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Warum das Dorf Newtok in Alaska vom Meer verschlungen wird

Der letzte Winter

 
 

PHOTOGRAPHIE Matthias Ziegler


Die Erde ist in Auflösung, morastig, haltlos; auf Turnschuhen versinkt Davis Max* in ihr. Er taumelt im Schlamm, eine Hand auf das Gewehr gestützt, ein bleiches Gesicht in schwarzer Kapuze. Er hat Benzin gekifft, seine Lippen hängen schlaff. Das Gewehr schleift der 29-Jährige hinter sich her, es ist die letzte Woche der diesjährigen Elchsaison. Die Männer des Dorfes, Angehörige der Yupiks, Eskimos, sind raus zum Jagen, also auch er. Also ist auch Davis Max heute aus dem Haus seines Vaters gerannt, mit flackerndem Blick, nicht mehr ausgehalten hat er es dort. Die Enge. Die misstrauischen Fragen. Im Dorf hat man Angst vor Davis. Die Mädchen verstecken sich vor ihm. Er weiß, es gibt Leute, die brächten ihn gerne um. Mit ihren eigenen Händen. „Hier ist der einzige Platz, an dem ich meinen Frieden habe“, sagt er über den Schiffscontainer am Steilufer. Hinter dessen Rückwand kauert er mit angezogenen Knien. Der Kopf fällt ihm auf die Schulter, zu viel Benzin. Dieses beschissene Benzin, stammelt er. „Ich kann mir Gras nicht leisten. 50 Bucks das Gramm.“ Er beginnt Patronen aus der Hosentasche zu fingern und lädt durch.

Das Meer unter ihm rollt in sanften Wellen heran, fast geräuschlos verzehrt es die Welt von Davis Max. Der erste Schuss reißt Gewehrlauf und Schaft auseinander, die nur durch Klebeband zusammengehalten werden. „Fuck“, sagt er. Den Container, sein Asyl, in dem das Dorf Sondermüll aufbewahrt, haben sie dieses Jahr schon zum dritten Mal vom Ufer zurückgesetzt. So schrumpft das Land seit vielen Jahren. Die Wellen unterspülen die Küste, schwemmen sie fort, zerbrechen sie in Stürmen in große Schollen. Fünfeinhalb Kilometer hat die See seit 1950 abgetragen. Die Brandung steht nun 200 Meter vor den Häusern, bei Orkan sprüht die Gischt bereits an Davis Fenster. In wenigen Jahren wird sein Dorf untergehen. Das weiß Davis. Und es ist ihm egal. Denn er weiß auch: Sein eigener Untergang wird sich früher vollziehen. Die Distriktpolizei sucht ihn mit Haftbefehl. Es erwarten Davis Max mehrere Jahrzehnte Gefängnis. Wegen Vergewaltigung dreier Kinder. 13 und 14 Jahre alt. Das Klebeband ums Gewehr zieht er straffer, schießt wahllos auf Seevögel, verfehlt sie bis er keine Patronen mehr hat. Er taumelt zurück nach Newtok, USA, einen der ersten Orte der Welt, den die globale Klimakatastrophe vernichten wird. Ein Verlorener auf verlorenem Land.

„Was wollen Sie denn dort?“, fragt der Pilot bei der Anreise seine einzigen beiden Passagiere. „Da gibt es nur Schlamm. Scheiße und Schlamm.“ Äußerster Westen Alaskas, Beringstraße, wo sich die USA und Russland berühren. Permafrost. Heimat der Jäger und Sammler. 323 Einwohner, Arbeitslosigkeit 52,1 Prozent. Hoher Alkoholismus. Dorf ohne Straßen, das nur Bohlenwege auf Stelzen kennt. Es ist auf der Karte winzig wie ein Stecknadelkopf, sein Jagdgebiet aber ist groß wie ein Königreich. Für Umweltaktivisten ist es der „Ground zero der Klimaerwärmung“. Der auftauende Boden vermag der Brandung nichts mehr entgegenzusetzen. Das Meer hat zugleich an Zerstörungskraft gewonnen. Winde, die es in der Heftigkeit früher hier nicht gab, rauen es auf. Die Eispanzer, die die Küsten abschirmten, bilden sich später und tauen früher. Nach Untersuchungen des „Army Corps of Engineers“, des Technischen Hilfswerks der USA, sind 184 Dörfer und Kleinstädte an der Küste von Alaska in ihrer Existenz bedroht, doch keine so akut wie Newtok. Der Mensch kann den Ort nicht mehr halten - auch nicht einer wie Stanley Tom.

