hometextarchiv

Enaas Abdalla sucht die Wahrheit

In Bagdad ringen Journalisten um die Freiheit, über Korruption und Verbrechen zu schreiben

 
 

PHOTOGRAPHIE Saadallah al-Kalidi

 

Der Tod ist in der Hand von Enaas Abdalla, sie hält ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, ein grüner USB-Stick. Nervös klopft sie ihn an diesen Morgen auf die Glasplatte des Redaktionstischs. „Ich habe mich weit vorgewagt“, sagt die 29-Jährige, Jeansjacke und blondierte Haare. Der Ressortleiter schaut schweigend in ein wächsernes Gesicht. „Hör auf“, sagen in letzter Zeit immer häufiger ihre Kollegen der Tageszeitung al-Mada. „Hör auf“, sagt zu Hause ihr Mann. Ihre drei Kinder wissen nicht, was sie tagsüber macht. Sie könnten es den Nachbarn erzählen. Trotzdem recherchierte Enaas Abdalla weiter in dieser Stadt, die ihr den Notizblock täglich mehr mit Elend und Verbrechen füllte. In den Straßen stellte sie Fragen, die keiner zu stellen wagte. Sie sah hin, wo niemand hinsah. Doch jetzt starrt sie nur auf ihre Finger, die sie nicht mehr ruhig bekommt. „Diese Leute sind extrem unberechenbar“, murmelt sie. Der USB-Stick speichert Recherchen über die Organhandel-Mafia von Bagdad. Enaas Abdalla sitzt in den Räumen ihrer Zeitungsredaktion und weiß, wessen Tod sie in der Hand hält: den eigenen.

Ihr Arbeitsplatz ist ein zweistöckiges Gebäude, mitten im Zentrum, dort, wo einmal das Herz der Hauptstadt war. Die Straße davor, früher asphaltiert, ist aufgerissen. Der Staub tobt auf ihr in mächtigen Wirbeln. Heruntergekommene Wohnblöcke säumen die Gasse, Familien bewohnen ihre Trümmer, zum Schutz haben sie die Fenster zugemauert. Einziger Farbfleck ist das Rot des Logos von „al-Mada“ auf der Absperrschranke. Zwei Metallsäulen umranken den Eingang. „Der Horizont“, zweitgrößte irakische Zeitung, Auflage 15 000, beschäftigt 30 Redakteure und 14 Korrespondenten. Seit der Invasion durch die USA wagen sie etwas, das für die Geschichte ihres Landes einzigartig ist. „Das Experiment“, nennt es der Verleger. Freie Presse. Jahrzehntelang duldete Saddam Hussein nur vier Zeitungen im Land. Nach seinem Sturz gründeten sich 420, von denen bis heute 150 Blätter existieren. Aus dem „Experiment“ wurde indes ein Massaker. 276 Journalisten und Medienmitarbeiter kamen seither im Irak ums Leben, die meisten davon in Bagdad. In keinem anderen Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg starben so viele Berichterstatter. Während fast alle ausländischen Korrespondenten das Land längst verlassen haben, führen irakische Reporter weiter ihren täglichen Kampf um Wahrheit und das Überleben.

Klickklackklickklack tackert der USB-Stick von Abdalla auf die Tischplatte. Im Hintergrund ist das Großraumbüro von al-Mada, wo der Grafiker einen Schreianfall hat, der Karikaturist zeichnet und der Parlamentskorrespondent seine Pistole reinigt. Enaas Abdalla arbeitet für das Ressort Investigation, dritte Bürozelle von links. Blaue Plastikwände auf grauen Kacheln. Der Ressortleiter, Statur eines Maulwurfes, runde Schultern, runder Bauch, stützt den Kiefer auf die Faust. „Leg die Geschichte doch erstmal zur Seite.“ Es gibt einen neuen Wirtschaftszweig in Bagdad, hat sie ihm berichtet. Ärzte haben ihr davon erzählt. Dass eine Mafia-Gruppe Opfer von Bombenanschlägen einsammelt und in ein bestimmtes Krankenhaus fährt. Um ihnen dort eine Niere zu rauben. In den nächsten Tagen will sie – getarnt als Verkäuferin ihrer eigenen Organe – in eben dieses Krankenhaus, um an mehr Details zu kommen. Bis vor drei Jahren war Abdalla Angestellte im Justizministerium, jetzt ist sie die ehrgeizigste Reporterin des Ressort. Eine, mit der sich ihr Chef, ein Gemütsmensch, bisweilen schwer tut, so zornig ist sie, so rau auch. Wut treibt sie an, Kraft liegt in jedem ihrer Worte. Der Krieg nahm ihr das Haus und die Familie, von der nur sie und ihr Mann nicht ins Ausland gingen.

