home
   
vitakontakt: mail(at)wolfgang-bauer.info
   
Textarchiv 2012Textarchiv 2011Textarchiv 2010Textarchiv 2009Textarchiv 2008Textarchiv 2007Textarchiv 2006Textarchiv 2005Textarchiv 2004Textarchiv 2003Textarchiv 2002Textarchiv 2001Textarchiv 2000
 

Der Tod ist in der Hand von Enaas Abdalla, sie hält ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, ein grüner USB-Stick. Nervös klopft sie ihn an diesen Morgen auf die Glasplatte des Redaktionstischs. „Ich habe mich weit vorgewagt“, sagt die 29-Jährige, Jeansjacke und blondierte Haare. Der Ressortleiter schaut schweigend in ein wächsernes Gesicht. „Hör auf“, sagen in letzter Zeit immer häufiger ihre Kollegen der Tageszeitung al-Mada. „Hör auf“, sagt zu Hause ihr Mann. Ihre drei Kinder wissen nicht, was sie tagsüber macht. Sie könnten es den Nachbarn erzählen. Trotzdem recherchierte Enaas Abdalla weiter in dieser Stadt, die ihr den Notizblock täglich mehr mit Elend und Verbrechen füllte. In den Straßen stellte sie Fragen, die keiner zu stellen wagte. Sie sah hin, wo niemand hinsah. Doch jetzt starrt sie nur auf ihre Finger, die sie nicht mehr ruhig bekommt. „Diese Leute sind extrem unberechenbar“, murmelt sie. Der USB-Stick speichert Recherchen über die Organhandel-Mafia von Bagdad. Enaas Abdalla sitzt in den Räumen ihrer Zeitungsredaktion und weiß, wessen Tod sie in der Hand hält: den eigenen.mehr 

 

Death is in Enaas Abdalla’s hand. She holds it between her thumb and forefinger, a green USB stick. Nervously she raps it this morning against the plate glass top of the editorial desk. “I took some risks,” the 29-year-old in a jeans jacket says, her hair dyed blond. The editor looks silently into a waxen face. With increasing frequency, her colleagues at the daily “Al Mada” tell her stop. At home, her husband says the same thing: Stop. Her three children do not know what she does during the day. They might tell the neighbors. And still Enaas Abdalla continued to conduct her researches in a city that fills her steno pad more every day with misery and crime. On the street, she asked questions no one else dared to ask. She looked where no one else was looking. But now she only stares at her fingers, which she cannot calm down. “These people are extremely unpredictable,” she mutters. The USB stick contains her findings on Baghdad’s organ trafficking mafia. Sitting in her newspaper’s editorial offices, Enaas Abdalla knows whose death she is holding in her hand: her own. more

 

 

 
 

Die Frau von Thomas Mänz kann ihre Tochter nicht halten. Nicole, acht Jahre alt, entgleitet ihrer Hand und versinkt in einem Strudel aus Wasser. Tiefer und tiefer, immer weiter von ihr weg. „Es war schrecklich“, sagt sie mittags am Küchentisch, die Hand über dem Gesicht, Kaffeekrug unterm Kinn. Thomas Mänz schaut sie nachdenklich an. „Du hast schlecht geschlafen.“ Er hat heute frei. Er hat jetzt sehr oft frei. Thomas Mänz arbeitet seit dem 1. Januar 2009 kurz. Sein Betrieb bekommt immer weniger Aufträge, und immer weniger weiß der Werkzeugmacher, wie er die Ausgaben bestreiten soll. Der Urlaub ist längst gestrichen, Kleidung wird längst keine mehr gekauft, doch jetzt wird das Geld knapp fürs Essen. Nur einmal in der Woche kommt Fleisch in den Topf. Mänz, der heute die Kinder von Kindergarten und Schule abholte, sieht zu seiner Frau. Er sagt: „ein böser Traum.“ mehr 

 

Thomas Mänz’s wife cannot hang on to their daughter. Nicole, aged eight, slips away from her hand and descends into a maelstrom. Ever deeper, ever farther away from her. “It was horrible,” she says around noontime at the kitchen table, one hand over her face and a coffee mug under her chin. Thomas Mänz looks pensively at her and remarks, “You didn’t sleep well.” He has the day off. He often has days off now. Mänz has been working reduced hours since January 1, 2009. Order volume at his company continues to fall, and the machinist is increasingly unsure how he is supposed to cover expenses. A planned vacation has long been cancelled. There has been no clothing purchased for a long time. But now money for food is getting scarce. These days they only put meat on the table once a week. Mänz, who picked up the children from kindergarten and school today, looks to his wife and says, “A nightmare.” more

