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PHOTOGRAPHIE David Klammer

 

Wir wandern aus!

Eine deutsche Familie in Kanada.

 

 

Der Tag, der sie befreien sollte aus Enge und Ausweglosigkeit, bringt das Schlimmste mit sich. Angst. Die 14-jährige Ann-Kristin flüchtet unter ihre Kopfhörer. Ihr Bruder, der 12-jährige Hauke, kauert auf dem Schalensitz neben ihr, Arme und Beine zu einem Knäuel zusammen gezogen. Vaters Hand liegt auf Haukes Schulter, Halt gebend und Halt suchend. Helmut Blanken, 45, starrt ins Leere, als grübele er über einen rätselhaften Traum. Am Panoramafenster zum Rollfeld steht Hanna Blanken, 42. Unentschlossen betrachtet sie den Bug des Airbusses. Ihre Lippen sind gepresst, in ihrem Gesicht wandern hektisch rote Flecken. Die Blankens ringen, jeder für sich, mit der Frage: Was wird sein? Zwei Jahre haben sie vorgeplant, gemeinsam, gleichberechtigt, doch jetzt, im Gate des Frankfurter Flughafens, ist jeder mit sich allein. Es ist der 24. Mai 2001, die Tageszeitungen titeln mit der Finanzaffäre der hessischen CDU, am Abend gewinnt Bayern in Mailand beim Elfmeterschießen in der Champions League. Noch zehn Minuten bis zum Boarding. Inmitten der abgeklärten Betriebsamkeit der Geschäftsleute, dem Schnattern aufgeregter Urlauber warten die Blankens stumm, ganz stumm auf ihr neues Leben. Kanada.

Jeder, der bei Verstande ist, spielt irgendwann einmal mit diesem Gedanken. Und fast jeder, der bei Verstande ist, lässt ihn umgehend wieder fallen. Auswandern, abhauen, den ganzen Mist hinter sich lassen und das Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Jahr für Jahr sind 110 000 Menschen in Deutschland nicht mehr zu halten. In unterschiedlichste Himmelsrichtungen machen sie sich auf und haben doch ein gemeinsames, sagenumwobenes Ziel: das Glück. Seit der „Mayflower“, dem ersten Auswandererschiff nach Amerika, geht das schon so. Wie früher Armut und Verfolgung vertreibt heute satter Wohlstand die Menschen, die in den Speckfalten der Gesellschaft Atemnot bekommen. Frei durchatmen, das wollen fast alle, die das Land verlassen. Sie stehen im großen Warenhaus der Kontinente und picken sich das Passende heraus. Neuseeland, Australien, USA, Argentinien oder Südafrika? Am populärsten ist die Ländermischung, fremd und doch vertraut. Die USA führen die Fernweh-Statistik an, gefolgt von Spanien und Kanada. Daheim die Sicherheit aufgeben, um in der Fremde ganz sicherzugehen. Auswanderer-Schizophrenie. Die Sache scheint voller Widersprüche und ist dennoch so lockend.

Im Lauffeuertempo spricht sich die Nachricht im kleinen Homberg/Efze herum. Wohlweislich haben die Blankens ihre Pläne lange geheim gehalten, doch jetzt, zwei Wochen vor dem Abflug, ist es endgültig raus. Von allen Seiten trommeln Fragen, verständnislose. „Sind wir euch nicht mehr gut genug?“ fragt ein Arbeitskollege in Helmut Behörde nur halb im Scherz. „Ob das mit den Kindern gut gehen wird?“ sorgt sich eine Freundin Hannas. Eine andere schreibt ihr in einem Brief: „Eure Abreise hinterlässt große Fragezeichen in unseren Gesichtern.“ Einige der Zurückbleibenden reagieren beleidigt - ein wenig, mögen sie sich denken, flüchten die Auswanderer ja auch vor ihnen. 15 Jahre wohnt die Familie nun schon im hessischen Knüllwald, mitten im Idyll, wie Großstädter schwärmen, wenn sie sich einmal dorthin verirren.

Die Stadt ist eine Fachwerkschönheit, umgeben von sanften Hügeln, zwischen denen morgens Nebel fließen. Blankens weiß verputztes Einfamilienhaus mit großem Garten liegt am Stadtrand, rechts eine Obstwiese, vorne ein Bach. Dort staken manchmal Reiher. „So ein schönes Häuschen!“, riefen die Gebrauchtmöbelhändler vor einigen Tagen, als sie in ihrem Lkw vorfuhren. Viel besser, scheint es, könnten es Blankens nicht haben, aber Hanna sagt: „Wir müssen hier weg. Wenn nicht nach Kanada, dann irgendwo anders hin, Hauptsache weg.“ Jeder in der Familie hat seine Gründe.