Die Stimmen prasseln auf ihn ein, 48, ein untersetzter Mann, Walross-Bärtchen, der zu retten versucht, was zu retten ist. Mit halbem Ohr hört der Verwaltungschef zu. Die wöchentliche Konferenzschaltung im Gebäude des Gemeinderats, einem windschiefen Holzschuppen mit Plumpsklo, von dem die grüne Farbe blättert. In der Leitung sind Vertreter der „Newtok Planning Group“ aus Alaskas Hauptstadt Anchorage, zu der sich 25 Behörden zusammengeschlossen haben. Als Ersatz für das Dorf wollen sie an anderer Stelle eine neue Siedlung bauen. Nur leider, sagen sie stets, fehlen die Gelder dafür. Hilflos muss Stanley Tom ansehen, wie sich seine Gemeinde allmählich auflöst. Die Abfalldeponie versank in den Fluten – seither ersticken sie in ihrem eigenen Müll. Newtok starrt vor Schrott. Hautkrankheiten streuen so schlimm wie nie. Der Landungssteg für die Frachter ist verschwunden. Die Reedereien weigern sich seither, Newtok anzufahren. Immer wieder droht dem Dorf im Winter das Heizöl auszugehen. Das Meer hat sich in seiner Raserei eine Schleife des Flusses, der den Ort im Norden begrenzt, einverleibt. Er änderte seinen Lauf und schneidet jetzt Newtok vom Hinterland ab. „Wir sind zur Insel geworden“, sagt Stanley, „und diese Insel schrumpft.“ Der letzte Rettungsversuch, der Bau eines Deiches, scheiterte. Das Bollwerk für 800 000 Dollar hielt nur sechs Monate. Mit einer Geschwindigkeit von derzeit 35 Metern im Jahr kommt das Meer dem Dorf entgegen. Ein Tsunami in Zeitlupe.

„Stanley?“, fragt eine Frauenstimme aus dem Telefon, denn schon lange hat Stanley nichts mehr gesagt. Zwischen schiefen Papiertürmen reckt er seinen Kopf Richtung Hörer. „Ja ja, habe verstanden. Die Powerpoint-Präsentation.“ Abermals schlagen die Stimmen über ihm zusammen. Er hat es satt, das Gerede der letzten acht Jahre. Der Bauplan für das neue Dorf zerknittert neben Werbeprospekten unter Stanleys Ellbogen. Rote Rechtecke für die Häuser, schwarze Linien für die Straßen, von Ingenieurbüros mehrmals überarbeitet. Neun Meilen sind es bis zur neuen Zuflucht am anderen Ufer der Meeresbucht. Das Areal an einem Berghang liegt so hoch, dass keine Flutwelle, die sich Küstenschützer vorstellen mögen, es bis dorthin schaffen kann. Jahrelang hatten die Dorfbewohner neue Standorte diskutiert. Überall in ihrem riesigem Land suchten sie nach sicheren Plätzen, doch fanden sie nur sechs. Sie erwägten Vor- und Nachteile, Jagdgründe, Beerenreichtum, Erosionsschutz, den Abstand zu anderen Dörfern, der groß genug sein musste, dass die Jugendlichen sich nicht zu wilden Partys treffen. Damit es nicht noch mehr minderjährige Mütter und Kinder mit Schussverletzungen gibt. Es gab eine formelle Abstimmung, am 27. August 2003 entschieden sich 92 Prozent der Wahlberechtigten für „Takikchak“. Im Dialekt eines Nachbarstammes heißt das: Der Ort, an dem man mit einer Frau schläft. Nun haben ihn die Klimaflüchtlinge ins elegantere „Mertarvik“ umbenannt. Der Ort mit Quellwasser. Viel mehr ist seitdem nicht geschehen.