 

 

 
 

Die alte Klassenlehrerin kommt nicht mehr. Ihre Schüler sprechen verständnisvoll von ihr. Die wusste nicht mehr weiter, sagen sie. Im Unterricht habe sie zum Schluss oft „richtig geheult“. Es ist Herbst 2008, Raum 605, Schulbeginn. Die 9b hat nach den Ferien eine neue Lehrerin bekommen. Ein schriller Chor hallt ihr entgegen. „Guten Moaaaargen, Frau Kimmerle.“ Sie muss in diesem Jahr 22 Jugendliche auf die Abschlussprüfung vorbereiten, nachdem ihre Vorgängerin aufgegeben hat. „Die letzte“, sagt Yavus*, 16, der Klassensprecher, der immer kurz vorm Schulverweis steht, „gab uns gute Noten, weil sie Angst vor uns hatte.“ Ein ganzes Schuljahr begleiteten Autor und Fotograf die beiden Abschlussklassen der Neugreuth-Hauptschule in Metzingen, einer wohlhabenden Kleinstadt in Baden-Württemberg. Ein Jahr lang saßen sie zwischen Schülern im Unterricht und tranken teerschwarzen Kaffee im Lehrerzimmer. Das Protokoll einer tiefen Sinnkrise. mehr  

 

The old teacher won’t be coming anymore. The students speak of her with sympathy. She was at the end of her rope, they say. Toward the end, she used to “really break down and cry” in class. It is the fall of 2008, Room 605, the first day of school. After the summer vacation, 9b has acquired a new teacher. A shrill chorus resounds in her direction. “Good moooorning, Mrs. Kimmerle.” In the coming year she must prepare 22 young people for final examinations after her predecessor gave up. “The last one,” Yavus says, 16 years old and chronically on the edge of expulsion, “gave us good grades because she was afraid of us.” A long-term investigation of Germany’s vocational track and a wasted year. more 

 

 

 
 

Herr Xu bricht auf, um seinen Sohn zu holen. Er packt eine kleine Umhängetasche, legt einen Rasierer hinein, Unterhosen und Socken, dazu eine große Flasche Branntwein. Ein letztes Mal schaut er auf seine Frau. Sie sitzt neben dem leeren Kinderbett, Nacken starr, Schultern steif, wie eine Schildkröte in sich zurückgezogen. Kinderzeichnungen hängen an den Wänden, sie zittern im Wind des Ventilators. „Ich gehe“, sagt Herr Xu. Er hält Abstand zu ihr, die sich verändert hat in den letzten Jahren. Frau Xu sortiert die Schulurkunden ihres Sohnes in lange Bahnen, exakt ausgerichtet, ganz sorgfältig, bis der Ventilator alles durcheinander weht. Dann beginnt sie von vorn, immer wieder. „Ich gehe“, ruft abermals Xi Ming Xu, 45. Die Reise, auf die er sich begibt, hält wenig Trost bereit. Sie wird ihm das Schlechteste im Menschen zeigen und vielleicht auch das Beste. „Bring ihn nach Hause“, flüstert seine Frau. Er zögert kurz. Dann verschließt er hinter sich die Wohnungstür, durch die der Junge vor anderthalb Jahren verschwand. Eine Reportage über den Kinderhandel in China. mehr 

 

Mr. Xu prepares to fetch his son. He packs a small shoulder bag, putting in a shaver, underwear, socks, and then a large bottle of brandy. He looks at his wife for one last time. She sits next to the empty cot, her neck rigid, her shoulders stiff, withdrawn into herself like a turtle. A child’s drawings hang on the walls. They tremble in the wind from the electric fan. “I’m going,” Mr. Xu says. He keeps his distance from her. She has changed in the past few years. Mrs. Xu sorts her son’s report cards into long rows, aligning them precisely with the utmost care, until the fan blows them out of order. Then she starts over, again and again. “I’m going,” Xi Ming Xu, 45, calls out once more. The journey he is undertaking promises little consolation. It will show him the worst in people and perhaps the best as well. “Bring him home,” his wife whispers. He hesitates briefly. Then he locks the apartment door behind him – the door through which the boy disappeared, a year and a half ago. A feature on child abductions in China.more

 

 

 
 

