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Über die Kinder spricht in Bargischow niemand gerne, die meisten schweigen dazu. „Ich halte mich da raus“, sagt die Dorfwirtin, 50 Jahre schon im Ort, seine Seele gewissermaßen, eine freundliche Frau. Zwei Männer brüten stumm über ihren Bier. Die Gäste sitzen im Mantel am Tisch, die Wirtin dreht nur einen von zwei Heizkörpern auf, weil es sich sonst überhaupt nicht mehr lohnt. Sie selbst hängt sich beim Bedienen eine Wolldecke um. „Die Kinder werden sich rächen“, sagt sie abwehrend. „Sie werden kommen, wenn ich etwas gegen die sage. Sie schmeißen mir die Fenster ein.“ Die Dorfkinder nennen sich seit kurzem „Deutsche Jugend“ und kämpfen für eine „artgerechte völkische Kultur“. Sie lernen, in Zweierformation zu marschieren und tragen Fahnen. Die Rechtsextremen haben Bargischow übernommen und nur einer im Ort versucht, etwas dagegen zu unternehmen. „Der Höckner ist leichtsinnig“, warnt die Dorfwirtin, als der letzte Gast gegangen ist. Sie steht am Fenster. „Ich habe wirklich Angst um den.“mehr 

 

No one in Bargischow likes to talk about the children. Most say nothing. “I prefer to stay out of it,” says the woman who runs the village’s only bar and restaurant – here for 50 years, the soul of the place in a way, an outgoing person. Two men brood silently over their beers. They sit at the table in their overcoats. Their hostess only turns on one of the two radiators, because otherwise it wouldn’t pay at all. She waits tables wrapped in a woolen shawl. “The kids will take revenge,” she says defensively. “If I say anything against them, they’ll come by here and break my windows.” The children of the village recently began calling themselves “German Youth” and fighting for a “national Volk culture appropriate to the human species.” They learn to march two by two, and carry flags. The far right has taken over Bargischow, and only one person in town is trying to do anything about it. “Höckner’s behavior is reckless,” the innkeeper warns after the last customer has gone. She stands at the window. “I’m truly afraid for him.” more

 

 

 
 

Zum Himmel steigt er aus der Hölle. Sie ist stauberfüllt und lichtlos, heiß im Sommer, kalt im Winter. Säuglinge schreien in ihr. Der 23-jährige Chen Da Qiang streicht zum Abschied seiner Frau über die Schulter, sie wendet den Blick nicht vom Fernseher. „Ich muss los“, sagt er. Sie bleibt stumm. Er zieht die Sperrholzplatte der Tür hinter sich zu, tritt aus dem Licht-kreis der Glühbirne und wird von Dunkelheit verschluckt. Es ist 12.30 Uhr, draußen helllichter Tag, Ende der Mittagspause. Chen findet seinen Weg durch ein Gewirr an Gängen, stolpert über leere Schnapsflaschen, springt über aufgerissene Leitungsgräben. „Wir streiten uns oft in letzter Zeit“, grübelt er. „Wir könnten es so gut haben.“ In der Dunkelheit stößt er überall auf Kochstellen. Hunderte Familien hausen hinter Plastikplanen, sie schlafen auf Baustellen-Styropor im Tiefgeschoss eines 32-stöckigen Wolkenkratzers, auf einer Ebene mit der Kanalisation, wo Ratten leben und Kinder. Dort steht die Wiege des neuen China. Eine Reportage über Chongqing, der größten Stadt der Welt. mehr 

 

To see the heavens, he must climb out of hell. It is dust-filled and lightless, hot in summer, cold in winter. Newborn babies scream in it. Chen Da Qiang, 23, runs his hand in parting across his wife’s shoulder. She does not turn her gaze away from the TV. “I have to go,” he says. She remains mute. He pulls the door’s plywood sheet closed behind him, steps past the edge of the incandescent bulb’s circle of light, and is swallowed by darkness. It is 12:30 p.m., outside is broad daylight, the end of the lunch break. Chen finds his way through a maze of passages, tripping over empty liquor bottles, jumping across open utility trenches. “We fight a lot lately,” he complains. “We could have it so good.” Everywhere in the darkness, he bumps into cooking hearths. Hundreds of families live behind plastic tarps, sleeping on polystyrene insulation panels in the basement of a 32-story skyscraper, on a level with the sewage system, where the rats live – and the children. There stands the cradle of the new China: Chongqing, the world’s largest city. more

 

 

 
 

