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PHOTOGRAPHIE Martin Sasse

 

Nationalität: deutsch.

Wohnort: Bagdad.

 

 

Die Lippen platzen auf. Die Haut ist zum Zerreißen gespannt, man sieht es beim Lachen. Wenn Andrea Hilger, 33, einmal nicht im Dauerlauf durch das Büro jagt, sich niedersetzt zum Reden, halten sich ihre Hände gegenseitig im Klammergriff. Heute Morgen gab es wieder dieses Gerücht. Dass die UN ihre Mitarbeiter abzieht. Unruhig fliegt Hilgers Blick zwischen den Wänden. „Ich sollte nicht mehr darauf hören. Hier bist du umzingelt von Gerüchten. Belagert.“ Sandsäcke verbarrikadieren das Bürofenster der Münchner Architektin. Bis zur Zimmerdecke haben sie geschichtet, den Himmel - der so schwer lastet auf dieser Stadt – ganz ausgesperrt. Fensterscheiben können zu Messern werden, warnten sie Mitarbeiter. Mit glänzenden Kanten sirren sie durch die Luft und schneiden sich dir tief ins Fleisch. Lassen dich bluten wie Schlachtvieh.

Ohnehin von zerbrechlicher Statur hat Hilger noch einmal drei Kilo abgenommen. Sie raucht wieder Kette. Tippt fieberhaft Emails, telefoniert, checkt die Nachrichtenlage. Versucht, ihre kleine Hilfsorganisation „Architekten für Menschen in Not“ (APN) auf den Krieg vorzubereiten. Sie weiß, ihr läuft die Zeit davon. Erste Februarwoche in Bagdad. Der Himmel ist von einem unschuldigen Blau. Es sind die letzten Tage.

Das Chronometer der Gewalt. Sein Räderwerk kreiselt und surrt seit Monaten. Die 4. US-Infanteriedivision und kurdische Peschmergas warten im Norden auf Order, die 3. US-Infanteriedivision, Marines und britische Armee im Süden. Die Heuschreckenschwärme der Kampfhubschrauber rattern auf ihren Stützpunkten gleich hinter den Grenzen, noch im Leerlauf. Mehr als 200 000 Soldaten zieht die stärkste Militärmacht der Welt gegen Iraks Hauptstadt zusammen. In Washington erwägen Strategen den Einsatz von taktischen Atomwaffen. Sie sind von ihrer Mission überzeugt. Sie wollen die Welt retten und werden allmählich ungeduldig.

Saddam Hussein gräbt sich derweil mit seinen Truppen in mehreren Ringen um Bagdad ein. Aus den Kasernen ziehen die Soldaten in Wohnblöcke. Manchmal sieht man sie auf Balkonen, über das Geländer gebeugt, Zigarette rauchend. Unauffällig, von Wällen aus Sandsäcken umgeben, ragen doppelläufige Flugabwehrgeschütze auf den Dächern empor. Es heißt, in diesen Krieg wolle der Diktator Kindersoldaten schicken. „Löwenclub“ nennt sich der Verband, der Zehnjährigen bisher nur auf Sommercamps das Schiessen lehrte. Niemand kann die Widerstandskraft der irakischen Armee einschätzen. Es droht Belagerung. Straßenkämpfe. Hungersnot. Ein Szenario aus den schlimmsten Tagen des Zweiten Weltkriegs.

In dieser Metropole im Fadenkreuz lebt immer noch, trotz allem, entgegen dringlichster Warnungen, eine kleine deutsche Gemeinde. „Mein Vater in München,“ sagt Andrea Hilger, „hat eine wahnsinnige Angst. Ich bin sein einziges Kind.“

Wasserkanister stapeln sich im Hinterzimmer, Lebensmittelpakete, die fünf Menschen zwei Monate lang am Leben halten. Für den Fall, dass der amerikanische Angriff schneller kommt, als Hilger reagieren kann, und die Anliegerstaaten ihre Grenzen schließen. Und die 33-Jährige in Bagdad in der Falle sitzt. Die meisten der insgesamt 40 deutschen Bewohner haben die Stadt bereits verlassen. Die Firmenfilialen, mit Ausnahme der Interessenvertretung von Mercedes, sind geschlossen. Der Trainer der irakischen Fußballnationalmannschaft Bernd Stange, heißt es in seinem Hotel, sei wieder nach Dubai geflogen. Hilger bleibt.