Die Fäuste des Vaters, der seine Kinder prügelt, ruhen auf den Knien. Er sitzt müde am Bettrand. Zwischen krummen Schultern hängt ein kantiger Kopf. Die Haare bis auf die Haut geschoren. Er ist aus dem Krieg zurückgekommen, einen Urlaubsmonat lang, dann geht er wieder zur Armee. „Du solltest sie nicht so hart auf den Kopf schlagen“, bittet ihn seine Frau. Die Wände der schmalen Wohnzelle sind bis in Kinderhöhe dreckverschmiert, so viele von ihnen leben hier. Drei Mädchen und vier Jungs teilen sich ein Stockbett mit ihren Eltern. Die Lehrerin der achtjährigen Selam hat die Mutter schon mehrfach einbestellt und ihr gesagt: „Haut das Mädchen nicht mehr.“ Es sei ganz still im Unterricht und eingeschüchtert. Ghebrewoldu Tesfay, 41, der Vater, schaut kurz auf. Er trinkt viel. Ihm rutscht häufig die Hand aus, und auch seiner Frau Teklu Ghenet, 32, die alleine mit sieben Kindern zurechtkommen muss. Nur schlägt sie nicht so hart. mehr   

 

The fists of the father who beats his children rest on his knees. He sits, tired, on the edge of the bed. Between crooked shoulders hangs an angular head, the hair sheared down to the skin. He is back from the war for a month of leave. Then he returns to the army. “You shouldn’t hit them so hard over the head,” his wife requests of him. The walls of the cramped, cell-like apartment are smeared with dirt up to child height. That’s how many of them live here. Three girls and four boys share two bunk beds with their parents. Eight-year-old Selam’s teacher has already summoned the mother repeatedly to ask her to stop beating the girl. In class, she is silent and intimidated. Ghebrewoldu Tesfay, 41, the father, looks up briefly. He drinks. He often loses control of his hand, and so does his wife Teklu Ghenet, 32, who must cope alone with seven children. But she doesn’t hit as hard. A feature on how Steffi Graf, the tennis player, is trying to help the people of Eritrea. more

 

 

 
 

Ein Land löst sich auf. Die Bundesrepublik schwindet an den Rändern, in der Mitte, jenseits der Städte und Hauptverkehrsachsen, ganz allmählich, Monat für Monat ein bisschen mehr. Doch fällt es kaum jemandem auf. Der Niedergang der Provinz vollzieht sich ohne Getöse. Die Dörfer siechen in Südniedersachsen und Ostfriesland, in Nordhessen wie in der Oberpfalz. Sie darben auf den Höhen des Allgäus genauso wie in den Tälern des Schwarzwalds, auf der Schwäbischen Alb und in der Hohenlohe, der Pfalz, auch im Frankenwald. Mehr als drei Millionen Menschen haben sie seit 1994 verlassen. In manchen Gemeinden ist die Bevölkerung um mehr als die Hälfte zurück gegangen. Kein DSL gibt es, noch nicht einmal einen Bäcker. Der Metzger im Ort verschwindet, die Ärzte, die Poststelle. Häufig hält es sogar die Kirche nicht mehr im Dorf. Oft bleibt von der Infrastruktur nur der Zigarettenautomat. Die Grundstückspreise fallen in der Folge, der Immobilienmarkt kollabiert. Deutschland rückt enger zusammen, es ballt sich in den Städten. Der demografische Pflug zieht übers Land und hinterlässt gewaltige Furchen. mehr 

 

It is the end, and no one is left to bear witness. The last inhabitant of the municipality of Staudenhof switched off his tractor on a summer day four years ago, stopping in the middle of a row, and climbed down from the driver’s seat, not feeling well. His surname was Bommes. He died a few months later in a rest home. The tractor still stands where he left it, overgrown with grass and bushes. Blackberries press into the dead man’s house, one of the few in the village that is not yet a ruin. The windows crack under the weight of elderberries. The forest is creeping down the hillsides, fields turn to meadows, meadows to thickets. Nature is taking back what was once a community of 128 people. A feature on villages dying in western Germany.   more 

 

 

 
 

„Er ist fett,“ sagt Nicolas*, 11. Der Junge hält sich das Bild ganz nah vor die Augen. Das Foto zeigt einen Fremden. „Er ist alt und hässlich.“ Auf seinem Kopf wachsen nur noch wenig Haare. Der Hals ist dürr und faltig. Die Brille hängt schief auf der Nase, trunken stiert der Mann zum Bildrand hinaus. Wie eine Puppe hält er eine zierliche Filipina im Arm, in Slip und knappem BH, auch sie schaut ins Leere. „Er hat meine abstehenden Ohren“, sagt Nicolas. Der Junge grinst und zupft sich am Ohr. „Meine große Nase.“ Manche Kinder in seiner Klasse verspotten ihn deswegen als „Affenwarze“. Er hat einen ähnlich hellen Hautton wie der Fremde. Die Kinder in der philippinischen Provinz rufen ihn „Milchfisch“. Er ist dem Mann auf dem Foto nie begegnet und ihm doch so vertraut. Noch einen Moment hält der Junge das Bild in den Händen, den Kopf schief gelegt, nachdenklich, bevor es seine Mutter wieder wegsperrt, in einen Koffer mit Vorhängeschloss. „Mein Vater“, sagt Nicolas, das Hurenkind. (*Namen geändert)  mehr 

