Verloren am Ende der Welt

Elf pakistanische Fischer gerieten in die Hände somalischer Piraten, nach acht Monaten
kamen sie frei. Eine Reportage über den langen Weg nach Hause.

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PHOTOGRAPHIE Stanislav Krupař

 

Das Lachen bricht aus ihnen hervor, es platzt aus der Kruste ihrer verhärmten Gesichter. Die zehn Männer von Kapitän Ibrahim Qasim stehen am Rand einer Flugpiste in der Mitte der somalischen Steppe, in einer langen Reihe, bisher schwiegen sie, misstrauisch, in sich gekehrt, aber nun beginnen sie zu begreifen. Die Männer wenden sich einander zu, mit geweiteten Augen, sie lachen. Zu ihren Füßen steht das wenige Gepäck in zugeknoteten Plastiktüten. Viele treten von einem Fuß auf den anderen, sie können sich nur mit großen Schmerzen auf den Beinen halten, doch sie lachen und lachen. Es ist der 29. November 2011. Der Tag, an dem sie zurückerhalten, was sie längst verloren glaubten. Das Leben.

»Ich entschuldige mich«, sagt ein Mann, der vor ihnen steht, mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen in der glühenden Sonne. Er ist Parlamentspräsident hier in Adado, der Hauptstadt des somalischen Bundesstaates Himan & Heeb. »Im Namen meines Landes bitte ich um Vergebung für alles, was euch angetan wurde.« Er drückt Kapitän Ibrahim und jedem seiner Crew eine Hundert-Dollar-Note in die Hand. Eine kleine Menschenmenge örtlicher Würdenträger umringt den Redner. Über der Steppe verliert sich der Applaus, der Vertreter des lokalen Radiosenders hält ihm das Mikrofon unters Kinn. Kapitän Ibrahim und seine Männer verstehen ihn nicht. Nur wenige Worte seiner Sprache haben sie in den letzten zehn Monaten gelernt. Sie sind die Besatzung des Fischerbootes Al Imran aus dem pakistanischen Küstenort Piskhan. Neun Monate zuvor, im Februar 2011, kaperten somalische Piraten ihr Schiff und nahmen sie als Geiseln, um Lösegeld zu erpressen. Ihre Familien daheim sind seit Monaten ohne jede Nachricht. »Es war die dunkelste Zeit meines Lebens«, wird Ibrahim später sagen. »Ich werde nie wieder derselbe sein. Es ist ein Fluch. Ich kämpfe jeden Tag dagegen an, wahnsinnig zu werden.«

Die Geschichte, die hier endet, hat viele Anfänge. Sie beginnt an der pakistanischen Küste, wo die Al Imran mit Hoffnung auf reichen Fang in See sticht, es ist der dritte Tag im Januar. Das Boot misst von Bug bis Heck 14 Meter, die Aufbauten sind breit und flach, geduckt wie eine Schildkröte zieht es über das Meer. Für fünf Wochen haben sie Treibstoff und Lebensmittel an Bord.

Ungefähr zeitgleich entschließen sich 17 Männer, 3400 Kilometer von Pakistan entfernt, ein Schiff an der somalischen Küste zu besteigen. Ihr Kapitän nennt sich Ali Jacket. Dieser Anfang liegt im Verborgenen.

Für mich, den Reporter, ist der Beginn ein regengrauer Nachmittag im Büro, Reutlingen, Baden-Württemberg. Mitte November erhalte ich eine seltsame Nachricht. »Can you help?«, steht auf dem Computerschirm, ich habe Facebook geöffnet, aus Adado schreibt mein alter Bekannter Abdisalam Osman. Er hat früher für mich als Übersetzer gearbeitet. »Bei mir im Haus leben elf befreite Geiseln aus Pakistan, und ich weiß nicht, was tun.« Allein kämen sie aus der somalischen Provinz nicht weg. Er bittet mich, die pakistanischen Behörden zu informieren und die Familien der Entführten.

»Ein Scherz?«, frage ich Osman kurz darauf am Telefon. »Eine Falle?«, fragt die Redaktion. Ich bitte eine pakistanische Freundin, in Somalia anzurufen. Osman lässt sie mit den Geiseln sprechen. Sie ist sich sicher. »Kein Scherz.« Sie schickt mir Namen und Herkunftshafen des Boots. Die pakistanische Botschaft in Nairobi, der Hauptstadt Kenias, die zuständig ist für das Nachbarland Somalia, erreiche ich lange nicht. Nach vielen Versuchen endlich eine Stimme in der Leitung. »Geiseln«, sage ich der Botschaftssekretärin, die nur silbenweise zu verstehen ist. »Stromausfall«, antwortet sie, es krächzt, es sirrt, und dann legt sie auf.