„Ich könnte jetzt loslegen. Sofort. Heute. Gestern.“ Vor anderthalb Jahren zog sie zusammen mit ihrem Mann Alexander Christoph in den Irak. Ihre gemeinsam gegründete Hilfsorganisation plant, im Norden des Landes, am Euphrat, die Wasseraufbereitung eines 20 000-Einwohner-Ortes zu sanieren. In zwölf Jahren Embargo verrotteten dort die Filteranlagen. Die Ersatzteile ließen sich auch militärisch nutzen, fürchtete das zuständige UN-Komitee und blockierte die Einfuhr. Im Dorf brachen Typhus und Cholera aus. Nach Monaten der Vorbereitung könnte Hilger nun beginnen. „Alles ist soweit. Die Arbeiter stehen bereit. Lasst mich endlich anfangen. Diese verfluchte Krise.“ Die irakischen Behörden zögern die Erteilung der Fahrtgenehmigung hinaus.

Die Stadt ersehnt den Morgen nicht. Benommen liegt sie nach Sonnenaufgang da. Auf unbelebten Strassen fährt Hilger um 7.30 Uhr in Richtung Saddam City, dem Schiitenviertel, wo die Ärmsten wohnen. Träge wälzt sich der Tigris unter Bagdads Brücken. Hunde mit grau-verfilztem Fell stromern auf den Bürgersteigen. Autos, jenen Ruinen aus Rost und Baustellendraht, begegnet Hilger nur vereinzelt. Ungewöhnlich spät für eine arabische Metropole erwacht hier das Leben.

Die Deutsche, die nicht helfen kann, weil sie nicht helfen darf, leidet unter dem Leerlauf. Immer wieder versucht sie ein normales Arbeitsprogramm. Sie besichtigt Hospitäler in der Hoffnung, sie vielleicht einmal unterstützen zu können. Gestern verhandelte Hilger mit dem Roten Halbmond über ein neues Projekt. Die einst im Nahen Osten gerühmten irakischen Krankenhäuser verkamen in den vergangenen Jahren zu Sterbeanstalten. Unter dem Embargo ist die Gesundheitsversorgung praktisch zusammengebrochen. 1,5 Millionen Menschenleben haben die Folgen der Sanktionen nach Schätzungen der UN bislang gefordert. Hilger will, wenn es die Lage zulässt, ein Krankenhaus renovieren. Ihr Mann ist nach München geflogen, um Spenden für Lebensmittel zu sammeln. Wenn in wenigen Tagen der Krieg beginnt, drohen die in Bagdad bald knapp zu werden.

Jozas Schreien füllt den Raum. Die Wände sind schmutzig-grün, die Luft riecht nach aggressivem Reinigungsmittel. Frauen im schwarzen Tschador sitzen vor Inkubatoren, als die Deutsche im Tross von Übersetzer und Ärzten eintritt. Das sechs Tage alte Bündel, der Kopf kaum größer als eine Faust, wird nur mit Glück überleben, denn die Temperaturanzeige des Inkubators ist ausgefallen. Ersatz kommt nicht über die Grenze, klagen die Ärzte. Insgesamt scheint das Hospital jedoch in einem besseren Zustand als viele andere im Land. Kein Kandidat also für Hilgers Projekt. Zurück im Büro telefoniert sie mit Amman. In der jordanischen Hauptstadt mieten sie derzeit eine Wohnung an, noch ohne Wasser, ohne Telefon, schimpft sie. Im Kriegsfall wird sie sich dorthin zurückziehen.

In einer Universität, in der die Türklinken von den Professoren nach Ende der Vorlesung abgeschraubt werden, damit Studenten sie nicht klauen, unterrichtet die Literaturwissenschaftlerin Stefanie Burckhart. „Alle Kollegen sind ehemalige Studenten von mir. Die anderen Dozenten sind ins Ausland oder gestorben.“ Seit 30 Jahren lebt die geborene Mainzerin in Bagdad, verheiratet mit einem irakischen Akademiker, den sie in den Vereinigten Staaten kennen lernte. Die hagere 59-Jährige ist abgehärmt, kein Gramm zuviel an ihr. Den Poncho, den sie trägt, trägt sie seit 30 Jahren. Sie fährt einen rostverbeulten Mercedes, der täglich Ausfälle hat. Ihr Professorengehalt ist auf wenige Dollar zusammengeschnurrt. Den Mittelstand Iraks gibt es längst nicht mehr. In ihrem Haus in „Brain City“, einem Vorort für Akademiker, sind die Wände nackt, die Möbel aus den Siebziger Jahren abgewetzt, und auf dem Teppich brennt ein tragbarer Gasofen vor ihren Knien. Dennoch macht sie einen aufgeräumten Eindruck. Heute morgen hat sie endlich die große Ratte in der Küche geschnappt. „Sie liegt auf dem Kompost. Wollen Sie sie sehen?“