Nächstes Jahr vielleicht, tröstet sich Stanley, doch das dachte er schon das Jahr zuvor. Bislang bekam er für die Umsiedelung ganze drei Millionen Dollar von den Behörden, nötig wären 140 Millionen. Die Bürokratie in Alaska hat sich noch nicht auf die Kimakatastrophe eingestellt, Umzüge ganzer Ortschaften sind in den öffentlichen Budgets nicht vorgesehen. Drei Häuser ließ Stanley letztes Jahr auf die andere Buchtseite transportieren, um Druck zu machen. Unbewohnt wie eine Musterhaussiedlung stehen sie nun da. „Sie lassen uns verrotten“, sagt Stanley. Er eilt aus dem Büro, muss in den Krämerladen, mit dem er sein Geld verdient. Dort steht bald nichts mehr in den Regalen, wenn Stanley nicht nachbestellt. Die Hände an den Schläfen sitzt im Vorraum der gesuchte Kinderschänder Davis Max und chattet mit Frauen im kostenlosen Internetterminal. Der Verwaltungschef geht an ihm vorbei, als habe er ihn nicht gesehen.

Die Bohlenwege krümmen sich wie Achterbahnen, Kinder juchzen, sie schanzen auf Traktoren ihrer Eltern über die Bodenwellen. Der Permafrost schmilzt. Um fünf Grad hat sich das Erdreich einer Studie der Universität Anchorage zufolge seit 1990 erwärmt. Das Dorf versinkt im Boden. Hügel, die man früher am Horizont erkennen konnte, sind jetzt nicht mehr zu sehen. Die turmhohen Öltanks stehen kreuz und quer. Es leckt aus ihnen. Die meisten Häuser haben Schlagseite nach Süden, weil dort der Boden stärker taut als nach Norden. Fenster zerspringen, Risse tun sich auf.

„Aufgepasst! Aufgepasst!“, ruft Romy Cadiente fröhlich. Er hat im Postgebäude seinen Bürostuhl in Position geschoben. „Das Wunder von Newtok!“ Wie von Geisterhand rollt das Möbel durch den Raum. Der Postmann klatscht lachend in die Hände, ein Kassaq, wie die Yupik seit der russischen Kolonialzeit alle Weißen nennen. Dabei wurde er doch unverkennbar in Hawaii geboren. Cadiente ist die lebende Erinnerung daran, dass das Dorf zu den USA gehört. 18 Jahre lang Flugzeugmechaniker bei American Airlines, entlassen wegen gestiegener Kerosinpreise. Nach dem Krebstod der Mutter ist er vor einem Jahr nach Newtok gezogen. Dem Geburtsort seiner Frau. Um wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen. Wie wenig fest dieser Grund war, erfuhr er vom Schwiegervater bei seiner Ankunft. Da war er dann schon da.

Die Hand an der Schreibtischplatte, damit er nicht nach hinten rollt, nimmt er die Post entgegen. Er lacht an Tagen, an denen kein anderer mehr lacht. Romy ist in kurzer Zeit zu einem Anker geworden in einem Ort, der nicht viele Anker hat. „Wow!“, johlt er mit rollenden Augen, als ihn zwei Jungen berichten, sie hätten 40 Wildgänse erlegt. „Oh, das kann ich gut verstehen“, sagt er zur Mutter von fünf Kindern, die bei strömenden Regen auf die Pirsch will. „Zur Hölle mit dem Wetter“, zischt sie. „Ich halte es das Dorf nicht mehr aus.“ Er lächelt zu Paul hinüber, dem Verrückten, der als Kind eine Öltonne auf den Hinterkopf bekommen hatte. Paul lebt im Wahn, nur er könne das Dorf vor dem Untergang bewahren und patrouilliert ruhelos die anderthalb Meilen Bohlenwege hin und her. Mit gerunzelter Stirn, die Arme hinterm Trenchcoat verschränkt, kommt er mehrfach täglich an den Postschalter. „Hallo Joe“, sagt Romy, als sich die Tür abermals öffnet. Er strafft sich in seinem Stuhl. Jetzt also noch Joe.