Die Fischer wissen um die Gefahren vor Somalia, aber regelmäßig nehmen sie Kurs dorthin, einzeln und in kleinen Gruppen. »Wenn du Geld machen willst, bleibt dir keine Wahl«, sagt Kapitän Ibrahim. Das Gebiet am Horn von Afrika ist so fischreich wie kein anderes im Indischen Ozean. Nirgendwo auf den Weltmeeren werden mehr Schiffe überfallen als hier. Die ersten Piraten Somalias sollen selber Fischer gewesen sein, die mit Motorbooten ihre Opfer attackierten, aber relativ selten Erfolg dabei hatten. Inzwischen gibt es eine Armada an Kaperschiffen. Bis vor die Küsten Indiens und des Irans durchpflügen sie das Meer. Für ganze Regionen Somalias sind diese Raubzüge eine der Haupteinnahmequellen. Die Industriestaaten, auch Deutschland, haben zum Schutz ihrer Handelsflotten Kriegsschiffe ausgeschickt. Der Erfolg der Freibeuter hält jedoch unvermindert an. Die Durchschnittshöhe der Lösegelder stieg von 150000 Dollar pro Schiff im Jahr 2005 auf heute 5,4 Millionen. Im vergangenen Jahr erpressten sie für 27 Boote 138 Millionen Dollar. Die meisten ihrer Opfer kommen nicht aus den westlichen Industriestaaten, für die sich die Medien interessieren. Es sind Seeleute aus Dörfern in Indien, auf den Philippinen oder, wie Kapitän Ibrahim, in Pakistan. Sie schreiben keine Bücher und treten nicht in Talkshows auf. Ihr Schicksal bleibt meist unerzählt.

Der Tag, an den er so oft zurückdenken wird, der Tag ihrer Abfahrt, liegt in dichtem Nebel. Die Männer an Bord haben Wolldecken um sich geschlungen. »Es war ein kalter Morgen«, erinnert sich Ibrahim, 34 Jahre, der älter wirkt, dem sich auf dem Kopf die letzten Haare kräuseln, in der Hüfte ist er schon etwas füllig, ein Schalk, der die meisten Scherze über sich selber macht. Ibrahim ist der Erste seiner Familie, der das Kapitänspatent schaffte. Die Al Imran gehört seinem Onkel und wurde nach Ibrahims Plänen gebaut. Sie lief vor drei Jahren vom Stapel, er gab ihr den Namen seines Sohnes, es ist jetzt ihr siebter Fischzug. In den Tagen vor der großen Fahrt hat Ibrahim für die elfköpfige Besatzung 80 Kilo Zwiebeln geladen, 40 Kilo Kartoffeln, 600 Kilo Mehl, 200 Kilo Reis, Gemüse, Gewürze, Linsen, Tee, zwei Pakete Streichhölzer, Seife und Shampoo und hundert 200-Liter-Tonnen Diesel. Vorräte für vier Wochen. Die Al Imran ist eines der größten Schiffe in Piskhan, das Dorf hat 20000 Einwohner, sieben Moscheen und vier Teestuben. Der Ort liegt an der Küste der Provinz Belutschistan, vor der Grenze zum Iran. Er liegt in Ruinen, als sie ihn in Richtung Somalia verlassen, die meisten Häuser wurden vor drei Jahren von einer Regenflut zerstört. Noch immer leben viele Familien unter Plastikplanen. Es gibt in Piskhan keinen Hafen, aber eine der mächtigsten Fischereiflotten Pakistans. Weit vor dem grauen Strand liegt sie draußen in der Bucht. Ibrahim lässt die Taue lösen, er sieht, wie ihm sein Onkel von einem Ruderboot aus zuwinkt, auf dessen Schoß der fünfjährige Sohn von Ibrahim. Dann sieht er nur noch Nebel.

Ich habe den Schreibtisch in Deutschland verlassen und bin mit dem Fotografen Stanislav Krupar nach Kenia geflogen. Wir wollen die Rückreise der Geiseln von Somalia nach Pakistan begleiten. Allerdings hat es die pakistanische Botschaft in Kenia mit ihrer Rettung nicht eilig. Es gibt hier keinen Krisenstab, nur mäßig interessierte Beamte, die für ihre Landsleute kaum Zeit aufbringen können, weil sie an angeblich dringlicheren UN-Sitzungen teilnehmen müssen. Für einen Flug nach Zentralsomalia fehle es ihnen zudem an Mitteln. »Wir haben dafür kein Budget«, der pakistanische Chefdiplomat ist ratlos. Der Fotograf und ich teilen ein Hotelzimmer und stellen uns auf langes Warten ein.

Wer in diesem Entführungsfall etwas bewirken will, der muss nach Nairobi. Die Nervenenden der Entführungsindustrie laufen hier zusammen, in der Stadt, in der somalische Piraten ihre Villen bauen und Sicherheitsberater Büros eröffnen. Abends sitzen sie in denselben eleganten Cafés. Ich treffe Ahmed Farah im Savanna. Farah ist in dieser Geschichte der Wendepunkt. Der 32-Jährige koordiniert in Ostafrika die Geschäfte von Tacforce, einer Firma, die selten das Rampenlicht sucht. Auf ihrer Lohnliste stehen 2000 Bewaffnete. Sie geht dorthin, wo es anderen zu riskant ist, in den Irak, den Sudan, nach Somalia. Eine Privatarmee, die Unternehmen für ihre Zwecke mieten können. Tacforce bietet der pakistanischen Botschaft an, die Geiseln kostenlos auszufliegen. Für die Firma, die in Dubai sitzt, ist die Mission eine Werbemaßnahme. Die Geiseln sind im Haus meines Bekannten in Adado längst nicht in Sicherheit. Sie sind frei, aber die Verwaltung des somalischen Bundesstaats Himan & Heeb ist zu schwach, sie dauerhaft zu schützen. Sie traut kaum ihren eigenen Polizisten. Mit jedem Tag steigt die Gefahr, dass die Pakistaner abermals entführt werden.