Die Professorin wird auf ihrem Sofa sitzen, wenn die Bomben fallen. Sie wird dem Flammenschein durchs Fenster sehen, Klaviermusik hören, wenn ihr es das Gedonner der Flak dieses Mal erlaubt. Im letzten Krieg war dem Ehepaar der Amirijah-Bunker in der Nähe ihrer Wohnung zugewiesen worden. „Angeblich war das ein sicherer Bunker. Ich fuhr hin und habe mir die Stahltür angeschaut. Ich bin niemals hinein gegangen.“ Sie wäre sonst tot. Der Schutzraum wurde am 13. Februar 1991 hintereinander von zwei amerikanischen Präzisionsbomben getroffen, die erste durchbrach die Decke, die zweite zerriss 325 Menschen, keiner überlebte. „Befreit werden,“ sagt Burckhart, „das wird schlimm.“

Das Kriegsfahrrad hat sie vergangene Woche bekommen. „Hero“ ist in den Lenker gestanzt. Den Platten im Hinterrad will Burckharts Mann vor Kriegsbeginn noch reparieren. Im Kessel von Bagdad werden die Benzinreserven bald erschöpft sein. In der Stadt sind Fahrräder nahezu ausverkauft, Privilegierte wie Universitätsprofessoren kriegen sie zugeteilt. „Als ich 1991 im Poncho mit dem Rad herumfuhr, dachten die Iraker, ich sei ein abgeschossener alliierter Pilot. Für den gab es 20 000 Dollar Kopfgeld. Ich musste ständig sehr laut auf Arabisch fluchen.“ Im September erst ist sie von einem längeren Deutschlandaufenthalt zurückgekehrt. In Freiburg und Karlsruhe leben ihre Kinder. „Ich konnte nicht bleiben. Ich habe im Irak so viele Freunde. Das Entsetzlichste wäre: mir am Fernseher die Bombeneinschläge anzuschauen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Stefanie Burckhart lässt sich für diese Geschichte deshalb fotografieren, sagt sie, damit ihre Kinder in Deutschland noch ein letztes Foto von ihr haben. Sie sagt es wie im Scherz, aber meint es sehr ernst.

Es sind die letzten Tage, und das Leben in Bagdad versucht das nahe Ende zu ignorieren. Das irakische Sinfonieorchester probt für ein Konzert in zwei Wochen. Geigenbögen streichen über die Saiten, Klarinetten öffnen und schließen ihre Töpfe. Unter den Musikern sind Soldaten, junge, kurz geschorene Männer, die zärtlich-versunken Oboe spielen. Tagelöhner warten mit Spaten am Straßenrand auf Jobangebote. Arbeitslose Halbwüchsige kicken an den Ufern des Tigris hohe Staubfahnen in den Himmel. In den Cafes legen die Alten Dominosteine wie sie es seit Urzeiten tun. Bagdads Kinos zeigen Hollywood-Klamotten. Die Zuschauer onanieren bei Liebesszenen.

Moscheen und Kirchen sind gut besucht, viel besser als noch vor Jahren. Die staatliche Rente beträgt im Schnitt anderthalb Dollar im Monat. In weißen Jeeps hasten UN-Waffeninspektoren über die Highways. Der Betreiber eines Festsaals klagt, von 30 Hochzeiten in diesen Monat seien nur drei nicht abgesagt. Vermögende leeren ihre Bankkonten, kaufen Grundstücke. Der Immobilienmarkt floriert. Die Menschen meiden die Krankenhäuser, ihre Angehörigen nehmen sie mit nach Hause. Sie glauben sie dort sicherer, wenn die Bomben fallen. Viele Menschen graben Brunnen tief in ihre Vorgärten für den Fall, dass die Wasserversorgung zusammenbricht. Russische Kalaschnikows der originalen Baureihe kosten im Schwarzhandel 60 Dollar, rumänische Lizenzprodukte gibt es schon für 20. Die Bagdadis bewaffnen sich. Die Amerikaner machen ihnen nicht die größten Sorgen. Am meisten fürchten sie den Bürgerkrieg. Und der wird kommen, ist die Mehrheit überzeugt, denn viele Rechnungen sind in Bagdad offen.