Ich bin ganz still, spüre den Atem des Fotografen, auf dessen Bauch ich liege. Draußen aufgeregte Stimmen. Das Geräusch zuschlagender Türen. Ich höre Schritte auf Asphalt, die uns umrunden. Es ist zwei Uhr in der Nacht. Wir reisen in das Katastrophengebiet Birmas, ins Irawadi-Delta, das die Regierung seit Wochen hermetisch abgeriegelt hat. Versteckt hinter Stapeln von Pappkartons haben wir dunkle Tücher über uns gezogen. Die Luft ist stickig, wir atmen Benzin. Einer der Kanister leckt. Ich befinde mich in einem Lkw, vielleicht auch in einem Reisebus, vielleicht sogar in einem Militärlaster, wo genau sage ich nicht. Es könnte auch sein, dass wir mit einen der vielen kleinen Stückgutfrachter ins Delta gefahren sind. Abwechselnd werden Beine und Arme taub, die Kanten von Kisten und Kanistern klemmen sie ab. So verharren wir für fünf lange Stunden, schmuggeln uns durch sieben Checkpoints. Durchbrechen den in den letzten Tagen immer enger gewordenen Sperrring, den die Militärjunta um Rangun gezogen hat. mehr  

 

I am completely still, feel the breath of the photographer on whose stomach I am lying. Outside, excited voices. The sound of doors slamming. I hear steps on asphalt, circling us. It is two o’clock in the morning. We are traveling into Burma’s disaster area, the Irawaddy Delta, which the government has hermetically sealed off for weeks. Hidden behind stacks of cardboard boxes, we have covered ourselves with dark cloths. The air is stifling. We breathe gasoline fumes. One of the canisters is leaking. I find myself in a truck, or maybe a bus, perhaps even a military transport – where exactly, I won’t say. It might be that we traveled into the delta on one of the many small parcel freighters. Our arms and legs go numb alternately as the edges of crates and jerry cans clamp them off. And so we remain for five long hours, smuggle ourselves through seven checkpoints. Break through the ring that the military junta has been drawing ever tighter around Rangoon in the last few days. more 

 

 

 
 

Das Blut schwappt in Herzschlägen über den Stein. Es teilt sich in viele Ströme, die den Fels hinabfließen, sich wieder vereinen, um sich erneut zu trennen. An manchen Stellen stockt es, dann staut sich das Blut zu kleinen Pfützen, die bald überlaufen, breiig und warm. Dunkelrot tropfen sie auf weißen Schnee. Das Messer von Roman Schiffer fährt durch das Fleisch, mit den Händen greift er tief in den Bauchraum des Tieres. Er zieht an Darmschlingen und Magen, zieht sie hinaus, flucht dabei, schimpft, dünne Lippen, verzerrter Mund. Zwischen den Geröllblöcken will er sie verschwinden lassen. An seiner Armbanduhr bleiben Muskelfetzen hängen. Seine Brille beschlägt vor Atem und Schweiß. Viel zu langsam geht es ihm. „Herrgottsnei“, stößt er hervor und reißt mehr, als dass er schneidet. Stumpfes Messer. Die Sonne versinkt hinter dem Gipfel. Gurgelnd rutscht endlich das Gedärm ins Innere des Berges. mehr 

 

The blood sloshes in pulse beats across the stone. It separates into many currents that flow down the rock and are reunited only to separate again. In some places it falters, and the blood dams up into little puddles that soon overflow, thick and warm. Dark red, it drips down to the white snow. Roman Schiffer’s knife moves quickly through the flesh. With his hands, he reaches deep into the animal’s abdominal cavity. He yanks on loops of intestine and stomach, pulls them out, cursing his task, railing against it, lips tight, mouth warped. He wants to make it all disappear, here among the blocks of scree. His wristwatch is festooned with scraps of muscle. His glasses fog up with breath and sweat. It is all going much too slowly for him. “Jesus H. Christ,” he grunts, ripping more than he could be said to cut. Dull knife. The sun sinks behind the summit. Gurgling, the entrails slide at last into the mountain’s interior. more

 

 

 
 

Das Leder bricht er mit einem Knacken. Igor Patagin umgreift den Schaft mit der linken Hand, die Sohle mit der rechten. Im Schraubgriff zertrümmert er den Stiefel, der aufplatzt wie eine Kokosnuss und seinen Inhalt auf die Wiese wirft. Der Schenkelknochen rutscht heraus, die Fußknochen fallen, einige Zehenstücke kullern zurück in die Grube. Der 25-Jährige flucht leise, und wühlt in der frisch aufgegrabenen Erde. Sie ist durchsetzt mit Holzsplittern, die einstmals Sargwände waren. Die Wehrmachtsstiefel muss Igor knacken, weil nur die Knochen Platz haben im neuen Sarg. Standardmaß 50 mal 80 Zentimeter, ein Pappmodell. Es ist ein Abend im August. Die vier Kollegen haben ihre Spaten längst in den Wagen geräumt, rauchen ihre Zigaretten, doch für Igor soll dieser Tote heute nicht sein letzter sein. „Einen muss ich noch“, sagt er, nur drei hat er gefunden, ein schlechter Tag, denn er wird nach Akkord bezahlt, 4,15 Euro pro Mann. Ein Kopfgeldgräber. Eine Reportage über die Arbeit der Kriegsgräberfürsorge in Russland. mehr   

 