Die Fahrt der Al Imran führt Ibrahims Männer in gutes Wetter, sanfte See, 30-mal werfen sie das Netz aus, 30-mal holen sie es wieder ein. Die Besatzung besteht im Kern aus Männern, die sich seit Jahren kennen. Der stille Chefmechaniker Bakijm, mit 40 einer der Ältesten. Saleh, 30, der Schiffskoch, der seine Witze mindestens so scharf würzt wie das Essen. Yunis, 27, der den ganzen Tag mit Handschuhen und Stiefeln im Kühllager steht. Der Jüngste, Tahir, 25, hat sich vor der Abfahrt gerade verlobt. Er ist beim Einholen des Netzes der Schnellste. Jeder der elf hat seine Aufgabe, etwas, in dem er sich vor allen anderen auszeichnet. Nur Mohamad nicht, der Älteste, er ist schon 60 und der Einzige, der lesen und schreiben kann; dies ist seine erste Fahrt. »Der ist keine große Hilfe«, sagt Ibrahim. »Seine Familie ist arm. Ich hab ihn aus Mitleid mitgenommen.« Nach vier Wochen hat die Al Imran 18 Tonnen Fisch gebunkert, so viel, wie das Lager aufnehmen kann, sie sind bereits auf dem Rückweg. In sechs Tagen, rechnet Ibrahim, werden sie, bei günstigem Wetter, wieder in der Heimat sein.

Der Koch Saleh entdeckt die Piraten als Erster. Ibrahim schläft in der Kapitänskajüte, der Rest der Mannschaft sitzt unter Deck. Das Kielwasser eines Motorbootes spritzt am Horizont auf, es hält direkt auf die Al Imran zu. Einer der Fischer, Hanif, der später nie wieder richtig laufen können wird, rennt ins Führerhaus, schaltet die Maschine auf Vollgas, acht Meilen die Stunde schafft sie, nicht genug. Keine fünf Minuten dauert die Jagd, dann stellt Ibrahim den Motor ab. Zum ersten Mal sieht er jetzt Ali Jacket, Vollbart, Glatze, untersetzt, Poloshirt, als einziger Pirat ist er unbewaffnet.

In dem einsetzenden Gebrüll und Geschrei lächelt Ali Jacket. »Dieses verrückte Lächeln«, erinnert sich Ibrahim. Sorgfältig inspiziert Ali Jacket sein neues Schiff. Die Piraten nennen ihren Anführer so, weil er teure Lederjacken liebt. Er lebt fortan in Ibrahims Kapitänskajüte. Die Mannschaft wird unter Deck getrieben, durchsucht, ihr Besitz wird durchwühlt. Es ist der 2. Februar. Daran kann sich Mohamad, der Älteste, genau erinnern. Bevor die Piraten ihm die Armbanduhr abnehmen, sieht er noch einmal auf das Zifferblatt. »Mit der Uhr«, sagt er, »haben sie mir die Zeit gestohlen.« Bald darauf beginnen für ihn Wochen und Monate zu verschmelzen.

In Nairobi geht es mit den Rettungsbemühungen nicht voran, quälend lange Tage, ich treffe Ahmed Farah ein weiteres Mal. »Wir brauchen einen neuen Plan«, sagt er. Ratlos sitzt er da. »Wir müssen neu nachdenken«, sagt er. Soeben hat ihm die letzte Chartergesellschaft abgesagt. In der ganzen Stadt findet sich keine, die den Auftrag annehmen will. Der Krieg brandet dieser Tage in Somalia neu auf. Die kenianische Luftwaffe fliegt Angriffe. Heftige Kämpfe gegen die Islamisten der Al-Shabaab. Truppen aus Äthiopien sind auf dem Weg nach Adado. Es ist noch unklar, was ihr Vorstoß für die Geiseln bedeutet. Von der pakistanischen Botschaft kommt keine Hilfe. Sie hat noch nicht einmal die Pässe fertig. »Ich rufe dich an, wenn ich Neues weiß«, sagt Ahmed und erhebt sich. Draußen geht ein Gewitterregen nieder.