Joe Stewart wartet seit zwei Wochen auf seine Frau. Sie ruft nicht an, sie lässt sich am Telefon verleugnen. Elsie. Für einen Arztbesuch ist sie in die Distrikthauptstadt Bethel geflogen. „Sie säuft wieder. Ich weiß nicht mehr, was tun,“ klagt er am Postschalter. Joe, 42, hat das Gesicht eines Jungen, über das zu viele Alpträume gezogen sind. Durchfurcht und aufgedunsen. Wie ein Drittel der Kinder im Dorf leiden auch seine sechs Sprösslinge unter dem „Fetalen Alkoholsyndrom“. Sie wurden schon im Fruchtwasser zu Säufern, weil ihre Mutter während der Schwangerschaft trank. Sie sind extrem nervös und fahrig. Joe wohnt mit seiner Familie in einem Sperrholzverhau, wenig größer als eine Garage. Die eine Hälfte des Raumes füllen zwei Bettlager, die andere dicke Schichten aus Schmutzwäsche. Das Zuhause ist direkt an einem Kloakenteich gebaut und wird bald in diesen rutschen, wenn es Joe nicht vom Ufer wegziehen lässt. Jede Flut setzt es unter Wasser. „Mach endlich was“, sagt sein Nachbar seit Monaten zu ihm.

Der erste Schnee dieses Winters fällt, die Morgensonne spiegelt sich in ihm. Hoffnung keimt fürs Dorf. Die Yupik kennen 32 Namen für Schnee. In der Schule sind die Kinder kaum noch zu bändigen. Einige werfen sich auf den Bauch und strampeln mit allen Vieren, so sehr vibrieren sie vor Energie. Immer später im Jahr bleibt der Schnee liegen. Immer später gefrieren Flüsse und Meer. Vor Jahrzehnten kam der Schnee meist Ende September. Dann pendelte er sich auf Mitte Oktober/Anfang November ein, letzten Winter war es erst im Januar so weit. Newtok leidet unter einem Sommer, der endlos in den Herbst übergeht. Der Sommer stinkt. Die Exkremente aus den Plumpsklos mischen sich mit dem tauenden Permafrost. Der Sommer saugt Blut, Schwärme von Stechmücken setzen sich auf die Dörfler. Sie tragen Hüte mit Schleiern, um sich zu schützen. Tundra-Astronauten, lachen sie. Der Sommer in Newtok ist klaustrophobisch. Er sperrt die Yupiks in die Hütten. Lässt sie erstarren vor DVD-Filmen. Indiana Jones und Ice Age. Selbst kurze Spaziergänge werden zu Kraftakten, wenn alles zu Sumpf wird.

Der Winter hingegen bringt Freiheit. Er lässt die Menschen auf ihren Schneemobilen die Unendlichkeit erfahren. Er verlangsamt nicht wie in Europa, er beschleunigt hier. In halsbrecherischem Tempo jagen die Yupiks dahin. Im Sommer ist das Dorf isoliert, umgeben von Wasser und Sümpfen, und nur mit dem Flugzeug zu erreichen. Im Winter führen von Newtok Wege in alle Richtungen. Die Familien reisen zwischen den Nachbardörfern. Doch die Hoffnung auf Schnee währt heute nur kurz, bereits gegen Mittag ist von ihr nichts mehr zu sehen.

„Holt endlich Davis Max ab“, schreibt jemand im Dorf in einer E-Mail an den nächsten Polizeiposten im 150 Kilometer entfernten Bethel. Er fürchtet um seine Töchter. Vor zwei Monaten hatten sie einen Beamten geschickt, doch Davis stahl ein Boot und entkam. Wie so oft ist Newtok auf sich allein gestellt. Die E-Mail bleibt ohne Antwort.

Die Klimakatastrophe kann in Newtok nur noch die äußere Hülle zerstören. Der Kern ist längst vernichtet. Zu viele Katastrophen sind seit der Kolonisierung durch die Weißen über das Land der Yupik gekommen. Die schlimmste ist der Alkohol. Es sind noch drei Tage bis zum Ende der Elchsaison, als es Elsie zurück zur ihrer Familie schafft. Joe sitzt stumm neben ihr auf der Matratze. Den Fernseher haben sie ihr herangeschoben, er wirft blaues Licht auf ein aufgeschwemmtes Gesicht. Ihre Haut wirkt wie aufgeklebt. Die Augen sind Risse. „Ich bin müde“, sagt sie nachmittags um drei. Die sechs Kinder sitzen aufrecht im Bett und betrachten sie abwartend. Als wollten sie sehen, wie viel Mutter noch in diesem Körper ist. „Jungs“, ruft Joe plötzlich in die Runde, „ich muss zum Jagen. Es ist Elchsaison.“