Ich weiß nicht, ob wir das veröffentlichen können“, brummt der Ressortleiter. Eines der schlimmsten Verbrechersyndikate niste im Gesundheitswesen, und Enaas Abdalla ist ihnen schon mehrmals nur knapp entkommen. Immer wieder diskutieren sie in der Bürozelle des Ressorts die Frage: Welche Geschichte bringt uns um?

Der Krieg hat Bagdad in Hunderte Einzelteile zerschlagen, in Glaubensrichtungen, die eigene Armeen gründeten, in wirtschaftliche Schutzbündnisse, die Männer unter Waffen haben. In Mafia-Fraktionen. Die Fronten zwischen ihnen verlaufen oft unsichtbar, im Wochenwechsel koalieren sie und bekämpfen einander. Es ist für Abdalla nicht immer einfach, die Verwerfungen zu überschauen. Etwa neulich beim Waisenhaus, Im Gebiet der schiitischen Mahdi-Armee. Sie streckt beim Erzählen ihren Nacken, stöhnt auf. Einer der Milizionäre hatte ihr gesagt, komm mit, du musst das beenden. Er führte sie zu einem aufgelassenen Kinderheim. Das Personal war geflohen oder getötet, Blutflecken an den Wänden. Die Waisen hatten sie zurückgelassen. Abdalla holt die Fotografien. „Da“, sagt sie und deutet mit lackiertem Fingernagel auf den Boden der Klassenräume. Kot bedeckt. Ein anderes Bild zeigt ein weinendes Mädchen, 13 Jahre alt, mit Kleinkind im Arm. „Die Kinder werden von den Milizen vergewaltigt. Sie bedienen sich an ihnen.“ Das Baby sei ihr von einem Peiniger gemacht worden. Nur eine Stunde habe Abdalla sich im Gebäude aufhalten können, dann kamen Bewaffnete. „Die wollten uns erschießen, wir sind einfach nur gerannt.“ Die Reporterin erzählt atemlos, diese Geschichte und viele andere, und oft muss sie am Ende rennen.

Ihre Finger haben aufgehört, mit dem Stick zu spielen. Sie greifen zum Handy. Ihr Mann. Wann sie nach Hause käme, fragt er besorgt. „Diese Arbeit“, sagt sie hinterher leise. Viel zu oft schreie sie in letzter Zeit ihre Kinder an.

Die Tür, die von der Straße zur Redaktion führt, macht aus Lehrern, Handwerkern, Beamten – die sie für ihre Nachbarn und Verwandten sind – wieder Journalisten. Viele verbergen draußen immer noch ihre Identität. Jeden Tag neu durchlaufen sie die Metamorphose zum Kulturressortleiter, zum Korrektor, zum Sportreporter. Sie alle legen zur Arbeitszeitregistrierung ihren Zeigefinger auf einen Scanner. Fluchen, weil sie das Büro abermals drei Stunden zu spät erreichen. Der Berufsverkehr durch eine Autobombe und Patrouillen der Amerikaner zusammen gebrochen ist. Es sind viele Lyriker unter ihnen und Schriftsteller, die als Quereinsteiger zum Journalismus kamen. Eine Rumpfmannschaft, die Hälfte von denen, die 2003 bei al-Mada begannen. Die andere Hälfte floh in den vergangenen Jahren ins Ausland oder hat aus Angst den Beruf aufgegeben. Es gibt keine arbeitslosen Journalisten im Irak. Zyniker unter ihnen sagen: Das ist die gute Nachricht.