»Wo bleibt ihr?«, mailt mir Osman aus Adado an diesem Abend. Zwei Wochen sind seit seiner ersten Nachricht vergangen. »Warum seid ihr noch nicht da?«

   

Das Schiff wird den elf Fischern zum Sarg, so muss es sich angefühlt haben. Sie werden unter Deck gesperrt, in ein Loch, in dem sonst das Netz gelagert wird. Die Kammer misst 2 Meter mal 1,50 Meter. Tageslicht sehen sie nur durch eine schmale Deckenöffnung. Die Wände sind feucht und mit Exkrementen beschmiert. Raus dürfen die Geiseln nur zum Toilettengang, für wenige Minuten, und nur einzeln. Doch sie schaffen es nicht immer rechtzeitig nach oben. Die Männer werden von Durchfall geplagt. Das Trinkwasser, das sie bekommen, ist brackig und verdreckt. Es gibt nur Reis, etwas Zwiebeln und am Tag zwei bis drei Kartoffeln für alle. Abwechselnd versuchen sie, aufrecht zu stehen, nachts schlafen sie in Schichten, stapeln Füße auf Köpfe und Köpfe auf Füße. Wenn sie miteinander sprechen, brüllen ihre Bewacher in die Kammer hinunter. Ali Jacket, der den Geiseln nie in die Augen guckt, steuert die Al Imran fünf Tage lang zur somalischen Küste. Er nähert sich ihr bis in Sichtweite, dann ankert er. Als Ibrahim das erste Mal an Deck kommt, sieht er mehr als ein Dutzend Tanker und Frachter, entführte Schiffe. »Die Piraten«, sagt Ibrahim, »sind wie Spinnen, ihr Netz ist das Meer.« Der Ort, zu dem die Fischer gebracht wurden, ist ihre Vorratskammer. Hier verdauen sie langsam ihre Opfer.

Eine Dornier 228 der Freedom Airline Express steht in Nairobi startbereit auf dem Rollfeld. Der 29. November, sechs Uhr früh. Am Vortag ist es Ahmed Farah gelungen, die Fluggesellschaft doch zu überzeugen. Farah zahlte in bar. Aber jetzt weigert sich der Pilot zu fliegen. »Geiseln?«, fragt er. »Wir sollen Geiseln abholen?« Er steigt aus und läuft davon. Sein Chef hatte ihn über den Zweck der Mission im Unklaren gelassen. Nur der Flugschüler bleibt in der Maschine zurück, das Team der ZEIT und eine Vertreterin der Himan-&-Heeb-Regierung in Nairobi. Wenn sie nicht schläft, tippt sie in ihr Handy. Sie ist die Garantie dafür, dass wir nicht auch entführt werden. Im führerlosen Flugzeug warten wir zwei Stunden. Dann kehrt der Pilot ins Cockpit zurück, wortlos, verstimmt, er hat sich dem Willen seines Chefs gebeugt. Der 59-Jährige fliegt häufig nach Somalia, er kennt jede Piste, selten transportiert er Passagiere, meistens Drogen. Beim letzten Versuch, angeblich freigelassene Geiseln aus Zentralsomalia auszufliegen, im Bundesstaat Gulmudug, erzählt der Pilot, habe man ihn für eine Woche gleich mit entführt. »Ruppige Leute«, sagt er. Er wirft den Motor an.

Die Geschichte der Al Imran ist eine, in der alle Pläne scheitern, in der es keine Gewinner gibt, nur Verlierer. Der Fisch verrottet nach zwei Monaten im Kühllager, als alles Eis abgeschmolzen ist. Die Piraten haben sich mit ihrer Beute ebenfalls verkalkuliert. Ali Jacket erlaubt Ibrahim ein einziges Mal, seine Familie in Piskhan anzurufen. Er reicht ihm ein Satellitentelefon. Ibrahim spricht mit seinem Onkel, dem die Al Imran gehört, sagt ihm, dass sie in der Hand von Piraten seien und diese 300.000 Dollar forderten. Diese Summe haben die Familien der Fischer nicht. Die meisten sind ärmer als die Entführer. In ihrem Verlies leiden die Männer immer mehr unter Muskelschwund, die Gelenke schmerzen. Das Sitzen schnürt die Durchblutung ab. Sie schreien zum Deck hinauf, wenn die Pein in den Beinen zu groß wird. Krämpfe plagen sie. Ali Jacket lässt sie dann manchmal hoch. Zwei, drei Runden dürfen sie ums Steuerhaus spazieren, fünf Minuten an der Luft vielleicht, danach müssen sie wieder in das Loch.

Das Leben, das jetzt ohne sie gelebt wird, zieht an ihnen vorbei, während des Schlafs und im Wachen. Im Zwielicht des Verlieses sieht Saleh, der Schiffskoch, das Kind, das ihm einen Monat nach seiner Entführung geboren wurde. »Ich werde nicht erfahren, welchen Namen es bekommen hat.« Yunis, 27, der Kühllagerist, träumt den immer gleichen Traum. Er sitzt auf einem Motorrad und flüchtet. »Ich gebe Gas, ich fahre schneller und noch schneller, aber ich komme nicht von der Stelle.« Kapitän Ibrahim sorgt sich darüber, wovon die Familie in seiner Abwesenheit lebt. Alles Ersparte hat sein Onkel in die Al Imran investiert. »Wir sind hoch verschuldet. Wir haben fast unser ganzes Land für dieses Schiff verkauft.« Die Männer beschließen, die Piraten zu töten. Es sind meist nur fünf, die sie bewachen. Doch wie tötet man einen Menschen? Wie bringt man jemanden um? Saleh, dem die Piraten erlauben, Wasser zu holen, schlägt vor, dass gleichzeitig zwei zur Toilette gehen. Zusammen würden sie ihre Bewacher überwältigen, die beste Chance, sagt er, die einzige. Es kommt nicht so weit. Die Seeräuber lassen immer nur einen nach oben.