Helmut will weg: Eine Woche vor Abflug packt er Karton 72, versenkt die Kochbücher in Pappe, zwei Drittel der Habseligkeiten, die sie mitnehmen wollen, sind bereits verstaut. „Wir sind exakt im Zeitplan.“ Unter Helmuts Regie wuchsen im letzten Jahrzehnt die Abfallberge im Kreis Wabern. Acht Deponien verwaltete der gelernte Ingenieur, anfangs mit Elan. Doch höher als die Müllberge wuchs der Berg der Verordnungen, nur noch Aktenwälle sah Helmut um sich herum und keinen Freiraum für eigene Ideen. Der Mann mit der Denkerstirn und den buschigen Augenbrauen, dessen Bewegungen immer etwas zeitverzögert wirken, ist besessen von ungewöhnlichen Ideen. Wer sie ihm verbietet, macht ihn krank. Er stritt sich mit übergeordneten Behörden, seine Gesundheit litt, er musste zur Kur. An Auswanderung dachte er dort das erste Mal, die Idee gefiel ihm mehr und mehr, schließlich begann er die Familie zu überzeugen. Eine Wohnmobil-Tour durch Kanada brachte für ihn endgültige Gewissheit. „Wenn ich in Deutschland bleibe“, sagt er, „weiß ich schon, was es bei meiner Beerdigung zum Leichenschmaus gibt.“ In Kanada möchte er sich selbstständig machen, vielleicht als Abfallberater. Einen konkreten Plan hat er nicht. Beim Packen ist er aufgekratzt, das Übergewicht, das ihn plagt, vergessen, er wuselt von Zimmer zu Zimmer, plaudert unermüdlich und wirkt mit jedem Tag Packen jünger.

Hauke und Ann-Kristin wollen weg: Ihr macht es Alex schwer. „Sturer Kerl. Er ist beleidigt. Er merkt, dass etwas nicht stimmt.“ Sie steht ein letztes Mal am Gatter, pfeift, aber Alex, das Pony, bleibt weit draußen auf der Weide stehen. In der Schule ist sie eine Außenseiterin. Die Kinder mobben das scheue Mädchen, einmal hat sie deswegen schon die Klasse gewechselt. In Kanada, haben ihr ihre Eltern erzählt, sind die Schüler freundlicher. Und reiten kann sie dort ohnehin viel besser. Hauke, der hagere Rotschopf, ist ein in sich ruhendes Temperament. Beim Sport und am Schlagzeug allerdings beginnt er zu wirbeln, kämpft, als gelte es, alle Pokale und Musikwettbewerbe dieser Welt auf einmal abzuräumen. Die Auswanderung ist für Hauke erst mal aufregendes Abenteuer.

Hanna will weg: Im verwunschenen Garten eines alten Pfarrhaus, das zum Zentrum für fernöstliche Meditation umgebaut wurde, geht sie an der Seite ihrer Freunde Delf und Marianne. „Und du hast keine Probleme mit dieser Kälte?“, fragt Marianne. Hanna lacht. „Bei meiner dicken Haut, Marianne.“ „Du musst halt die Axt schwingen, dann ist es gleich wärmer“, rät Delf. „Aber gib acht: Die Axt ist überall gleich schwer.“ Ihre Verwaltungslaufbahn gab Hanna der Kinder wegen auf. Nun sucht sie neue Ziele. Sie verehrt den Dalai Lama, ist Mitglied einer Tibet-Gruppe und demonstriert vor der chinesischen Botschaft in Berlin. Zusammen mit einer Initiative streitet sie dafür, in den Stadtarkaden den Verkaufsraum eines Erzeuger-Verbraucher-Vereins unterzubringen. Die Idee scheiterte an der Stadtverwaltung. Der Rollenwechsel von der Hausfrau zur neuen Berufstätigkeit gelingt ihr noch nicht so recht. „Mir geht es furchtbar, wenn es jemandem in der Familie schlecht geht. Ich muss daran arbeiten.“ Kanada, hofft sie, werde sie dazu zwingen. Hanna will sich für nichts zu schade sein, alles machen, vielleicht Waffeln backen. So viel sie weiß, ist das eine Marktlücke dort. Von allen Familienmitgliedern fordert die Übersiedelung von ihr den vermutlich größten Kraftakt. „Mir reicht normalerweise das Reisen in Büchern. Ich lasse mir das alles gerne erzählen.“ So klingt keine überbürdende Neugierde auf Übersee. Will Hanna wirklich weg?