 

“He’s fat,” Nicolas* says, aged 11. The boy holds the picture very close to his eyes. The photo shows a stranger. “He’s old and ugly.” There are only a few hairs left growing on his head. His throat is gaunt and wrinkled. The man gazes dully pasts the viewfinder, glasses hanging crooked on his nose. Like a doll, he holds a delicate Filipina in his arms, in a bra an panties. She, too, gazes into nothingness. “He has my sticky-outy ears,” Nicolas says. The boy grins and tugs on an earlobe. “My big nose.” That is the reason why some of his schoolmates mock him as “Monkey Wart.” He has light skin like that of the stranger. Children here in the Philippine countryside call him “the Milkfish.” He has never met the man in the picture, who is nonetheless so familiar to him. The boy holds the image in his hands for another moment, cocking his head cocked, before his mother closes it away again in a padlocked suitcase. “My father,” Nicolas says, the son of a prostitute. (*name changed)  more 

 

 

 
 

Unter der Erde reißen sie die Köpfe hoch, still werden sie, als sie das Geräusch hören, kein Rufen mehr im Stollen, kein Brüllen. Die beiden Männer starren hinauf, Nasir und Ibrahim, den Bauch auf Dreck, den Rücken an den Brettern, die die Decke stützen. Einen schmalen Spalt haben sie der Erde abgerungen, 40 Zentimeter hoch, in ihn pressen sie jetzt ihren Atem. „Gott steh uns bei!“, flüstert Nasir*, 23. Der Schweiß rinnt ihm in die Augenhöhlen. Das Geräusch ist nicht laut, aber unüberhörbar. Dumpf fällt von oben Lehm auf die Latten, unter jedem Klumpen erzittern sie. Die beiden lauschen den Aufschlägen. Sie kommen kurz hintereinander und dann wieder mit Pausen. Tok-tok-tok. Es ist der Klang von Erde, das auf einen Holzsarg klatscht. „Im Namen Gottes!“, sagt Ibrahim, 22, der ihn sonst so selten ausspricht. Nur vier Bretter verhindern, dass die Männer begraben werden. Unter der wachsenden Last beginnen sie sich durchzubiegen. Dieser Tag, wusste Nasir schon beim Aufstehen, wird kein guter Tag. „Ich oder du“, sagte er zu Ibrahim, bevor sie zusammen in den Tunnel stiegen. „Einer von uns wird heute sterben.“ Eine Reportage über die Schmugglertunnel im Gazastreifen. mehr 

 

Underground, they jerk their heads up, turning silent as they hear the noise. No more calling out to each other in the gallery, no shouting. The two men stare upward, Nasir and Ibrahim, their bellies on dirt, their backs against the boards supporting the ceiling. They have wrested this narrow crevice from the earth, 40 centimeters high. Now they force their breath into it. “God be with us,” Nasir* whispers. He is 23. Sweat drips into his eye sockets. The sound is not loud, but it is unmistakable. Clay thuds on to the slats from above. They quiver under every clod. The two men listen attentively to each impact. They come at brief intervals, and then again with pauses. Tock, tock, tock. It is the sound gobs of earth make smacking into a wooden coffin. “In the name of God,” says Ibrahim, 22, who otherwise pronounces His name so seldom. Only four boards are keeping the men from being buried. Under the increasing burden, they sag toward the breaking point. Nasir knew even before he got out of bed that this was not going to be a good day. “Either me or you,” he had said to Ibrahim before they climbed down into the tunnel together. “One of us will die today.” They look back past the tips of their toes toward the exit. Sand now begins to trickle through the gaps between the planks in the ceiling. Behind them are 600 meters of galleries through which they must crawl or move in a crouch, only seldom walking upright. One bare light bulb burns every hundred meters. The electric cables are laid along the clay wall, with a telephone line, all the way to the entrance shaft. It reaches ten meters upward, equipped with a steel hoist that, at the end of every shift, whirs toward the sun. It casts its light on a pockmarked landscape.   more 

 

 

 
   
top