An der Küste Somalias, wo die gekaperten Schiffe liegen, wird das Leid ständig neu sortiert. Fast lautlos vollzieht sich der Wechsel von Schiffen. Solchen, die gehen, und solchen, die kommen. Die Fischer der Al Imran sind Zaungäste einer Millionenindustrie. Ihr kleines Fischerboot ist umgeben von Frachtern aller Flaggen. Die Piraten haben sie im Abstand von mehreren Hundert Metern zueinander geparkt, verkehren mit Motorbooten zwischen ihnen. Fern am Strand funkelt der Lack der Jeeps, mit denen Nahrungsmittel und Diesel herangebracht werden. Ibrahim zählt in den zehn Monaten seiner Gefangenschaft sieben neu ankommende Boote, kurz zuvor gekapert. Sieben Schiffe verlassen den Ankerplatz der Seeräuber. »Meistens wurden wir vorher von Flugzeugen überflogen«, erzählt Ibrahim. Die Maschinen werfen Geldkoffer ab, befestigt an zwei, drei orangefarbenen Ballons. Motorboote eilen zur Abwurfstelle, sammeln sie auf, kehren noch einmal zurück zum gekaperten Schiff, verlassen es dann. Einmal, erinnert sich Mohamad, der Älteste, zahlte ein Schiffseigner offenbar nicht genug. Er durfte die Crew von einem anderen Boot abholen lassen, den Frachter aber ließen die Piraten an die Küste treiben. Mit dem Bug voraus lief er nach wenigen Stunden am Strand auf Grund.

Noch immer haben die Fischer die Hoffnung zu überleben. »Solange es das Schiff gibt, sind wir für die von Wert«, glaubt Ibrahim. »Die brauchen die Al Imran, um andere Schiffe zu überfallen.« Diese Hoffnung stirbt an dem Tag, an dem die Al Imran sinkt.

Der Untergang des Schiffes vollzieht sich in Minuten, Wasser schießt in den Rumpf. Ihre Bewacher helfen ihnen aus dem Verlies, es gibt einige, die ihre Beine nicht mehr richtig bewegen können. Einzeln müssen sie eine Leiter aus Seilschlaufen erklettern. Sie stützen sich gegenseitig. Ibrahim hat die Seeräuber oft gewarnt, dass das Schiff eine Abdichtung brauche. Sie haben nicht auf ihn gehört. Jetzt sieht er seinen Lebenstraum im Meer verschwinden, die Fischer klammern sich an große, gelbe Dieselkanister. Es ist Mitternacht, der Mast der Al Imran ist schon seit zwei Stunden versunken, als Piraten auf Motorbooten sie endlich aus dem Wasser ziehen. »Es war so knapp«, sagt Ibrahim. Zu weit ist der Abstand zur Küste, um hinüberzuschwimmen. Die Schiffbrüchigen werden auf einen gekaperten Frachter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gebracht. »Der war innen völlig ausgebrannt«, erinnert sich Yunis. Ein Feuer hatte an Bord gewütet und alles verkohlt. Der stumme Schauplatz eines anderen Dramas.

Durch die Luken im Oberdeck sieht Yunis in die Innenräume, in denen sich Menschen bewegen. Dort haust die Besatzung des Schiffes, auch sie Gefangene, Syrer, wie ihnen die Piraten sagen. Den beiden Geiselgruppen wird verboten, miteinander Kontakt aufzunehmen. Die Fischer kennen den Namen des Bootes nicht. Ihren Beschreibungen zufolge ist es vermutlich die MV Orna, 19 Mann Besatzung, die mit 26000 Tonnen Kohle von Südafrika nach Indien unterwegs war. Sie wurde im September 2010 nahe den Seychellen entführt. Einige Monate lang hatten die Entführer den Frachter als Mutterschiff genutzt und von ihm aus Angriffe unternommen. Bis heute ist die MV Orna in ihrer Hand. Teile der Besatzung sind, wie es von der Reederei heißt, sind mittlerweile ernsthaft erkrankt. Die Fischer bleiben nur eine Nacht. Am nächsten Morgen bringen sie zwei Motorboote an den Strand. »Es gab da nichts«, sagt Ibrahim. »Nur ein paar Fischerhütten.« Zum ersten Mal haben sie wieder festen Boden unter den Füßen.