Das Boot der Stewarts nimmt am nächsten Morgen Kurs auf einen eisigen Wind. Weiter Himmel, weites Meer, das Land ist nur ein zarter Strich dazwischen. Ketten von Wildgänsen ziehen über sie. Drei seiner Söhne sind mit dabei. Das Bug vorne links besetzt Brendan, 19, Gewehr auf dem Schoß. Rechts hockt Roderick, 15, hängender Kopf, Gewehr irgendwo. „Krieg deinen Arsch hoch und pass auf!“, brüllt Joe aus dem Führerhaus. Ein 75 PS starker Außenbord-Motor schiebt das Boot durch das Meer, das heute fast unbewegt ist, wie Öl in einer Bratpfanne. Beste Bedingungen besonders für die Robbenjagd. Wenn die Jungs nur mehr bei der Sache wären. Brendan hat neulich ohne Abschluss die Schule geschmissen, es gehe auch ohne, sagt er. Wie der verrückte Paul tigert er jetzt in der Endlosschleife der Bohlenwege. Roderick steht unter Aufsicht des Jugendamts. Er hatte letzten Sommer, als Joe seine Frau in eine sechsmonatige Entziehungskur begleitete, Mädchen betatscht. Sorge Nummer eins. Sorge Nummer zwei: Auch er schnüffelt Benzin. „Eine Robbe!“, brüllt Brendan am Bug, und Joe dreht auf. „Ich will eine Cola!“, quengelt da der sechsjährige Chet.

Die scharfe Kurve sprüht Gischt über die Flanken, Chet fällt zur Seite, Brendan lehnt sich über den Bug. Feuert. Ein Schuss von Roderick wenig später. Die Robbe verschwindet, taucht auf der anderen Seite des Bootes auf. Wieder spritzt Gischt, Chet vergisst das Nörgeln, und Joe will es jetzt wissen, lässt für einen Moment alles hinter sich, die ganze Scheiße zu Hause, das Chaos der letzten Jahre. „Brendan!“, schreit er. „Schnapp sie dir!“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Die Söhne verfehlen erneut ihr Ziel. Mit abgeschaltetem Motor treibt das Boot auf der Stelle. Joe läuft die Bordwände ab, mustert hektisch das Wasser nach Flossenschlägen. Lange waren die Stewarts nicht jagen, schon gar nicht als Team. Die Jungs haben vergessen, Proviant und Wasser an Bord zu nehmen. Chet kräht wieder nach einer Cola. Er kämpft um die Aufmerksamkeit seines Vaters, albert herum, drückt das Gesicht gegen die Scheibe und nimmt ihm die Sicht. Chet macht jeden verrückt. „Er wollte unbedingt mit“, sagt Joe, „wie der da auch!“ Und zeigt auf Roderick. Das Gewehr hat er mittlerweile zur Seite gelegt. Auch Brendan hat genug vom Gemaule seines Vaters. „Wir suchen doch alles ab! Aber da ist nichts!“ Mehrmals laufen sie auf Untiefen, stecken fest, Joe rackert und schuftet. Seine Söhne interessiert das nicht. Sie könnten sterben hier draußen, und apathisch wie in der Schule hat Roderick, tief vornüber gebeugt, seinen Kopf zwischen die Knie geklemmt.

Das Volk der Yupik lebte während der letzten 3000 Jahre von der Jagd. Es ist die Basis ihrer Kultur. Das ein und alles. Jetzt sind die meisten abhängig von staatlicher Wohlfahrt. Woanders ein Segen, verursacht sie hier eine andere Art von Erosion, die von Ehrgeiz und Lebenskraft. Es gibt Arbeit in der Region, aber die Leute bewerben sich nicht. Es gibt Ausbildungsprogramme, aber sie tragen sich nicht ein. Die Jäger drohen das Jagen zu verlernen.