Drei Tage vor Abflug steht die Familie in ihrem Vorgarten vor zwei Obstbäumen. Kirsche und Pflaume. Ihre Wipfel überragen knapp die Garagenmauer. Die Eltern pflanzten die Bäume zur Geburt ihrer Kinder. Die Käufer, die Blankens Haus morgen übernehmen, wissen nichts davon. „In Kanada“, tröstet Helmut die Kinder, „gibt es viele Bäume.“

Der Schatten des Flugzeugs gleitet lautlos. Das weite Grau des Atlantiks wird zum Weiß Grönlands, die wild gezackten Berge der Arktis werden zu den sanften Ebenen der Prärie. 10 000 Kilometer. Calgary, von dort mit dem Auto in die Rocky Mountains. Zweimal haben Blankens diese Reise schon unternommen. Ursprünglich hatte Helmut Neuseeland als neuen Wohnsitz vorgeschlagen. Doch Hanna warf ein, da gebe es ihr zu viel Hautkrebs und ein Ozon-Problem. In Kanada mieteten sie sich ein Wohnmobil und zogen vier Wochen durch die Lande, da wussten sie schon, dass hier einmal leben würden. Sie wurden verzaubert von grandioser Landschaft, freundlichen Leuten, Grizzlybären und Häusern zu günstigen Preisen. Sie lasen Ratgeberbücher und besuchten ausgewanderte Deutsche. Auf Urlaubsbildern strahlen die vier wie Honigbären. Ein Anwalt aus Toronto organisierte ihnen die Einwanderer-Papiere in drei Monaten. Wenige Privilegierte dürfen ins Land des Ahorns, Punktesysteme sorgen für strikte Auswahl. Vermögend, qualifiziert und unter 45 Jahren muss man sein, um voll zu punkten. Blankens gelang dieses Kunststück. Der Anwalt kostete 5000 Mark, aber, sagt Helmut: „Wenn es um ein neues Leben geht, sollte man nicht sparen.“ Kandidaten, die es ohne professionelle Hilfe versuchen, zappeln manchmal bis zu zwei Jahren.

Zwölf Monate nach ihrer Ankunft. 97 Prozent der Deutschen ist überzeugt, dass seit Jahresbeginn mit dem Euro alles teuer geworden ist, die Union liegt in Umfragen weit vor der SPD. In British Columbia riecht die Luft wie Badeöl. Fichte intensiv. Das Wasser des „49 Creek“ dröhnt zwischen den Klammwänden. Hanna ruft sich heiser nach Sheila, der Retriever-Hündin, die plötzlich den Hang hochjagt. Auf einem schmalen Pfad führt Hanna den Hund aus, an den Stromschnellen entlang, wie immer frühmorgens vor der Arbeit. „So ganz ohne ist das hier nicht. Ich weiß nicht, ob uns in diesem Lärm die Bären hören.“ Sie wohnen weit oben in den Berghängen, über denen nur noch Wald ist, Wildnis und Kojotengebell. „Ich habe mich zuerst nicht weiter als einen Kilometer vom Haus weggetraut. Aber allmählich fühle ich mich sicherer.“ Sheila beendet ihren Privatausflug, sie gehen zum Haus zurück, Shasheen Road, Blick über das Tal des Kootenay, weites Land in Moosgrün, wunderschön, und Regen jetzt, Regen seit Tagen.

Der Wetterkanal verspricht der Region rasche Besserung, darüber lacht halb Nelson, denn dass verspricht er seit November schon. Das 15 000-Einwohner-Städtchen ist fast so etwas wie der kanadische Zwilling von Homberg/ Efze. Ihre neue Heimat entdeckten Blankens vor ihren ersten Kanada-Urlaub beim Blättern im Reiseführer, ein Ort, an dem sich Europäer wohlfühlen, weil er so europäisch ist. Sie flanieren sommers in seiner City aus liebevoll restaurierten Gründerzeit-Gebäuden, lassen sich locken von anmutigen kleinen Läden, die Töpferware feilbieten, Trekkingausrüstung. Nippes mit Charme. Auch blüht ein Rest an Hippie-Kultur, der Shops hervorbringt wie den „Holy Smoke“, in dem es nach Hasch riecht, und in dem Blankens noch nie waren. Im zurückliegenden Jahr haben sie überhaupt noch nicht viel gesehen, Ausflüge in die Umgebung können sie sich selten leisten, so sehr haben sie noch mit sich zu tun.