Wie Strandgut, für das niemand Verwendung hat, setzen die Piraten sie im Nirgendwo aus. Sie entledigen sich ihres Verlustgeschäftes. Wortlos fahren sie in ihren Motorbooten davon. Ihre Peiniger sehen die Fischer nie wieder. Ringsherum nur Wüste, kein Dorf. In vier Kilometern Entfernung ein Brunnen mit salzigem Wasser. Einzig ein paar somalische Fischer leben in der Gegend. Sie geben etwas Reis. »Wir dachten«, sagt Mohamad, der Älteste, »wir verrotten dort.« Die Männer hocken am Strand, gehen sich aus dem Weg, reden wenig. »Was hätten wir reden sollen?«, sagt Ibrahim. »Es war doch schon alles gesagt.« Er sieht keine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Das Schiff, das sie herbrachte, existiert nicht mehr. Die Wüste hinter dem Strand scheint undurchdringlich. Nach acht Monaten Gefangenschaft geht ihm die Kraft aus zu hoffen. Das ist es, sagt er sich. Dieser Ort. Das Ende. Doch nach einem Monat macht sich einer der somalischen Fischer in die 400 Kilometer entfernte Hauptstadt Adado auf und bittet die dortige Verwaltung um Hilfe. Die schickt einen Pick-up, der die Pakistaner nach Adado bringt.

Unser Flug zu den Geiseln führt durch Wolkendecken. Grelles Licht, auf einmal wird es in der Kabine dunkel, dann wieder hell. Nach einer Stunde überlässt der Pilot dem Flugschüler das Steuer. Er setzt sich in die Kabine und liest die Daily Nation. Unbewegt gleitet sein Blick über Schlagzeilen, die von der Hungersnot in Nordkenia zu einem Verkehrsunfall in Südkenia wechseln, von Wahlbetrug zu Cholesterin-Problemen. Kurz vor dem Ziel übernimmt er wieder. Unter der Dornier erstreckt sich eine endlose hellrote Ebene, ein Land, das aussieht wie frisch verbrannte Haut.

Die Gummiräder der Dornier rollen langsam aus, roter Staub umfasst die Maschine. Der Flugschüler öffnet die Tür und klappt die Bordtreppe aus. Ibrahim und seine Männer stehen aufgereiht an der Piste. Ich sehe sie zum ersten Mal. Drücke ihre Hände. Die Hemden, die sie am Vortag von den Somaliern bekommen haben, hängen schlaff an ihren Körpern. Ausgemergelte Gesichter, die verwilderten Bärte bereits etwas gestutzt. Hinter den Fischern wachen Milizionäre mit geladenen Kalaschnikows. Abdisalam Osman, der mich über Facebook kontaktiert hatte, eilt auf mich zu. Er grinst. »Ihr seid wirklich gekommen!«

Fünf Stufen führen hinauf in das Flugzeug, in die zehn Meter lange Röhre aus Aluminium, diesen Weltenwechsler, der in wenigen Stunden schafft, was den Fischern elf Monate lang unmöglich war. Für sie muss das fast etwas Magisches sein. Die Männer setzen sich in die blauen Polster, halten die Hände ineinander verschränkt, kneten sie, stützen die Köpfe auf ihre Fäuste, blicken verwirrt über die Sitzreihen. Die meisten sind noch nie geflogen. Beim Start sehen sie durch die Fenster ein letztes Mal hinaus auf dieses rote Land. »Sie haben mein Leben zerstört«, wird Ibrahim später sagen. »Der Tod«, sagt Yunis, »ist für die noch zu wenig.«

Ein erster Zwischenstopp in Nairobi. Die Plastiktüte in der Hand, läuft Ibrahim über die Rollfläche, einer vom Bodenpersonal geht voraus. Links und rechts kreuzen große Passagiermaschinen. In der Sicherheitsschleuse schieben sich Touristen aus Europa an den Fischern vorbei, sie beschweren sich, dass die Behörden die Gruppe bevorzugen. »Wir wollen auch nach Hause!«, rufen die Touristen laut. »Jeder hat es eilig!« Die Weißen kommen von einer Safari. Also lassen die Kenianer Ibrahims Männer warten. Das Personal an der Schleuse herrscht Ibrahim auf Englisch an, er solle den Gürtel abnehmen, alles Metall, die Tüte auf das Band legen, er versteht nicht, sie rufen gereizter, er setzt sich wieder hin. Kurz vor dem Ziel will er keinen Fehler machen.

»Geburtsdatum?«, fragt ihn der Beamte der pakistanischen Botschaft wenig später. »Geburtsort, Name.« Der Diplomat begrüßt die Gruppe im Transitbereich mit einem Kopfnicken. Er schaut durch die Männer hindurch, gibt ihnen nicht die Hand, versorgt sie nicht mit Wasser. Er hat mehrere Stunden im Flughafen gewartet und will nach Hause. Hektisch kaut er auf seinem Kaugummi. Die Katastrophe, die Ibrahim und seinen Leuten widerfuhr, betrachtet der Beamte offenbar als ein ausschließlich bürokratisches Problem. Er lässt Passbilder machen, nimmt Fingerabdrücke. Drei Botschaftsmitarbeiter an einem Flugschalter fertigen vorläufige Pässe an. Dann bekommen die Fischer ihre Tickets, die sie nicht lesen können, und werden zum Abfluggate geführt. Der Beamte lässt die Abgemagerten stehen, mit leeren Mägen. Sie sind gerettet. Doch es ist eine Rettung dritter Klasse. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Familien in Piskhan immer noch nicht, dass die Männer am Leben sind. Und niemand kommt auf den Gedanken, sie zu informieren.