Kurz nur schaut der Fotograf Saad al-Kalidi zu den Dächern auf, als der Knall einer Explosion über die Häuser jagt. Er zieht vor dem Verlagsgebäude an der fünften Morgenzigarette. „Weit weg, drei Straßen von hier, ein Sprengsatz.“ Keine Autobombe, die klänge heller. Er hat von allen Mitarbeitern bei al-Mada das meist geschulte Gehör. Er ist der gefährdetste von allen, der sichtbarste, der seine Kamera nicht immer so schnell wegstecken kann wie er sollte. Vor ihm steht sein Yamaha-Moped, trotzig hat er dessen Vorderseite mit einem Totenschädel überklebt. „Das“, zeigt der 31-Jährige auf die staubige Maschine, „ist mein Leben.“ Saad ist mit seiner Yamaha im Bagdader Verkehr wie eine Wasserlaus auf einer Pfütze. Er lächelt viel, scherzt, klopft jovial auf Rücken und Schultern, ist schnell da und schnell weg. Nie länger an einem Ort als fünf Minuten, sonst, sagt er, „lande ich in einem Kofferraum“. Was in Bagdad die Umschreibung für Entführung ist. Jede seiner Bewegungen, sogar hier in der Redaktion, elastisch, federnd, scheint immer auch auf das Zurückweichen gefasst.

So hat er die vergangenen fünf Jahre überlebt. Fast täglich kommt es auch heute noch zu Übergriffen auf Journalisten. Die Polizei prügelt sie bei Recherchen, das Militär erpresst sie, der Mob verfolgt sie. Saad ist kein Kriegsberichterstatter, doch seine Kamera zieht den Krieg an. „Da ist ein Pressefotograf!“, schrie neulich einer, als er für einen Auftrag in einer Demonstration mitmarschierte. Der radikale Schiitenführer Muktada al-Sadr hatte seine Anhänger auf die Straße gerufen. Plötzlich war al-Kalidi umringt von Hunderten. „Wenn einer angefangen hätte, mich zu schlagen, wären alle über mich hergefallen. Ich wäre tot gewesen.“ Doch ein Unbekannter erbarmte sich. Er rief, „ich kenne diesen Mann. Er ist gut.“ Das rettete den vierfachen Familienvater. Wem er sein Leben verdankt, weiß er nicht. Ein anderes Mal kam er zufällig auf einen Marktplatz, auf den sich gerade ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt hatte. Zerfetzte Leichenteile und zersplitterte Marktstände überall. Im Schock verwechselte ein Überlebender die Kameraausrüstung des Fotografen mit einem Sprengstoffgürtel, er schrie: Selbstmordattentäter! Die Soldaten begannen zu feuern. „Saad!“, rufen jetzt die Kollegen von drinnen. Er schnippt die Kippe in den Staub.

„Saad!“, ruft es immer, an welchem Schreibtisch er gerade steht, die Hände der Redakteure fliegen hoch, meist vergeblich winken sie ihn heran. Er ist bei al-Mada der einzige Fotograf. Er fotografiert Kulturfeste, Einweihungen, Technologiemessen und zwischendurch immer wieder mal eine Autobomben-Explosion. Seinen Bruder Mahdi, ebenfalls Fotograf, hat er jetzt zu sich in die Zeitung geholt. Weil er unbedingt Entlastung braucht. „Die gefährlichen Sachen“, sagte er seinem Bruder, „überlasse mir. Du bist ja noch nicht mal verheiratet.“

Eine Zeit lang hatte es den Anschein, als sei es ruhiger geworden in Bagdad. Die Zahl der täglichen Anschläge im Stadtgebiet sank im vergangenen Jahr von 120 auf 12 bis 15. Dank der zwischenzeitlich hohen Ölpreise hat die Regierung die Sicherheitskräfte vervielfachen können. Es gibt Redakteure der al-Mada, die es wieder wagen, nach Einbruch der Dunkelheit das Verlagsgebäude zu verlassen. In Fahrgemeinschaften treten sie die Heimfahrt an, um das Entführungsrisiko zu minimieren. Sie schwärmen, weil nun endlich wieder Schnapsläden aufgemacht hätten. Dass ist es, was viele nach Dienstschluss zu Hause tun. Saufen. Schreiben. Es gibt wenig Alternativen. Sie reden über die Zeit vor einem Jahr, als läge sie Jahrzehnte zurück. Der Tod zweier Redaktionsmitglieder. Eine ferne Erinnerung. Als könnte sie nicht jederzeit wiederkommen und hätte sich das Morden vielleicht nur eine kleine Auszeit genommen. Sie lassen sich ungern auf die in den letzten Wochen wieder zunehmenden Anschläge ansprechen. Auf den ins Bodenlose fallenden Ölpreis und die Folgen für den Staatshaushalt. Sie klammern sich an ihr kleines Glück.