Der Dreck steht Helmut bis zu den Knien, vor Anstrengung verzerrt er das Gesicht. Ständig ist er auf dem Bauplatz, schleppt Bretter, misst ein, streitet mit Paul, dem Zimmermann. „9,50 meter!“ schreit Helmut. „Not 9.30 meter! No!“ Der 71-jährige Paul schaut kurz auf und macht dann doch, was er will. „Schwierig, die Leute auf Linie zu bringen“, grummelt Helmut matt. Es ist das Projekt, auf das er all die Jahre in Deutschland vergebens hoffte, das er hochbringen will, von null auf hundert, mit eigenen Ideen, ohne Bremser und Verhinderer. „Artesian Ice“ heißt das Unternehmen, auf Helmuts neuer Visitenkarte steht: „President“, Vizepräsidentin ist Debbie Marrello, seine Nachbarin. Zusammen mit elf Teilhabern baut er eine Abfüllanlage für Mineralwasser, die erste in der Region. Helmut in dreckverkrusteter Jeans fühlt sich schon ganz als Unternehmer. Nur schwer kann er von etwas anderem erzählen.

Blankens haben noch ein Jahr. Dann sind die 200 000 Euro, die sie aus Europa mitbrachten, aufgebraucht, und muss frisches Geld her. Nicht wenige Auswanderer kehren als Bankrotteure in die Sozialversicherungssysteme der alten Heimat zurück. Davor graust es Blankens. Nachbar Mike Marrello redet der Familie gut zu. Auf seinem Grundstück, knapp hinterm Gartenzaun, sprudelt die angebohrte Quelle. Das Angebot an Mineralwasser ist in Kanada dürftig, der Handel vertreibt destilliertes Zeug, nach Chlor schmeckend und gesundheitlich ohne Nutzen. Helmut, der Ingenieur, ließ sich von Marrello begeistern, seither verlor er sechs Kilo, zog mit der Familie in ein Haus neben Marrellos Quelle und ist im Gründerfieber. Dem Mann scheint Kanada zu bekommen. „Ich bereue die Entscheidung nicht. Ich gehe nicht mehr nach Deutschland.“

Obwohl er nun weiß, was nicht im Reiseführer steht. Das Touristenparadies ist krisengeschüttelt. Die Jungen hauen ab, gleich nach der Highschool, nach Vancouver oder Calgary. Rund um die malerische Innenstadt von Nelson zieht sich ein Ring aus Fabrikruinen, sie bieten in manchen Quartieren Ansichten wie in rumänischen Industrierevieren. Obdachlose gibt es hier und zu wenig Arbeitsplätze.

Hanna tingelte nach ihrer Ankunft von Hotel zu Hotel. In einem bekam sie einen Job als Zimmermädchen, fünf Euro die Stunde, abends stachen ihr die Beine in den Leib. Nach drei Wochen wechselte sie zu „Johnys Bakery“, „Johnys Slavery“, wie Hauke frotzelt. Eine Wahl bleibt Hanna nicht, sie ist die Einzige der Familie, die zur Zeit verdient. Fünf Tage in der Woche arbeitet sie hinter der Ladentheke der Bäckerei, hat sie zwischendurch einen Tag frei, sitzt sie zu Hause auf dem Sofa, ausdruckslos, mit vornüber geklappten Schultern, und sagt: „Ich habe zu nichts mehr Lust.“
Das Schrubben von 40 bis 50 schweren Backblechen eröffnet den Tag, danach fegt und wischt sie das Klo. Es folgt ein stundenlanges Stakkato aus „You are welcome!“ und „Here we go“ und hunderten Broten und Brötchen, die sie den Käufern in Plastiktüten über die Theke reicht. Für die Stunde kriegt sie rund 5,20 Euro, ob sie versichert ist, weiß sie nicht, mittags darf sie eine halbe Stunde pausieren. Gespräche mit Kunden kommen selten über den dritten Satz hinaus. Das Betriebsklima macht Hanna immer mehr zu schaffen, ihre Chefin, eine ausgewanderte Schweizerin, ist launisch, die Bäckereiverkäuferinnen haben Angst vor ihren Ausbrüchen, auch Hanna.