 

 

Ibrahim führt die Gruppe bis zum Schluss, er ist der Kapitän, er versucht es zumindest zu sein, er dirigiert seine Crew mit leisen Gesten – auch im Flughafen in Dubai, wo sie den Anschlussflug suchen. Die Fischer bewegen sich durch ein Labyrinth aus Rollbändern und Fahrstühlen. Ibrahim geht voraus, mit dem Zeigefinger weist er unsicher die Richtung. Die Köpfe im Nacken, ziehen sie durch die Glaskathedralen. Sie zögern vor Rolltreppen, denn Rolltreppen haben sie noch nie benutzt. Auf den Toiletten schauen sie zum ersten Mal nach zehn Monaten in den Spiegel. »So sehe ich jetzt also aus«, sagt Ibrahim, der 30 Kilogramm abgenommen hat. Es ist nun die zweite Nacht, die sie nicht schlafen. In der Anschlussmaschine bestellt sich jeder ein Heineken, ein zweites noch, bald ist Pakistan unter ihnen, die Küstenlinie, die sie vor einem Jahr verließen. Im Landeanflug drücken sie die Gesichter an die Fenster.

Niemand erwartet sie in Karachi. Die Polizei sperrt die Ankömmlinge in einen vergitterten Bus. Die Fischer kehren zurück in ein Land, das seit Jahren in der Staatskrise ist, in sich zerrissen, chronisch am Abgrund. Was Somalia ist, droht Pakistan zu werden. Geheimdienste sind der Zement dieses Staates, er wird zusammengehalten von Angst und Misstrauen. Die Fischer werden in eine Zelle gesperrt, verhört, an einer Wand wird ihre Körpergröße vermessen. Doch endlich, in der folgenden Nacht, sperren die Polizisten die Tore auf, endlich darf Ibrahim seinen Cousin in Karachi anrufen, der holt ihn ab, umarmt ihn, umarmt die anderen. Nimmt sie mit in das Viertel, wo viele leben, die aus Piskhan sind. Die Menschen strömen aus den Häusern, sie umringen die Wagen, mit denen Ibrahims Männer eintreffen, rufen, weinen, wirbeln vor Freude im Kreis, Männer wie Frauen, sie schlingen die Arme um die Totgeglaubten.

»Ich will nie wieder aufs Meer«, sagt Ibrahim beim Frühstück am nächsten Tag. Er möchte Händler werden, Fisch verkaufen, es gibt ja nur Fisch in Piskhan, sagt er, aber nie mehr möchte er raus auf die offene See. Er senkt beim Essen den Kopf, die anderen sehen schweigend auf ihn.

Auch Saleh, der Koch, verkündet an diesem Morgen seinen Abschied. »Ich kann es nicht mehr. Wenn ich die Augen schließe, höre ich das Brüllen der Somalier.« Er werde sich in Piskhan ein Restaurant suchen, das Leute braucht, sagt er. »Und ihr«, er zeigt in die Runde, »habt dann alle Hausverbot. Ich möchte da nichts haben, was mich an diese Zeit erinnert.« Die Männer lachen, dann lacht auch Saleh. Es wird nicht ganz klar, wie ernst er es meint. In der Millionenmetropole Karachi verbringen sie vier Tage. Die Marineverwaltung will weitere Auskünfte, Mohamad und drei andere müssen zum Arzt. Immer mehr Verwandte eilen zu ihnen ins Viertel. Es gesellen sich jetzt auch Fernsehteams dazu, sie parken ihre Übertragungswagen in den engen Gassen. Die Bewohner reagieren aggressiv auf ihre Ankunft. Schreien sie an. Warum sie jetzt erst kämen! Es ist die Wut eines Volks, das sich von den Medien sonst ignoriert fühlt. Fast kommt es zum Handgemenge.

Die Wiederkehr der Fischer droht zum politischen Streitfall zu werden. In ihrer Heimatprovinz ist Bürgerkrieg. Das Volk der Belutschen hat sein Nationalbewusstsein neu entdeckt, viele fühlen sich vom Zentralstaat unterjocht. Es gibt eine Untergrundarmee und Anschläge und Kämpfe. Ibrahim und seine Männer reden Belutschi. Die Sprache des Nationalstaates – Urdu – verstehen sie kaum. »Ich rede Belutschi!«, beharrt Ibrahim vor der Kamera. Der Reporter spricht aber nur Urdu. Die Stimmung ist aufgebracht. Die letzten Geiseln, die aus Somalia kamen, im Sommer des Jahres, waren ebenfalls Fischer, aber keine Belutschen, sondern Urdu sprechende Sindh. Sie empfing der Staatspräsident in Karachi am Flughafen. Tausende Menschen warteten, warfen Blumen, das Fernsehen berichtete live auf allen Kanälen, ein nationales Ereignis. »Aber wir sind keine Menschen«, ereifern sich die Verwandten der Fischer. »Wir gehören nicht dazu.« Die Familien, bei denen wir, das ZEIT-Team, untergebracht sind, erhalten in der Folge Anrufe vom Geheimdienst. Spitzel kommen in ihre Häuser. Wir fühlen uns zunehmend unwohl.

