungspfeil ins Epizentrum geschleudert, steckt das Minarett mit schwerer Schlagseite im Schutt. Es ist 8.30 Uhr, Zemmouri, eine Kleinstadt. Dichte Menschenmassen umlagern das Zentrum, mittendrin Thilo Dannenmann, 33, Webdesigner, der in der kollabierten Moschee nach Vermissten suchen soll. Er lässt sich den Bericht des Polizeioffiziers übersetzen, der nennt die Zahl 100, und Dannenmanns Magen ist ein kleiner harter Klumpen. „Suuuuchen, Schlamper!“ ruft er Cajoule zu. Er fühlt Angst vor den Plätzen aufkommen, zu denen ihn sein Hund führen soll. „Suuuchen, Spatz!“ Dannenmann, der selten wegkommt vom Schreibtisch daheim, macht sich auf ins Massengrab.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Es ist sein erster Einsatz im Ausland, die Prüfung zur Trümmersuche hat das Gespann im März bestanden, nach 18 Monaten Vorbereitung. „Vertraue deinem Hund!“ schaute die stämmige Prüferin streng von ihrem Notizblock auf. Herrchen und Hund übertrafen einander in Nervosität. Die zwei Kandidaten vor ihnen waren durchgefallen, es regnete, und das zur Hälfte abgerissene Heilbronner Altenheim sah aus wie nach echter Katastrophe. Hinterm Absperrgitter bangte Dannemanns Frau Annette mit. Drei Testverschüttete hatten die Prüfer an unterschiedlichen Orten im Gebäude versteckt, Speisereste als Fallen ausgelegt, aber Cajoule ließ sich nicht linken, rasch fand er die ersten zwei. Beim dritten machte er es spannend, suchte ratlos umher, zögerte, versuchte angestrengt, Witterung aufzunehmen, und Dannenmann geriet richtig ins Schwitzen. Doch dann kam aus dem Keller das erlösende Bellen. Trotzdem ließ ihn das Prüfungskomitee lange im Unklaren, sie tuschelten. Ihre Köpfe wackelten unter den Schutzhelmen gedankenschwer. „Also“, sagte endlich die Prüferin. „Bestanden.“ Dannenmann kamen die Tränen, so viel Freizeit hatte er diesem Urteil geopfert, so viel Energie. Die Prüfer umarmten ihn, er umarmte Cajoule, und Frau Annette kam lachend vom Zaun gelaufen.

In die Decke des Gebetsraumes haben algerische Rettungskräfte Löcher gebohrt, Dannenmann hangelt sich mit dem Oberkörper hindurch, zwängt den Hund hinterher. Der vier Meter hohe Saal ist auf Kriechhöhe heruntergebrochen, der Hund sucht, Dannenmann leuchtet, Leere. Kein Bellen von Cajoule. Er geht zum nächsten Bohrloch, die Blicke Hunderter lasten auf ihm.

11 .45 Uhr. Die Erde bleibt unerbittlich, nichts lässt sie sich entreißen. Klaus Röper hadert mit ihr, wird ruppig, verliert Kraft. Wo sie hinkommen, war der Tod schon da. „Es gibt nichts Erhebenderes“, sagt er, „als ein vermisstes Kind seiner Mutter in die Arme zu legen.“ Ihre ganze Energie zehren sie aus diesem Augenblick. Die SAR-Leute rackern 1500 Stunden im Jahr, zu Hause als DRK-Staffel, immer ehrenamtlich, unbezahlt. Nehmen berufliche Nachteile in Kauf, weil sie häufig fluchtartig ihren Arbeitsplatz verlassen. Bis zu 60 Sucheinsätze vermerkt ihre Statistik jährlich. Sie finanzieren sich größtenteils selbst. Ziehen mit Schauvorführungen über die Dörfer, Zirkusveranstaltungen, bei denen sie um Spenden betteln und ihre Hunde in Schwindel erregender Höhe über Leitern klettern. Ursula Steeb sagt, sie träume nicht von Einsätzen. Das sei gut so.

Der Alltag dieses „Hobbys“ ist Stoff für Alpträume, und die lauern in deutscher Provinz. Die Psychiatrie in Plochingen meldete neulich den Ausbruch eines Triebtäters, gefährlich für sich und andere. Er blieb verschwunden, auf der Suche aber stießen Gipsy und Steeb auf eine Frau, die an einem Steilhang lag, den Hals in einer Schlinge, und sich langsam durch ihr Eigengewicht zu erdrosseln versuchte. Ständig sind sie Suizidkranken auf der Spur. Bei Gomaringen fand die Hundeführerin eine junge Frau, die soeben ihre zweijährige Tochter erwürgte hatte. „Das sind die schlimmsten Momente: Wenn ich mich frage, will ich diese Leute überhaupt finden?“ Ihr größter Widersacher in Einsätzen, die Emotion, lenke ab, von ihr machen sie sich möglichst frei. Sie wollen „Lebendrettungen“ nicht näher kennen lernen, was das für Leute sind, wie sie deren Schicksal verändert haben. Niemals haben sie versucht, später, Kontakt zu Menschen aufzunehmen, die ihnen ein zweites Leben verdanken, nicht in der Türkei, nicht in Schwaben.

18 Uhr, ein zerstörtes Hotel am Strand. Die Hunde tollen in den auslaufenden Wellen, Sand spritzt hinter den Pfoten. „Ab und an müssen die den Verwesungsgeruch aus der Nase kriegen“, sagt Dannenmann. Viel Verwesung ist über dem Hotel, auch hier stießen sie nur noch auf Tod. Röper entscheidet, den Einsatz abzubrechen. „Es macht keinen Sinn mehr.“ Jetzt spielt die Meute am Meer, die Menschen in ihren Uniformen balgen mit. Alle Vierbeiner der Staffel sind daheim Familienmitglieder, Gipsy hilft Steeb in Frickenhausen beim Wäscheaufhängen, Cajoule rollt sich in Langenau am liebsten unter Dannenmanns Schreibtisch zusammen. Merkwürdig sei es manchmal mit Mensch und Hund, sinniert der Webdesigner. Die Rettungseinsätze machen ihn und Cajoule zu Partnern auf fast gleicher Augenhöhe. „Er tut Dinge, die Sinn ergeben, die ich aber erst später verstehe.“ Doch beim Gassigehen müsse er aufpassen, dass der Profischnüffler nicht vors nächste Auto läuft. Etwas mitleidig schaut er auf seinen Cajoule. Er lacht: „Wie ein Kind.“

Die Alukisten stehen gepackt am Flughafen. Gerda Knauss, 55, massiert sich die Stirn. Kopfschmerzen, Übelkeit, seit gestern lag sie im Schlafsack. „Ich werde nicht wieder in den Auslandseinsatz gehen. Ich packe es körperlich nicht mehr.“ Grübelnd sitzen sie in VIP-Sesseln. Eine bulgarische Frachtmaschine nimmt das Team mit nach Basel. 24. Mai, 15 Uhr.

Zur selben Zeit, in Zemmouri, wo die SAR ihren Einsatz deprimiert abbrach, birgt die Hundestaffel des Polnischen Roten Kreuzes ein leicht verletztes Mädchen.

 

Im Juni 2006 ist die Gruppe von Klaus Röper mit sechs Hunden ins Erdbebengebiet nach Indonesien geflogen. Wieder scheiterte der Einsatz, dieses Mal schon am Flughafen, da sie keine Einreiseerlaubnis bekamen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
         
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Uli Reinhardt, Öschelbronn
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