 


Jetzt sitzen sie alle um den großen Konferenztisch, früher Nachmittag, und schweigen. Wenn der Verleger da ist, spricht nur er. „Wir lieben ihn wie unseren Vater“, sagen seine Leibwächter. „Bringt ihn mir! Bringt mir den zuständigen Redakteur!“, donnert er in die Runde. Fakhri Kareem ist eine würdevolle Erscheinung, grauer Anzug, grauer Schnauzbart und eine Designerbrille, blau. Zornig schleudert er sie auf die Zeitungsausgabe von heute. „Das hier kauf ich für keinen Cent!“ Zu viele Rechtschreibfehler. Zu viele langweilige Formulierungen. Zu viele Nachrichten seien schwach und kauten nur Regierungsmitteilungen wieder. „Vier Bilder auf einer Seite!“, empört sich der Chef. „Bei deiner Ehre!“, herrscht er den Leiter der Klatschspalte an. „Hat deine Seite ein Konzept?“ Die Ressortleiter vernehmen die Kritik, kehren auf ihre Plätze zurück und hinterlassen auf dem Glastisch ein Muster schweißnasser Fingerabdrücke.

Der Verleger leidet seit einiger Zeit unter Schlafproblemen. Stundenlang liegt er zu Hause wach. Kareem saß für seine Überzeugungen unter Saddam im Gefängnis, gründete al- Mada 1994 im syrischen Exil. Ein kurdischer Kommunist, der sich zum Demokraten wandelte, und im Hauptberuf mittlerweile Berater des irakischen Präsidenten Dschalal Talabani ist. Immer wieder entkam er in den vergangenen Jahren Scharfschützen und Sprengsätzen. „Der Großzügige“, was sein Name im Deutschen bedeutet, lebt in Bagdad auf dem Festungsareal der „Patriotischen Union Kurdistans“ (PUK). Die Partei des Präsidenten, dessen Bild fast jeden Tag die Aufmacherseite von al-Mada schmückt. Talabani finanziert die Redaktion hauptsächlich, räumt Kareem freimütig ein. Hier erreicht das Experiment der freien Presse seine Grenzen. Es gibt im Irak keine Zeitung ohne politische Geldgeber. Ausnahmslos ist sie Sprachrohr einer Partei oder Miliz. Von wo sonst soll das Geld kommen – vom Leser? „Je mehr du verkaufst, desto mehr verlierst du“, klagt Kareem. Sogar Preise, die nur die Papierkosten deckten, akzeptiere der Markt nicht. Die Werbung? Stammt fast ausschließlich von Regierungsstellen. 40 000 Dollar im Monat, denen Lohnkosten von 60 000 Dollar gegenüberständen. al-Mada ist eine von vier Zeitungen, die am unabhängigsten sind – im Rahmen der Möglichkeiten. Ein Land muss sich freie Presse leisten können, der Irak kann sich es noch nicht.

Der Fotograf Saad steht vor der Redaktion bläst Zigarettenrauch in den erdbraunen Himmel. Drinnen ist das verboten. „Es fängt jetzt wieder an“, sagt er dann. Als er gestern Abend auf dem Heimweg war, bemerkte er 200 Meter von seinem Haus entfernt einen Opel Astra. Der parkte mitten auf der Straße, mit laufendem Motor. Er schaute hinein und sah einen Toten mit Kopfschuss am Steuer, den Fuß auf dem Bremspedal. Den Zündschlüssel hat Saad vorsichtig umgedreht, damit er Wagen nicht anfährt, falls der Fuß der Leiche abrutscht. Natürlich konnte er die Szene nicht fotografieren, viel zu nah an seinem Haus. Denn auch seine Nachbarn dürfen nichts erfahren. Die Morde nehmen zu, sagt er. Die Entführungen. Schnippt die Zigarette in den Staub. Er sprintet zu seinem Computer hinauf, wo er schnell noch das Foto einer Kulturveranstaltung bearbeiten muss.

Plötzlich erzittert der Generator, flackert das Neonlicht und fällt Dunkelheit über das Büro. Über die Politik, Kultur, das Lokale, den Reportagen über Korruption und Fußball. Es beginnen Zigaretten im Finstern zu glimmen. Eine nach der anderen leuchten auf, wie Glühwürmchen.

Die Redakteure atmen durch. Pause endlich vom Krieg.

 

   
 
     
home top

PHOTOGRAPHIE
Saadallah al-Kalidi, Bagdad
saad.photo@yahoo.com