He breaks the leather with a crackling sound. Igor Patagin, 25, grasps the shaft with his left hand, the sole with his right. As if opening a jar, he shatters a boot that bursts like a coconut, disgorging its contents on to the grass. The thigh bone slips out, foot bones fall, a few pieces of toe roll back into the pit. Igor curses softly and roots through the fresh-dug soil permeated with splinters that were once the walls of a coffin. He is forced to crack the Wehrmacht boot because the new coffin only has room for bones. Standard size 20 by 30 inches, cardboard. It is an August evening. His four colleagues have long since loaded their spades into the car, are smoking their cigarettes, but for Igor this skeleton should not be the day’s last. “I need one more,” he explains. He has found only three, a bad day. His job is piecework, four euros and fifteen cents per man. A bounty digger. The work of the Volksbund (League for the Maintenance of German War Graves) in Russia. more

 

 

 
 

Die Erde ist in Auflösung, morastig, haltlos; auf Turnschuhen versinkt Davis Max* in ihr. Er taumelt im Schlamm, eine Hand auf das Gewehr gestützt, ein bleiches Gesicht in schwarzer Kapuze. Er hat Benzin gekifft, seine Lippen hängen schlaff. Das Gewehr schleift der 29-Jährige hinter sich her, es ist die letzte Woche der diesjährigen Elchsaison. Die Männer des Dorfes, Angehörige der Yupiks, Eskimos, sind raus zum Jagen, also auch er. Also ist auch Davis Max heute aus dem Haus seines Vaters gerannt, mit flackerndem Blick, nicht mehr ausgehalten hat er es dort. Die Enge. Die misstrauischen Fragen. Im Dorf hat man Angst vor Davis. Die Mädchen verstecken sich vor ihm. Er weiß, es gibt Leute, die brächten ihn gerne um. Mit ihren ei-genen Händen. „Hier ist der einzige Platz, an dem ich meinen Frieden habe“, sagt er über den Schiffscontainer am Steilufer. Hinter dessen Rückwand kauert er mit angezogenen Knien. Der Kopf fällt ihm auf die Schulter, zu viel Benzin. Dieses be-schissene Benzin, stammelt er. „Ich kann mir Gras nicht leisten. 50 Bucks das Gramm.“ Er beginnt Patronen aus der Ho-sentasche zu fingern und lädt durch. Eine Reportage über Newtok, Alaska, einen der ersten Orte der Welt, den die Klimakatastrophe vernichten wird.   mehr 

 

The earth is disintegrating, a quagmire, tractionless; in sneakers, Davis Max* sinks into it. He staggers in the mud, one hand propped on the rifle, a pale face in a black hood. He has been huffing gas, and his lips hang flaccid. The 29-year-old drags the rifle behind him. It is the final week of this year’s moose season. The men of the village, members of the Yupik Eskimos, have gone out hunting, so he does the same. Davis Max, too, bolted out of his father’s house today, his gaze flickering, unable to take any more. The cramped space. The distrustful questions. In the village, people are afraid of Davis. The girls hide from him. He knows there are people who would like to kill him. With their bare hands. “This is the only place where I find peace,” he says of the shipping container on the steep riverbank. Behind its back wall, he cowers with his knees pulled up. His head droops to his shoulder. Too much gasoline. Fucking gas, he stammers. “Can’t afford reefer. Fifty bucks a gram.” He starts to finger cartridges out of his pants pocket and reloads. Newtok, Alaska, one of the first towns in the world that climate change will eliminate.   more 

 

 

 
 

Der Mann, der das Bahnhofscafé in Manhattan betritt, fürchtet, gesehen zu werden. Er ist angespannt. Bestellt einen Espresso. „Ich habe sie immer wieder gewarnt“, sagt Johann Brunner, dunkler Anzug, weißes Hemd. „Irgendwann lief das alles aus dem Ruder.“ Er arbeitet für die Bayerische Landesbank, Zweigstelle New York. Er schaut sich nervös über die Schulter. Jeden Gast, der neu hereinkommt, mustert er eindringlich. Dann unterbricht er für einen Moment seine Erklärungen und setzt wieder an. Jahrelang stand der Mann loyal zu seiner Firma. Er ist in einer Abteilung beschäftigt, die Kreditrisiken prüft. „Ich habe ihnen immer wieder gesagt, macht das nicht. Wir wissen nicht, worauf wir uns da einlassen. Es war die reine Gier. Wir waren so gierig.“ Er hat einen Bleistift mitgebracht und einen Notizblock, darauf zeichnet er Pfeile, Kästchen, Körbchen, den Untergang einer ehemals strahlenden Bank. mehr 

 

The man who steps into the café in Grand Central Station is afraid of being seen. He is tense. He orders an espresso. “I warned them repeatedly,” Johann Brunner* says, dark suit, white shirt. “But at some point it got out of hand.” He works for the central bank of the German state of Bavaria, New York branch. He looks nervously over his shoulder. Every customer who enters, he scrutinizes intensely. He interrupts his explanation for a moment, then begins again. For years, the man stood loyal to his firm. He is employed in a department that reviews credit risks. “I told them over and over, ‘Don’t do it. We don’t know what we’re getting into.’ It was pure greed. We were so greedy.” He has brought along a pencil and a notepad on which he draws arrows, boxes, baskets – the downfall of a once illustrious bank. more

 

 

 
   
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