Über Nacht ist in Newtok eine große Scholle ins Meer gebrochen, das Wasser umspült sie wie Magensaft. Verdaut den Lehm, bis nur noch die Grasnarbe in der Brandung bleibt. Ein Haarschopf auf nacktem Knochen. „Verflucht noch mal“, sagt John Andy, 52, der an seinem Fenster steht. „Wie nah das Meer ist.“ Für einige Wochen war der Dekan der Kirchengemeinde mit dem Boot im Yukon-Gebiet unterwegs und stellte Elchen nach. Er hat lange nicht mehr aus seinem Fenster gesehen.

Die Nachbarn sind geflohen, sagt er. Die Familie im letzten Haus vor der Erosionskante, das rote dort, klopft er gegen das Fenster. Neun Köpfe. „Ihr Zweitjüngster hat geträumt, dass das Haus ins Meer hinausgezogen würde. Er hatte versucht zu helfen, konnte es aber nicht.“ Die Eltern, tief verstört, entschieden sich, zu Verwandten nach Bristol Bay zu ziehen. „Ich bleibe“, sagt John.

Das Dorf wird sich spalten, 25 Familien um den Dekan wollen diesseits der Bucht einen neuen Siedlungsplatz suchen. Hier seien die reicheren Jagdgründe und mehr Beeren, die die Yupiks mit Vitaminen versorgen. „Wir werden 40 Kilometer nordwärts ziehen. Das ist der bessere Platz.“ Drüben, am anderen Ufer, könnten die Häuser am Berghang abrutschen, fürchtet John, denn auch die Felsen würden poröser durch die gestiegenen Temperaturen. Er will mit seinen Leuten in der neuen Siedlung ein Leben ohne Strom und Schule führen. Die Zivilisation des Westens hinter sich lassen. Die habe niemals Gutes für die Menschen hier gebracht. Sogar seine Wohltaten wie die Lebensmittelmarken wirkten auf die Yupik wie Gift. „Dieses Essen“, verzieht John Andy das Gesicht. „Diese Gier“, sagt er. „Wir Yupik brauchen kein Geld.“ Und die Gewalt. Vor zwei Jahren wurde sein Vater, der letzte Schamane des Dorfes, von einem psychisch kranken 19-Jährigen mit einem Jagdgewehr erschossen. Er hatte ihn für den Teufel gehalten. „Den Klimawandel sah mein Vater voraus“, sagt John. „Er hat uns prophezeit, dass weniger Schnee fallen wird und neue Tierarten kommen. Wie die Lachse und die Biber. Ihnen folgt eine große Hungersnot, die alle Menschen dahinraffen wird.“ John trägt es vor mit heiligem Ernst. Die Alten in Newtok kennen viele solcher Prophezeiungen. Im Detail variieren sie, am Ende dieser Geschichten steht immer dasselbe: der Tod.

Drei demokratische Kongressabgeordnete aus Arkansas sind in Newtok gelandet. Stanley macht über Funk eine Durchsage im Dorf, dass alle, die ihre handgeflochtenen Bastkörbchen verkaufen wollen, jetzt in die Schule kommen mögen. Die Politiker wollen sich über die Klimakatastrophe informieren. Auch in Arkansas gibt es weniger Schnee. Sie sind schockiert über den riesigen Landverlust, über die Armut. Sie wollen einen Brief schreiben an Abgeordnete in Alaska, aber 100 Dollar für ein Bastkörbchen ist ihnen doch etwas zu viel.

Joe und Elsie fürchten, ihre Kinder zu verlieren. Ein Betreuer vom Jugendamt war da. Roderick kann mit dem Benzin nicht aufhören, und Chet schnüffelt auch schon. Joe stehen Tränen in den Augen. „Wir haben sie in die Welt gesetzt. Wir müssen es doch schaffen.“

Davis Max liegt auf dem Sofa seines Vaters. Das Dorf hat nicht mehr die Kraft, ihn einzusperren. Die Familien der Mädchen schweigen aus Scham. Davis langweilt sich. Er sagt, er braucht endlich mal etwas Spaß. Der besorgte Familienvater schreibt eine zweite E-Mail an die Polizei. Auch sie bleibt ohne Antwort. 

*Name geändert

 

   
 
                 
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Matthias Ziegler, München
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