Wenn die Eltern nach der Arbeit am Esstisch sitzen und die Kinder vom Schulbus kommen, wirbelt Kanada ins Haus. Tosend, lachend oder wütend brüllend,ein Schwall aus Slang-Wörtern. Untereinander unterhalten sich Helmut und Hanna auf deutsch, was Ann-Kristin und Hauke mittlerweile viel zu umständlich finden. Nach einem Jahr auf der Junior Highschool wirken die beiden, als hätte es den Knüllwald in ihrem Leben nie gegeben. Je länger sie aber abends mit den Eltern zusammen sind, desto deutscher werden sie wieder. Förmlicher eben, scheuer, steifer.

Am ersten Tag litten Hauke und Ann-Kristin unter Lampenfieber. Würde ihr Englisch reichen? Würden sie mit der Klasse klar kommen? Die Junior Highschool ist von außen ein hässlicher Betonkasten, doch da trügt der Schein. „Es wird hier viel mehr gelacht“, sagt Hauke. Seine Klasse versammelt sich am Freitag, vorletzte Stunde, im Bandkeller und übt amerikanische Marschmusik. Während Punkrock-Fan Hauke demonstrativ gelangweilt hinter den Drums sitzt – „alles viel zu lahm“ -, absolviert Ann-Kristin mit ihrer Freundin Aisha die Tennisstunde. Die 15-Jährige ist selbstbewusster als ein Jahr zuvor, für sie ist Kanada ein Stück Befreiung. „In Deutschland hat in der Schule kaum jemand mit mir geredet. Wenn ich hier morgens reinkomme, ruft es von überall her: Hey! Morning! Whats up? Ich muss mich richtig umgewöhnen.“ Die beiden Blankens fahren fast nur Einsen ein. Es scheint: Die Kinder sind in Kanada angekommen. Die Eltern hinken noch etwas hinterdrein.

Hanna schmeißt den Job in der Bäckerei. „Ich will und kann nicht mehr.“ Künftig assistiert sie ihrem Mann im Büro. Wenn der Wasserverkauf erst einmal anlaufe, gebe es viel zu tun. Sie geht dreimal täglich mit Sheila am Creek spazieren, besucht ihren Mann auf der Baustelle und vermisst die kleinen harmlosen Plaudereien der Spaziergänge in Homberg. „Hier trifft man ja niemanden.“ Ganz entschieden sagt sie, sie sei glücklich. Kanada liebe sie, die Auswanderung sei die richtige Entscheidung gewesen. Sie müsse nur lernen, sich mehr zu entspannen, die Gelassenheit der Kanadier ein wenig zu übernehmen. Hanna hofft weiter.

In den Stunden, in denen Blankens in der Küche ihrer Nachbarn Mike und Debbie sitzen, lachen sie doppelt so viel und doppelt so laut wie sonst. Die Marrellos kümmern sich um fünf Heimkinder, Drogenabhängige, von ihren Eltern vernachlässigte Jungs, und es scheint, als hätten sie Familie Blanken gleich mit adoptiert. Ihre Küche ist ein Taubenschlag. Baggerfahrer Arnold, der Captain Blackout genannt wird, weil er häufig Kabel durchtrennt, erzählt Hauke von seiner Jugend auf den Erdölfeldern und wie höllengefährlich das damals war. Der 13-Jährige lauscht mit hochroten Ohren. Helmut klagt über den Zimmermann, und Mike triumphiert, er habe einen weiteren Laden aufgetan, der Artesian Ice vertreiben wolle. Somit sind es schon zwei. Klempner John, der im Alter von acht Jahren aus den Abruzzen kam, klopft Helmut begeistert auf die Schulter. „Kanada braucht viele Helmuts, dann wären wir unsere Probleme los.“ So fühlt es sich an, wenn man in die Mitte einer Einwanderungsgesellschaft aufgenommen wird.

An einem Sonntag schaffen es Blankens doch noch. Sie fahren in die Berge. Sie besuchen Norbert und Gerdi, zwei Altrocker aus Nordrhein-Westfalen, die vor sechs Jahren mitten in der Wildnis ein modernes Blockhaus gebaut haben. Langweilig würde es ihnen in der Einsamkeit nicht, versichern sie Hanna, sie genießen die Ruhe, die sie so lange entbehrten. Blankens haben nur wenig Zeit für solche Träumereien, für die Aussicht. Hanna wird unruhig, Helmut scharrt nervös mit dem Fuß, sie müssen los, eilig, rasch, deutsches Schwarzbrot haben sie bei einer anderen deutschen Auswanderin bestellt, und Blankens wollen pünktlich sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
             
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