Die Nachricht von der Rettung verbreitet sich entlang der Küste, die 700 Kilometer bis Piskhan. Unentwegt klingelt das Handy von Ibrahims Cousin, in dessen Haus die Freigelassenen wohnen. Am Abend des zweiten Tages spricht der Kapitän zum ersten Mal mit seiner Frau. Er entfernt sich von der Gruppe, steht da mit gebeugtem Haupt. »Den Kindern geht es gut«, erzählt er anschließend. »Mein Junge hat immer noch keine Lust auf die Schule. Er will nur am Strand spielen.« Er strahlt. Imran. Der ist jetzt fünf, nach ihm hatte er das Schiff benannt. Einige von der Gruppe nutzen die Wartezeit in Karachi, um sich endlich von den westlichen Herrenhemden zu befreien, die sie in Somalia geschenkt bekamen. Sie gehen zum Schneider und bestellen sich den traditionellen Shalwar, zum Glück haben sie die paar Dollars aus Somalia. Andere sitzen beim Friseur oder kaufen ihren Kindern Spielzeug. »Damit die nicht denken, wir waren im Ausland und bringen nichts mit.« Mohamad, der Älteste, geht zum Arzt. Er kann nachts vor Schmerzen in den Beinen kaum schlafen.

Die Menschen des Viertels säumen die Straßenränder, Kinder und Frauen treten an die Fenster, sitzen auf den Balkonen, sie winken den Fischern, die in einem Minibus den Ort verlassen. Der Wagen bringt die Gruppe zum Terminal, wo die Überlandbusse nach Belutschistan abfahren. Dort nehmen sie Abschied von Mohamad, dem Ältesten, der den Bus in einen anderen Ort nehmen muss. Ibrahim kauft ihm eine Sitzkarte und telefoniert später mit dem Busfahrer, um sicherzustellen, dass Mohamad den Wagen gefunden hat. Mohamad wird acht Stunden später ankommen. In den Straßen wird geschossen, nach einer Bombenexplosion feuern Armee und Separatisten aufeinander. Der Krieg in seiner Heimat hat ihn wieder, kaum setzt er seinen Fuß in den Staub der Stadt. Mohamad, dem die Beine schmerzen, hat keine Wahl. Seine Familie ist zu arm, um ihn zu holen. Er setzt sich an die Straße und wartet, dass ihn ein Lastwagen in sein Dorf mitnimmt.

Ich bleibe zurück. Ich verabschiede mich von den Fischern am Busterminal. Ausländischen Journalisten sind Reisen nach Belutschistan untersagt. Angeblich aus Sicherheitsgründen. So wie die Männer der Al Imran aus dem toten Winkel der Weltöffentlichkeit kamen, verschwinden sie wieder in ihm.

Der Kapitän bringt seine Männer sicher nach Hause. Er ruft uns am nächsten Morgen an. Ich höre aufgeregte Stimmen. Die Leitung surrt. Ganz Piskhan ist auf den Beinen. Bereits morgens um fünf Uhr, als sie das Dorf erreichten, spielten Musikkapellen auf den Straßen.

»Mein Sohn sitzt auf meinem Schoß«, sagt Ibrahim. »Er schaut mich ganz seltsam an. Er kennt mich gar nicht mehr.« Die ganze Verwandtschaft drängt ans Telefon. Seine Schwester weint. »Wir wussten nicht, ob er am Leben ist.« Der Onkel, dem sie jetzt das Handy in die Hand geben, der frühere Besitzer der Al Imran, erzählt, wie die Familie nach Ibrahims Verschwinden verarmte. Eine Mahlzeit jeden zweiten Tag. Sie hätten sich von überall Geld geliehen und den letzten Obstgarten verkauft, von dem sie sich niemals hatten trennen wollen. »Ibrahim ist in diesem Jahr für uns tausendmal gestorben und tausendmal auferstanden«, erzählt der Onkel. Er wundert sich, wie sehr sich der Rückkehrer verändert habe. »Das macht mir Sorgen. Früher alberte der immer herum.« Jetzt sei er so ruhig. So ernst.

In den nächsten Wochen besuchen den Heimkehrer pakistanische Fotografen. Die Fotos, die Ibrahim uns schickt, zeigen ihn mit den Kindern. Die Kinder schauen zur Seite, der Blick ihres Vaters ist leer. Für ihn ist die Geiselhaft noch nicht vorbei.

Ich, der Reporter, kehre nach Deutschland zurück und bin wieder dort, wo alles begann. Ich setze mich an den Computer und sehe den Cursor, der aufblinkt. »Wie war es?«, springt eine Nachricht von Abdisalam Osman aus Somalia auf den Schirm. »Sind alle nach Hause gekommen? Geht es ihnen gut? Erzähl!«

 

 

 


 

 
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PHOTOGRAPHIE
Stanislav Krupař, Prag
www.krupar.com