Zu Tausenden fliegen die Köpfe der Orks von den Rümpfen, Schwerter blitzen, schwarzes Blut fließt. Die Töchter von Ulrike Al Fellah (Name geändert) wenden sich angeödet ab. „Der Herr der Ringe“, zweiter Teil, läuft im irakischen Fernsehen. „Langweilig“, sagen sie. Ihre Mutter ist vor 20 Jahren aus Putbus/Rügen an den Tigris gekommen, der Liebe wegen, nach bestandenem Studium der sozialistischen Politökonomie. Die Diktatur des Erich Honecker tauschte sie gegen die Diktatur des Saddam Hussein. Einmal ist Saddam persönlich begegnet, sie will begeistert davon erzählen, aus einem Impuls heraus, dann schweigt sie lieber.

Ihr Mann ist Direktor einer neu gegründeten Wirtschaftshochschule. Er berät auch Teile der Regierung. Deshalb bittet er, seine Familie nicht zu fotografieren, auch seinen Namen zu ändern. „Sie wissen warum. Die CIA-Agenten sind schon im Land.“ Auf 90 Quadratmetern einer Plattenbausiedlung im Zentrum wohnt die Familie, vier Töchter schlafen in einen Raum, gegessen wird im Flur. Die meisten Nachbarn, allesamt höhere Beamte, seien schon aus der Stadt. So war es auch im vorigen Krieg. Da hielten sie in ihrem Wohnblock als Letzte aus. „Meine Zweitjüngste ist unser Sensibelchen, die schrie und weinte und hatte schreckliche Angst.“ Direkt hinter dem Haus, dort wo der Zivilflughafen liegt, loderte eine massive Feuerwand. Reem heißt die Zweitjüngste. Das Mädchen ist heute 14 Jahre alt und hat kluge, schöne Augen.

Wenn um dich herum alles dunkel ist, überlegt Karin al-Rawe, kannst du kein Licht anmachen. Selbst wenn es dir gelungen ist, einen der raren Notstromgeneratoren zu ergattern. Ist es bei den Nachbarn finster, lass es auch bei dir finster sein. Sonst fällst du auf. Nicht zu empfehlen im Krieg. In einem Einfamilienhaus in besserer Gegend lebt die 61-jährige Berlinerin mit Sohn Samy und Mann Ghanai. Er arbeitet im Planungsministerium als Abteilungsleiter. Die Nerven der Kollegen lägen immer häufiger blank, erzählt er. Viele blieben zu Hause, meldeten sich krank. Klagten über Schlaflosigkeit und Magenprobleme. Die, die ins Büro kämen, seien mit den Gedanken woanders. Keiner könne sich mehr vernünftig konzentrieren. „Über das Thema Krieg sprechen wir im Betrieb nicht. Das ist tabu. Wir würden uns damit wahnsinnig machen.“ Karin al-Rawe hat den letzten Krieg durchgestanden, jetzt kann sie nicht mehr. Einfach gesundheitlich, sagt sie. Al-Rawe fliegt zur Tochter nach Berlin. Ihr Mann will mit dem Sohn Zuflucht unter dem Treppenaufgang suchen. „Wir werden das schon schaffen.“ Ob sie sich jemals wieder sehen - das wissen die al-Rawes nicht.

Unter den verwitterten Dächern, über die der weise Führer mit Heerscharen an Spitzeln wacht, wird viel erzählt, mehr als früher. Journalisten können sich frei in der Stadt bewegen. Doch Telefone werden abgehört. Hotelzimmer. Privathäuser. Viel wird erzählt und kann nicht geschrieben werden, weil sich sonst der Journalist leicht zum Henkersknecht macht.

Der Abschied von Bagdad fällt in diesen Tagen schwer. Ein letzter Händedruck dauert länger als in anderen Städten zu anderen Zeiten. Wer von den Menschen, denen du hier begegnet bist, leben bald nicht mehr? Der Barbier Galib, dessen Söhne dir beim Scheren hartnäckig Arabisch beibringen wollen? Tayama, die Frau mit den zauberhaftesten Brauen Bagdads? Walid, der unglücklich Verliebte, der seiner Angebeteten seit fünf Jahren in der Lokalzeitung anonyme Liebesgedichte schreibt? „Die Liebe in Bagdad ist immer traurig“, seufzt er. Guter Walid, pass auf dich auf.

 

   
 
         
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Martin Sasse, Berlin
SasseFoto@aol.com
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